ZIELE,
PROGRAMM UND STRUKTUR DES GRADUIERTENKOLLEGS ,DIE FIGUR DES DRITTEN’
(FORTSETZUNGSANTRAG 2006-2009)
1.
Zusammenfassung
2. Forschungsprogramm
2.1 Übersicht
2.2 Zur Thematik und Methode
2.2.1
Von der Intersubjektivität zur Triade
2.2.2
Bausteine einer Institutionenlehre: Stabilisierung, Objektivation, Emergenz,
Unterbrechung als Effekte des Dritten
2.2.3
,Große’ versus ,kleine’ Dritte
2.2.4
Institution und Fiktion
2.2.5
Politische
Epistemologie
2.2.6
Publikation, Transmission, öffentlicher Raum
2.2.7 Soziale Akteure
2.2.8
2.2.8
Institutionen der Wissenschaft
1.
Zusammenfassung
Schlichter, Beobachter,
Boten, Dolmetscher, Parasiten, Rivalen, Verräter, Sündenböcke,
tricksters, queers, cyborgs – eine Vielzahl von Bewohnern der Zwischenräume
tummeln sich in den kulturwissenschaftlichen Theorien des 20. und beginnenden
21. Jahrhunderts. Als Mittler-, Überschreitungs- und Hybridgestalten,
als ausgeschlossene und zugleich eingeschlossene, verfemte und lachende
Dritte unterlaufen sie herkömmliche dualistische Ordnungsmodelle.
,Effekte des Dritten’ entstehen in dem Maß, in dem intellektuelle
Operationen nicht mehr bloß zwischen den beiden Seiten einer geltenden
Unterscheidung hin- und herlaufen, sondern der Akt des Unterscheidens
selbst zum Gegenstand und Problem wird.
Das Graduiertenkolleg ,Die Figur des Dritten’ geht von der Beobachtung
aus, dass eine augenfällige Affinität derartiger, die großen
Systematiken verunreinigender Denkfiguren und Zwitterwesen zu literarisch-künstlerischen
Darstellungsweisen besteht. Die Literatur verfügt nicht nur über
reiche Erfahrung mit Grenzgänger-Helden, sondern stellt auch die
Artikulationsmittel bereit, um intermediäre Phänomene im weiteren
Sinn beschreibbar zu machen. Dies eröffnet einen genuin literaturwissenschaftlichen
Zugang zu Fragen der kulturellen Semiosis überhaupt – auch
im Blick auf die rhetorische und narrative Verfasstheit nichtliterarischer
Formationen des Wissens.
In den Projekten der ersten Phase des Kollegs wurde vor allem das Irritationspotential
der jeweiligen Figur des Dritten betont – ihr Vermögen, binär
codierte Grenzregimes zu unterminieren. In der zweiten Phase dagegen soll
die institutionenbildende Kraft dritter Instanzen in den Vordergrund gestellt
werden.
Das Kolleg ist am Konstanzer Fachbereich Literaturwissenschaft mit seiner
programmatischen Ausrichtung auf Allgemeine Literaturwissenschaft, Historische
Anthropologie und Medientheorie angesiedelt. In der Behandlung soziostruktureller
und kultursemiologischer Aspekte profitiert es von der Beteiligung der
Konstanzer Kultursoziologie und auswärtiger Kooperationspartner.
International soll die erfolgreiche Zusammenarbeit mit den Universitäten
Zürich, Johns Hopkins und Chicago fortgeführt und vertieft werden.
Als neue Kooperationspartner kommen die Universität St. Gallen sowie
das an den Universitäten Erfurt, Jena und der Bauhaus-Universität
in Weimar angesiedelte Graduiertenkolleg „Mediale Historiographien“
hinzu.
