Die Tagung soll ein Forum bieten, um neueste Ansätze in der Wissenschaftstheorie, Wissensgeschichte, Kultursemiotik und Literaturtheorie zueinander in Beziehung zu setzen. Gesprächsgrundlage ist die These, dass Narrative ein wesentliches Element in der Organisation von Wissensordnungen und ihres Weltbezugs sind. Sie dienen nicht nur der gesellschaftlichen Aneignung und Popularisierung wissenschaftlicher Erkenntnisse, sondern sind in bestimmten Fällen für die Theoriebildung selbst konstitutiv.
Die epistemische Belastbarkeit des Erzählens in einem solchen Maß auszudehnen, schafft allerdings ein doppeltes Problem. Auf der einen Seite ginge damit der Wissenschaft das Bündel der Leitunterscheidungen verloren, auf Grund derer sie sich in der europäischen Neuzeit als eigenes System konstituierte und ihren großen Siegeszug antrat: nämlich die Unterscheidung zwischen der Autorität der Fakten und der Autorität der Tradition, zwischen experimentell überprüfbaren Tatsachen und bloßen Meinungen oder Hirngespinsten, zwischen Wahrheit und Mythologie.
Auf der anderen Seite ist die Erzähltheorie, die innerhalb der Literaturwissenschaft hauptsächlich aus der Behandlung mit poetischen Texten hervorging, auf einen derartigen Kompetenzzuwachs noch nicht vorbereitet. Insbesondere ist das Begriffspaar von faktualem und fiktionalem Erzählen nicht hinreichend ausgearbeitet, um Differenz und Ineinanderwirken, Trennungsgeschichte und immer wieder erneuerte Synergien zwischen faktographischen und fiktionalen Darstellungsverfahren nachvollziehbar machen zu können.
Eine naheliegende und scheinbar einfache Lösung besteht darin, ‚richtiges’ und ‚falsches’ Wissen über das Kriterium der Referenz voneinander zu scheiden: Das eine hat ein Korrelat in der Außenwelt, das andere nicht. Aber was als wissenschaftliche Pragmatik unter Normalbedingungen und gleichsam für den Hausgebrauch hinreichen mag, verursacht methodologisch die größten Schwierigkeiten, sobald man es in den Rang eines universellen Erkenntnismodells zu erheben versucht.
Gleichwohl kommt keine Wissenschaft, die Welterkenntnis sein will, ohne irgendeine Form von Referenzialität aus, die sie über einen mentalen oder kulturellen Solipsismus hinausführt. Mag auch die Produktion wissenschaftlichen Wissens dem jeweiligen historischen oder kulturellen Koordinatensystem unterliegen und insoweit in dessen Bedingungsgefüge eingeschlossen sein, so muss die Grenze zur außermenschlichen Wirklichkeit doch zugleich als durchlässig gedacht werden, wenn Wissenschaft überhaupt möglich sein sol: Andernfalls würde kulturelles Wissen schlicht aufhören, kulturelles Wissen zu sein.
Ziel der Tagung ist es nicht, dieses Problem zu lösen, sondern verschiedene Szenarien seiner Bewältigung oder Stillstellung zu beobachten. Besondere Aufmerksamkeit soll der Frage gelten, mittels welcher Erzählstrategien Wissenssysteme sich ihrer eigenen Referenzialität versichern und diese gegen interne oder externe Anzweiflungen verteidigen. Da die Referenz selbst nicht Teil des jeweiligen Zeichensystems und seiner internen Verknüpfungsregeln sein kann, kommt es in diesem Bereich, so die Vermutung, gehäuft zu ‚irregulären’ epistemischen Manövern, zu Konzeptwanderschaften, Modelltransfers und Metapherneffekten, die vom betreffenden System aus nicht zu beobachten, geschweige denn methodologisch zu kontrollieren sind.
