4.2.7

Ein Beispiel:
Als Beispiel wird die Karikatur “The source” (Die Quelle) vorgestellt. Die Ausführungen richten sich nach den Fragestellungen unter Analyse und Interpretation einer Karikatur.

Orientierung

  • Erscheinungsdatum: 18. Oktober 1930
  • Erscheinungsort: amerikanische Zeitung “St. Louis Post-Dispatch” (liberale Ausrichtung)
  • Karikaturist: Daniel Fitzpatrick, einer der führenden Karikaturisten seiner Zeit in den USA
  • Thema der Karikatur: Deutung des Wahlerfolges der Nationalsozialisten im September 1930 als Spätfolge des Versailler Vertrages
  • Typus: Elemente sowohl der Ereignis- und Prozesskarikatur und der Individual- und Sachkarikatur

Beschreibung

  • Hitler kriecht im entschlossenen Gestus eines Raubtieres (Tatzenhaltung) aus der gerollten Urkunde des Versailler-Vertrages hervor. Seine augenlose, bösartige Mimik (heruntergezogene Mundwinkel) wirkt martialisch, verstärkt durch die Pickelhaube, einem zentralen Symbol des preußisch-deutschen Militarismus.
     
  • Die Unterschrift „Die Quelle“ setzt zudem die Figur und die Textrolle in Beziehung zueinander, wobei letztere als ´Quellort´ für das entweichende Monstrum zu deuten ist. Somit wird eindeutig der Aufstieg bzw. das Erscheinen Hitlers mit dem Versailler Vertrag in Beziehung gesetzt.
     
  • Die Karikatur weist nur sehr wenige gestalterische Mittel auf, sie ist also nicht komplex. Diese Schlichtheit zeigt sich unter anderem auch darin, das der Vordergrund nur wenig, der Hintergrund überhaupt nicht gestaltet ist. Hierdurch erzielt der Karikaturist eine Konzentration auf die elementaren Bildteile (Figur und Textrolle).
     
  • Gesamtaussage: Der Karikaturist erklärt sich den Aufstieg der Nationalsozialisten als eine Spätfolge des Versailler-Vertrages von 1919. Hierdurch wird implizit Kritik an den Bestimmungen des Vertrags und der daraus erwachsenen Friedensordnung geäußert. Offensichtlich wird der Erfolg der Nationalsozialisten beargwöhnt und als gefährlich empfunden. Die eindeutige Zeichnung Hitlers lässt hierauf schließen.

Erklärung:

  • Diese Gesamtaussage kann gestützt und näher erläutert werden, wenn nun nähere Informationen zum Versailler-Vertrag, zum Aufstieg der NSDAP, zur Bedeutung des Vertrages in der nationalen Propaganda in Deutschland, aber auch zur Weltwirtschaftskrise, zur Krise der parlamentarischen Demokratie um 1930 und zum gewandelten Wählerverhalten in Deutschland (besonders Daten und Fakten zum Erdrutschsieg der Nazis vom 14.9.1930) herangezogen werden. Hierbei müsste nicht zuletzt der politische und sozial-psychologische Zusammenhang von Vertragswerk, einer fast kollektiv empfundenen Erniedrigung vieler Deutsche und deren politischen Resultate (Stichwort Radikalisierung) aufgezeigt werden. Hierbei sollte auch auf die wirtschaftlichen Folgen der Reparationen verwiesen werden.
     
  • Die klare kritische Stoßrichtung gegen den Vertrag wird durch diesen Kontextbezug unterstrichen werden; eine kritische Haltung übrigens, die von manchem US-Amerikaner bereits während der Verhandlungen und nach der Ratifizierung geäußert wurde.
     
  • Der Karikaturist versucht mit seiner Darstellung einen Teil der amerikanischen Öffentlichkeit auf die politischen Veränderungen in Deutschland und ihre Hintergründe aufmerksam zu machen und gleichzeitig zu warnen. Die liberale “St. Louis Post-Dispatch” hatte zu dieser Zeit einen guten Namen und war im Mittelwesten der USA die führende Tageszeitung. Auch der Karikaturist war überregional bekannt.

Wertung

Die Aussage der Karikatur ist eindeutig. Ihre darstellerischen Mittel sind präzise und der Aussage angemessen. Dennoch weist die Karikatur einen typischen Mangel auf: durch sie wird der Aufstieg der Nationalsozialisten nur monokausal begründet. Andere Aspekte wie etwa die verfassungsrechtlichen Probleme, Missstände der politischen Kultur und die wirtschaftliche Notlage im Zuge der Weltwirtschaftskrise bleiben unerwähnt. Dem zeitgenössischen Betrachter wird somit eine eindimensionale Erklärung geliefert. Nimmt man allerdings an, das der Karikaturist dagegen die Kritik am Versailler Vertrag in den Vordergrund stellen wollte, kann ihn diese Kritik nur bedingt treffen. Denn eine differenzierte Ursachenforschung für den Aufstieg des Nationalsozialismus wäre dann nicht sein primäre Intention gewesen.

Zusammengefasst lässt sich festhalten, dass hier eine Karikatur mit aufklärerischem Anspruch vorliegt, die zwar nur einen Aspekt eines komplexen historisch-politischen Zusammenhangs erfasst, diesen aber genau und weitblickend.