2. Forschungsprogramm
2.1
Übersicht
Programmatisch kann
das Kolleg auch in seiner zweiten Phase auf den grundsätzlichen Überlegungen
des Einrichtungsantrags (im Internet einsehbar unter www.uni-konstanz.de/figur3/)
aufbauen, die sich in den wichtigsten Punkten als tragfähig erwiesen
haben:
1) im Hinblick auf
die Tatsache, dass die kulturelle Epistemologie des 20. Jahrhunderts in
augenfälliger Weise von Kategorien der Hybridität, des in between
und der Krise von Unterscheidungen, aber auch von der Beobachtung schöpferischer
triangulärer Konstellationen und medial produzierter Wirklichkeiten
beherrscht ist, die allesamt unter dem Vorzeichen der Dreizahl stehen.
Während diese Theoriebewegung als solche ein für die Moderne
charakteristisches und insofern historisch emergentes Phänomen darzustellen
scheint, zeigt sich im Rückblick, dass auch schon frühere Epochen
sich vergleichbaren Störungen und Prozessdynamiken ausgesetzt sahen
und Verfahren zu deren Bearbeitung entwickelt haben. Das wirft in genealogischer
Perspektive die Frage auf, wann, in welchem kulturellen Kontext und unter
welchen sozialen Bedingungen das Dritte als ein Problem akut wird bzw.
auf welche Krisen und Bedürfnisse es reagiert.
2) im Hinblick auf
die poetische Produktivität solcher Effekte des Dritten, insofern
an den Rändern des systematisierbaren Wissens und in den Auflösungszonen
der epistemologischen Ordnung genuin literarische Verfahren (Metaphern,
rhetorische Manöver, Erzähltechniken) in den Vordergrund treten,
die eine entsprechend geschulte Analyse herausfordern. Im Einrichtungsantrag
wurde dafür die Formel von der Logik/Narratologik des Dritten geprägt
– im Anschluss an Formeln wie „tropics of discourse“
(Hayden White) oder „poetics of culture“ (Stephen Greenblatt),
wie sie die kulturwissenschaftliche Debatte in den vergangenen Jahrzehnten
geprägt haben. Der/die/das Dritte ist unter diesem Blickwinkel geradezu
ein Prüfstein für den zeichentheoretisch und poetologisch reflektierten
Umgang mit den komplexen Organisationsformen einer Kultur.
3) im Hinblick auf
die Plastizität des Figur-Begriffs, der die Bandbreite zwischen personifizierenden
Erzählweisen einerseits und abstrakten Strukturgegebenheiten auf
der anderen Seite umspannt. Unter bestimmten Umständen kann sich
das Dritte in einer literarisch ausgestaltbaren Figur inkarnieren, ja
eine solche Figur kann zur Ikone für eine bestimmten Theorierichtung
werden – der Trickster als listiger Wanderer zwischen den Grenzen
für das Interkulturalitätsparadigma; der eigenmächtige
Bote für die Medientheorie; der Rivale für die Theorien des
Begehrens; der Beobachter, der in das Feld seiner Beobachtungen interveniert,
für Theorien der Wissensproduktion und der Wissenschaftshistoriographie.
Aber der Begriff der Figur geht in solchen Konkretisierungen nicht auf.
In ihm ist ein rhetorisches und (de)konstruktives Moment enthalten, das
sich weder personifizieren noch auf andere Art vergegenständlichen
lässt, sondern an die Grenzen von Repräsentierbarkeit überhaupt
rührt. Auch dies ist eine dem Dritten wesentliche Dimension.
Schon Georg Simmel
hat seinerzeit von der „Doppelfunktion“ dritter Personen gesprochen,
nämlich „sowohl zu verbinden wie zu trennen“ (Simmel
1908: 93). Das ist indessen nur eine der vielen Ambiguitäten, die
dem Dritten eine zuweilen dämonische Aura verleihen. Andere und für
seine derzeitige kulturwissenschaftliche Prominenz noch wichtigere Zweideutigkeiten
betreffen seinen Ort in der Grenzzone von Unterscheidungen – und
damit die Frage seiner Funktionalität im Hinblick auf binär
codierte Ordnungen überhaupt. Ist der/die/das Dritte als Schwellenwesen
Bestandteil solcher Ordnungen oder ein Fremdkörper, der sie bedroht
– und in welchen Formen taucht er/sie/es in dem System wieder auf,
das ihn/sie/es auszuschließen versuchte? (Man denke an Niklas Luhmanns
Ausführungen über systemische Paradoxien.) Besteht die Rolle
des Dritten darin, an der Aufteilung der Welt in polare Identitäten
mitzuwirken, oder im Gegenteil darin, sie aufzubrechen? (Man denke an
die Kritik des Geschlechterdualismus und des Konzepts von Identität
überhaupt in der gender theory.) In einem Satz zusammengefasst: Ist
der/die/das Dritte eine konstituierende oder eine destabilisierende Kategorie?