Innerhalb der Wissenschaftsgeschichte stellt sich das Referenzproblem im Widerspiel zwischen zwei Narrativen dar. Die eine Version erzählt eine Fortschrittsgeschichte, in der sich das Wissen akkumuliert und perfektioniert, in der die Wahrheit sich schrittweise durchsetzt und Irrtümer überwunden werden. Das andere Narrativ bettet das jeweilige Wissen in seine kulturelle und historische Umgebung ein und führt dazu, die Rationalität und damit – gemessen an den jeweiligen Ausgangsbedingungen – ‚Stimmigkeit’ des wissenschaftlichen Wissens auf jeder Stufe seiner Entwicklung ins Licht zu rücken. Je nach Gesichtspunkt sind beide Erzählungen unentbehrlich und doch kaum miteinander vereinbar.
Der herkömmlichen Wissenschaftsgeschichte war es vor allem darum zu tun, den grand récit (Lyotard) des Fortschritts zu bedienen. Sie machte sich dabei Strategien der Asymmetrierung zunutze, nämlich durch Einsatz der Differenz zwischen Norm (= vom Blickwinkel der Jetztzeit aus geltendes Wissen) und Abweichung von der Norm. Häufig wird auch diese Differenz zu einem kompletten Narrativ ausgestaltet: als heroische Erzählung von den einsamen Männern, die sich von gesellschaftlichen Vorurteilen freimachen; nach dem Erzählmuster vom Kampf der Wahrheit gegen die Lüge; schließlich durch eine teleologische Erzählung, die das Wissen, das sich bestätigt hat, als Hauptlinie der Entwicklung herausstellt, während die Nebenlinien in die Sackgasse historischer Befangenheit oder ins Persönlich-Anekdotische führen.
Ohne solche Asymmetrierungen würde es die modernen Wissenschaften mit ihren immensen Leistungen nicht geben. Sie bleiben gleichwohl problematisch, weil die errichtete Barriere innerhalb der Leitdifferenz empirisch/konstruiert, faktisch/ideologisch, rein/unrein den üblichen Paradoxieeffekten von Grenzen ausgesetzt ist: Ist die Grenzziehung ihrerseits eine wissenschaftliche Tatsache oder ein kulturelles Konstrukt? Ist sie rein oder unrein? Welche Metaregel hält ‚wahres’ und ‚falsches’ Wissen, die sich in derselben Person, scientific community, Fachdisziplin, historischen Formation vielfältig begegnen und überlagern, auseinander? Wie erklärt sich andererseits ihr beständiger Grenzverkehr?
Konzeption:
Albrecht Koschorke (Universität Konstanz, Literaturwissenschaft)
Teilnehmer:
Markus Aspelmeyer (Wien, Quantenphysik)
Michael Hagner (ETH Zürich, Wissenschaftsgeschichte)
Ludwig Jäger (RWTH Aachen, Sprachwissenschaft) Wolfgang Lefèvre (MPI Berlin, Wissenschaftsgeschichte)
Matías Martínez (Wuppertal, Literaturwissenschaft)
Oliver Simons (Harvard, Literaturwissenschaft)
Julian Sonner (Cambridge, String Theory)
Benjamin Steininger (IFK Wien, Wissenschaftsgeschichte)
Christina Wessely (Wien, Wissenschaftsgeschichte
Freitag, 4. Juni / Friday, June 4th
9.00
Einleitung/Introduction (Albrecht Koschorke)
9.30
Ludwig Jäger Parasème und Diskurs.
Über das narrative Fundament der Referenz
10.30
Kaffepause / Coffee Break
11.00
Julian Sonner
Mathematics as the Language of Physics: the example of string theory.
12.00
Markus Aspelmeyer
Realism and contextuality in quantum experiments
13.00
Mittagspause / Lunch
14.30
Benjamin Steininger, Christina Wessely
Polychrone Stoffe als Medien der Referenz
15.30
Wolfgang Lefèvre
Jean Baptist Lamarck – A Darwinist avant Charles Darwin?
16.30
Kaffepause / Coffee Break
17.00
Michael Hagner
Der Hauslehrer. Über Sexualität, Kriminalität und Medien um 1900
19.30
Abendessen / Dinner
Samstag, 5. Juni / Saturday, June 5th
9.00
Matías Martínez
Fiktion und Wirklichkeit.
Über Referenzialisierungsstrategien fiktionaler Erzähltexte
10.00
Kaffepause
10.30
Oliver Simons:
Nullpunkt, Neutrum, punctum: Das Reale bei Roland Barthes.
11.30
Abschlussdiskussion / Concluding Discussion