Die Ironie eines solchen Entweder-Oder besteht natürlich darin, dass
sie ihrerseits die Figur des Dritten gleichsam dazu zwingt, Farbe zu bekennen
und sich in eine Ordnung der Zweizahl ‚heimholen’ zu lassen.
Von einer ‚Logik des Dritten’ her gedacht, wird man den Zwang
zur Alternative zurückweisen wollen. Dennoch hat sie heuristischen
Wert. In den bisherigen Debatten des Graduiertenkollegs hieß es
häufig, das Dritte unterlaufe Vereindeutigungen; es sperre sich gegen
die Gewaltsamkeit, die allen Dichotomien anhaftet. Man kann die Verallgemeinerung
wagen, dass die Projekte der ersten Phase vor allem den irritierenden
Charakter ihrer jeweiligen Figur des Dritten betonen. Demgegenüber
sehen die Planungen für die zweite Phase vor, den Schwerpunkt der
gemeinsamen Arbeit auf die institutionenstiftenden und institutionenerhaltenden
Potenzen des Dritten zu verlagern.
Ganz allgemein sind komplexe Strukturen nicht denkbar ohne das Dazwischentreten
einer Größe, die eine entwicklungsfähige Asymmetrie in
die Oszillation zwischen jeweils zwei Positionen einbringt. Soziale Entitäten
wie Familie, Recht, Markt und Staat setzen die Überschreitung dyadischer
Beziehungsformen voraus. Die dritte Instanz fungiert hier als unentbehrliches
dynamisierendes Moment. Als einer der Begründer der Soziologie hat
Georg Simmel geltend gemacht, dass Gesellschaft generell mit der Drei,
das heißt auf einem Niveau jenseits binärer Intersubjektivitätsmodelle,
beginnt. Durch die dritte Instanz kommt Mittelbarkeit ins Spiel: Triadische
Beziehungen existieren auch unabhängig vom individuellen Willen der
Beteiligten; der Einzelne wird tendenziell ersetzbar; die Beziehungen
verstetigen sich; Interaktion erweitert sich zu Kommunikation. Die Figuren
des Dritten, die Simmel paradigmatisch anführt – der Vermittler
etwa, der Schiedsrichter, der Okkupator mit der Maxime divide et impera
–, lassen sich als Vorformen oder Verkörperungen von sozialen
Institutionen auffassen.
Wenn man also den Dritten vor eine Wahl stellen will, dann heißen
seine beiden Möglichkeiten, schlagwortartig formuliert, Irritation
oder Institution. In der Abschlussphase soll das Kolleg, innerhalb des
gesamten im Einrichtungsantrag umrissenen Spektrums, die Aufmerksamkeit
vor allem auf die institutionenbildende Kraft dritter Instanzen und ihre
Stabilisierungsleistungen richten. Damit geht eine veränderte methodische
Akzentuierung einher, die auch dem intensivierten Theorieaustausch zwischen
den Konstanzer Fachbereichen Literaturwissenschaft einerseits, Geschichte
und Soziologie andererseits Rechnung trägt. Während nämlich
die Literaturtheorien in den letzten Jahrzehnten eher die Neigung hatten,
Kommunikationsstörungen, Dysfunktionalitäten, Auflösungsbewegungen
von Texten hervorzuheben, ist für Sozialtheorien die Frage nach der
Instituierung funktionierender Ordnungen wesentlich. In dieser Frage soll
das Kolleg verstärkt den Dialog mit einer kulturwissenschaftlich
reflektierten Soziologie suchen – ohne dabei die Leitfrage nach
der narrativen Struktur solcher Ordnungen, nach den in ihren Dienst gestellten
Fiktionen und rhetorischen Verfahren aus den Augen zu verlieren.
Es gehört zu den Prinzipien des Kollegs, dass die aufgenommenen Mitglieder
von einer gesicherten disziplinären Basis aus an dem interdisziplinären
Austausch über Figuren/Figurationen des Dritten teilnehmen. Entsprechend
der Neuausrichtung für die zweite Kollegphase lässt sich an
soziologisch orientierte Projekte denken, die mit Institutionen- oder
Organisationstheorie befasst sind und Prozesse der Objektivation und Stabilisierung,
der Normbildung und Etablierung konfliktregulierender Mittler- und Entscheiderinstanzen
untersuchen.
Die fachliche und methodologische Basis des Kollegs liegt aber weiterhin
in der Literatur-, Kunst- und Medienwissenschaft. Hier können institutionelle
Implikationen des Kunstsystems selbst und der medialen Reproduktion von
Gesellschaft durch dritte Orte und Größen, einschließlich
der dazu eingesetzten Kommunikations- und Publikationsstrategien, zur
Sprache kommen. Zu den möglichen Themenfeldern zählen Diplomatie
(als Kunst der indirekten Kommunikation und der Intrige), Machtstrukturen,
Herrschaftssymbolik und Souveränitätsproblematik in ihrer stets
auch virulenten ästhetischen Dimension, triadische Konstellationen
im familiären Raum, in Verwandtschaftssystemen, in Beziehungsnetzwerken
(Beispiel: Klientelismus) und generell bei der Begründung kollektiver
Ganzheiten. Literaturwissenschaftlich dürfte es von besonderem Interesse
sein, Figuren des Dritten im Kontinuum zwischen Individualisierung einerseits,
Entpersönlichung andererseits zu beobachten. Dabei kann es sich um
Mittler und Richter handeln, die aus institutionellen Funktionsrollen
heraustreten bzw. in ihnen verschwinden, oder aber, auf der Kehrseite
der sozialen Organisation, um Figuren vom Typ des tertius miserabilis
– das Opfer und den Sündenbock (Girard), den aus der politischen
Ordnung Ausgeschlossenen (Agamben), den Überflüssigen –,
denen ihre Individualität aberkannt wird, die sich in einer Zone
jenseits menschlicher Identitäten verlieren und die gerade durch
ihre Exteriorität den sozialen Zusammenhalt der anderen konstituieren
und stabilisieren.
Im Bewilligungsbescheid zum Einrichtungsantrag wurde angeregt, die Thematik
des Kollegs klarer zu begrenzen. In der Arbeit der ersten Phase, die zunächst
das gesamte Spektrum möglicher Dritter zu explorieren hatte, hat
sich der Aspekt der sozialen Funktionsweisen des Dritten als besonders
entwicklungsfähig erwiesen. In dieser Spezifizierung soll das Kolleg
jedoch offen bleiben für die Vielfalt der theoretischen und thematischen
Zugänge, wie sie im Einrichtungsantrag ausgebreitet wurden.
2.2. Zur Thematik und Methode
2.2.1
Von der Intersubjektivität zur Triade
Von Hegels Herr-Knecht-Dialektik
über Meads Konzept des „generalized other“ bis zu Parsons’
und Luhmanns Theorem von der systemstiftenden „doppelten Kontingenz“,
d.h. der unauflöslichen Undurchsichtigkeit von ego und alter ego
füreinander, bauen Theorien des Sozialen auf binären Modellen
von Intersubjektivität auf, die sie als soziale Elementarform betrachten.
Gleichwohl lässt sich, beginnend mit Georg Simmels Ausführungen
zur „quantitativen Bestimmtheit der Gruppe“ (Simmel 1908:
47ff.), auch eine gegenstrebige Denktradition ausmachen, welche die konstitutiv
triadische Struktur von Vergesellschaftung betont. Die Dyade von Ego und
Alter begründet Intersubjektivität, aber erst mit Dreien beginnt
Gesellschaft. Der hinzukommende Dritte stört nicht nur die geschlossene
Reziprozität der Dyade, sondern bringt damit auch ein Element von
Indirektheit, Distanzierung und Fremdbeobachtung ins Spiel, das den Nukleus
jener Überpersönlichkeit und Objektivation bildet, mit dem soziale
Größen, in Simmels Worten, „dem Einzelnen gegenübertreten“
(ebd.: 56). Zwei Beziehungspartner können sich lieben und streiten,
sie können zusammenarbeiten und tauschen, aber ohne das Hinzutreten
eines Dritten gäbe es weder Familie noch Markt noch Recht noch andere
Formen sozialer Ordnung.
Es wäre indessen ein Fehler, den Dritten hier als eine bloß
nachträgliche Größe zu behandeln, der zu einer ursprünglichen
Dyade gleichsam hinzuaddiert wird. Zum einen „lässt sich Intersubjektivität“
nur von außen „als dyadisch beschreiben“ (Bedorf 2004:
997), weil sie nur von außen als Wechselspiel zweier finiter Subjekte
erscheint; in der Dyade ist also ein beobachtender Dritter notwendig mitgedacht.
Zum anderen sind Dyaden immer schon gestiftete und instituierte Dyaden,
wie das Beispiel der Ehe anschaulich macht. Intersubjektivität ist
insofern kein basales, sondern ein abgeleitetes Konzept; es muss deshalb
bezweifelt werden, ob eine Sozialphänomenologie der Intersubjektivität,
auch wenn sie Begriffe wie Anerkennung (Honneth) oder Alterität (Levinas)
radikal zu fassen versucht, jemals zu einer adäquaten Analyse sozialer
Institutionenbildung gelangen kann.
Mit Lacan lässt sich dieser Sachverhalt psychoanalytisch reformulieren.
Primär ist nicht die exklusive und vereinnahmende Bezugnahme des
Ich auf den Anderen (den kleinen Anderen in der lacanianischen Terminologie),
die stets ein Element von Selbstspiegelung in sich trägt und von
Lacan in das Register des Imaginären verwiesen wird. Strukturell
vorgängig ist vielmehr die symbolische Ordnung (der große Andere),
weil ja bereits in der Mutter-Kind-Dyade „der sprachliche Code als
ein Drittes“ zugegen ist, der ohne das Bewusstsein der Beteiligten
eine „normativierende Funktion“ übernimmt (Bedorf 2004:
1003). Die Dyade erscheint dann nicht mehr als ein ursprüngliches
Glück, das vom Dritten (psychoanalytisch: dem Vater) zerstört
wird, sondern als regressive Selbstillusionierung, die sich der Einsicht
in die soziale Prästrukturiertheit jeder noch so intimen Beziehung
widersetzt.
Dyade und Triade lassen sich folglich nicht in eine logische oder zeitliche
Stufenfolge eintragen, sondern müssen in einer Art Zeitschleife,
gemäß einer Struktur der Selbstinvolution, gedacht werden:
das anscheinend Elementare ist schon von der Komplexität gestiftet,
zu der es sich fortentwickelt. So elementar dieses wechselseitige Bedingungsverhältnis
für eine sozialphilosophische Grundlagentheorie ist, – es dürfte
kaum irgendwo genauer beobachtbar sein als in literarischen Texten, die
vom Familienroman über das Eifersuchtsdrama bis hin zur politischen
Haupt- und Staatshandlung mikrologische Analysen derartiger sozialer Konstituierungen
bieten.
Eine Wendung vom Thematischen ins Literaturtheoretische erfährt dieser
Aspekt, wenn man den literarischen Text selbst als ein Drittes fasst,
das eine indirekte Beziehung zwischen Autor und Publikum stiftet, deren
Komplexität und Rückkopplungswirkungen weit über das Niveau
eines einfachen Sender-Empfänger-Modells hinausreicht (vgl. auch
Abschnitt 2.2.2.6). Hier kommt die Kategorie der Performanz bzw. Performativität
von Texten ins Spiel, die besonders in Bezug auf die vorneuzeitliche Literatur
die Aufmerksamkeit der Forscher auf sich gezogen hat.
2.2.2 Bausteine einer Institutionenlehre: Stabilisierung,
Objektivation, Emergenz, Unterbrechung als Effekte des Dritten
Die Erweiterung der
Dyade um den Dritten erhöht nicht nur die Zahl potentieller Allianzen
(Triaden sind ja variationsfreudig und neigen dazu, in eine von jeweils
drei möglichen 2+1-Kombinationen auseinanderzufallen, um sich dann
wieder neu zu refigurieren), sondern hebt auch das Verhältnis der
Kommunikanten auf ein qualitativ neues Niveau. Simmel spricht mit Bezug
auf diesen qualitativen Schritt, noch in den Spuren einer vitalistisch
grundierten Entfremdungslehre, vom „abgesonderten Leben“ der
„Abstraktionen“ (Simmel 1908: 56). Verselbständigung,
Versachlichung, „selbstzweckhafte Eigengesetzlichkeit“ (Gehlen
1994: 69), aber auch Sublimation (Schelsky 1965: 49f) und Entlastung sind
die Stichworte, unter denen Soziologen des 20. Jahrhunderts Institutionalisierungsprozesse
beschrieben haben. Der Begriff Institution bezieht sich dabei im weiteren
Sinne sowohl auf alle dauerhaften und relativ stabilen kulturell geformten
Muster menschlicher Beziehungen, die soziales Handeln strukturieren, normativ
regeln und über Sinndeutungen und Wertorientierungen legitimieren,
er bezieht sich in einem engeren Sinne aber auch auf Gebilde wie Familie,
Staat oder Betrieb und überlagert sich insofern partiell mit anderen
Begriffen wie Organisation, Assoziation und Korporation. Gehlen nennt
die archaischen Institutionen „Transzendenzen im Diesseits“
(Gehlen 1994: 18). In evolutionstheoretischen Ansätzen hat ‚Emergenz’
eine vergleichbare Funktion: Sie macht die Entstehung sozialer Größen
benennbar, deren Eigenschaften sich nicht mehr auf die individuellen Elemente
zurechnen lassen, aus denen sie physisch bestehen.
Das erlaubt es gleichwohl, Institutionen von bestimmten Typen persönlicher
Intervention abzuleiten. Der beste Ausgangspunkt dafür ist das Wirken
des unparteiischen Dritten, der Simmel zufolge „reihum“, also
mit wandernder Position, in jeder „Gemeinschaft zu dreien“
vorkommt und dessen Leistung darin besteht, „eine Art Zentralstation
zu bilden, die, in welcher Form auch der Streitstoff von einer Seite her
hineingelange, ihn nach der anderen nur in objektiver Form abgibt“,
und somit den Antagonismus herunterzukühlen (Simmel 1908: 106f).
Schon auf dem Niveau rudimentärer politischer Organisation indessen
nimmt diese noch ganz situationale Technik der Konfliktbändigung
festere Formen an, beruht doch die „institutionalization of centralized
leadership“ auf der Notwendigkeit des „engineering of consent“,
kurz: auf Mediation (Service 1975: 8ff). Träger von Autorität
müssen verhindern, dass der Konflikt zwischen zwei Gruppen sich zu
einem Rachezyklus auswächst. Wo die sozialen Verhältnisse zu
komplex werden, um Schlichtung noch mit den Mitteln von Einfluss und persönlichem
Charisma erwirken zu können, bilden sich erste stabile Hierarchien.
Zugleich werden politische Ämter eingeführt, deren Inhaber über
einen entsprechend herausgehobenen Status und vor allem über dauerhafte
Sanktionsmittel verfügen. So ist auch das Amt, die Elementarform
politischer Institutionen, aus dem Imperativ der Vermittlung geboren.
Wenn man diesen Sachverhalt von einer Theorie des Dritten her rekapituliert,
dann findet man den Dritten hier indessen nicht so sehr in seiner klassischen
Rolle als verbindendes Element, sondern als Unterbrecher von konflikthaften
Eskalationen. Die tödliche Symbiose von Gewalt und Gegengewalt kann
nur durch einen schiedsrichterlichen Dritten, der zu keiner der feindlichen
Parteien gehört, zum Stillstand gebracht werden. Dessen Aufgabe besteht
darin, in der dichten Reaktionsfolge von Konflikthandlungen Diskontinuität
zu erzeugen. Der Vorgang der Mediation zeigt also bei näherem Hinsehen
eine doppelte Struktur, die auf bestimmte Weise dem ‚Doppelleben’
des Dritten entspricht: für den Mediator stellen Trennen und Verbinden
keinen Gegensatz dar, da er ja trennt, um zu verbinden (oder, andersherum,
die streitenden Parteien zusammenführt, um sie zu trennen und die
Eskalation zwischen ihnen zu unterbinden).
Verallgemeinernd heißt dies, dass Institutionen am Ort der Unterbrechung
von sozialer Dynamik entstehen. Sie sind auf Dauer gestellte und zum abstrakten
Prinzip erhobene Figuren des Dritten: das Recht, das die Rache sistiert;
der Machtstaat, der durch sein Monopol an Zwangsmitteln individuelle Gewaltanwendung
unterbindet; der Souverän, der erst dann seinem vollen Begriff genügt,
wenn er keine Partei im Staat und durch keine Partei im Staat angreifbar
ist; der Markt, der Gegenseitigkeitsverpflichtungen in anonyme, vielseitige
Transaktionen verwandelt.
Was vom Mediator gesagt wurde, gilt in abgewandelter Form für Kommunikationsmedien
generell: sie stabilisieren soziale Kommunikation bzw. erhöhen ihre
Erfolgswahrscheinlichkeit, indem sie den Nachrichtenverkehr face to face
unterbrechen und sich als dritte, emergente, überdauernde Größe
zwischen den Kommunikanten ‚festsetzen’. Hierin besteht die
genuine Leistung der Schrift, später des Buchdrucks und der nachfolgenden
Print- und Massenmedien. Die historische Synergie von Kommunikationsmedien
und politischen Institutionen gehört zweifellos zu den bemerkenswertesten
Effekten des Dritten, die in diesem Zusammenhang der Untersuchung wert
sind.
2.2.3 ,Große’ versus ,kleine’ Dritte
Es wäre allerdings
eine einseitige Betrachtungsweise, die Aufgabe etwa des mit dem Gewaltmonopol
bewehrten Staates neuzeitlicher Prägung allein darin zu sehen, Mechanismen
des peace making und des engineering of consent bereitzustellen, gegen
die kein legaler Widerstand möglich ist. Derselbe Staat lenkt überdies
einen beträchtlichen Teil seiner Energie in die Schwächung intermediärer
Gewalten, die ganz ähnliche Ziele in einer Parallelwelt nichtstaatlicher
Regulationen verfolgen. Er eröffnet innenpolitisch gleichsam eine
doppelte Front: einerseits gegen den Streit der Parteien, über den
er sich in der Rolle des ,Großen Dritten’ erhebt; und andererseits
gegen die vielen ‚kleinen Dritten’, die örtlichen Autoritäten,
die nach altem Brauch und Auftrag handeln, die Familien, Clans, Korporationen,
Kirchen, Bruderschaften, warlords und sonstigen Zwischengewalten, die
auf ihre Weise als Mediatoren wirksam sind. Das herkömmliche und
wohl noch heute am meisten verbreitete Mittel zur Bildung von Triaden
und zu ihrer Verknüpfung in Solidarnetzwerken sind die klientelären
Systeme – Systeme der Chancenmehrung durch Beziehungsakkumulation,
die sowohl der Pazifizierung im Konfliktfall als auch der Distribution
(von Macht, Befugnissen, Ämtern) dienen. Durch die Heraufkunft des
Staates und seinen Anspruch, alleinige Mediationszentrale zu sein, werden
diese Netzwerke mitsamt ihren Praktiken der Intrige (vgl. Utz 1997) gleichsam
in den Untergrund abgedrängt; man spricht dann – aus der Staatsperspektive
– von mafiosen Strukturen und Korruption (Chittolini 1995).
Dieser Aspekt einer historischen Rivalität zwischen unterschiedlichen
Mediations- und damit Triangulationsstrategien muss in einer Theorie des
Dritten Berücksichtigung finden. Das instituierende Vermögen
des Dritten gewinnt sein Profil durch Abgrenzung von einer ,Minderform’,
die als Korruption diskreditiert wird. Wieder ist hier die Unterbrechung
das eigentliche Geheimnis institutionenstiftender Mediation. Diese Unterbrechung
hat zwei Seiten, sie betrifft die Reziprozität von Gewalt und von
Freundschaftsgaben gleichermaßen. Repräsentanten einer öffentlichen
Institution haben – jedenfalls nach modernen Maßstäben
– weder Freunde noch Feinde; sie sind durch ihr Amt aus dem Kontinuum
des Austauschs sowohl von Gaben als auch von Gewalttätigkeiten herausgerückt.
Sobald sie sich in den einen Kreislauf einbringen, sind sie für die
Stillstellung des anderen unbrauchbar. Dann bricht die große, institutionelle
Triade zusammen und gibt Raum für ein Spiel der Interessenkoalitionen,
das seinen eigenen, durchaus staatsfernen Gesetzmäßigkeiten
gehorcht.
Bis zu einem gewissen Grad wird die institutionentheoretische Differenzierung
zwischen ‚großen’ und ‚kleinen’ Figuren
des Dritten künstlich bleiben, weil in der Praxis beide Triangulationsweisen
ineinandergreifen. Auch dieser interne Dualismus wird also vom Schicksal
einer Logik des Dritten ereilt. Dennoch ist er zumindest für ein
aufgeklärtes Staatsverständnis grundlegend und kann nicht dekonstruiert
werden, ohne den Rechtsstaat selbst zu dekonstruieren. Die Frage ist:
Wie konnte der politische Diskurs der Moderne eine solche kategorische
Unterscheidung herbeiführen und durchsetzen? Worauf kann sie sich
stützen, und durch welche Semantiken ist sie stabilisierbar?
2.2.4 Institution und Fiktion
In der Selbstbeschreibung
moderner politischer Institutionen bildet das wichtigste Unterscheidungskriterium
der Gegensatz zwischen Universalismus und Partikularismus. Im Zentrum
der Staatsreformen des 18. Jahrhundert steht das Bemühen um die Durchsetzung
universeller Prinzipien (Lind 1996: 124). Aber wie kann es gelingen, ein
reines, inkorruptibles Allgemeines zu instituieren? Und wie versetzt es
Menschen mit ihren Befangenheiten und egoistischen Interessen in die ‚transzendente’
Position von Amtsträgern, die einem universellen Prinzip zur Geltung
verhelfen?
Für ein so grundsätzliches Problem muss es Lösungen auf
mehreren Ebenen geben. Zunächst sind die umfangreichen verfassungspolitischen,
administrativen, aber auch apparativen Vorkehrungen zu nennen, mit denen
moderne Gemeinwesen ihre politischen Verfahren formalisieren, um sie vor
der Inanspruchnahme durch Partikularinteressen, sprich: vor Korruption,
zu schützen. Zweitens erfüllen öffentliche Institutionen
nicht nur gewisse Primärbedürfnisse, sondern schaffen darüber
hinaus Bedürfnisse zweiten Grades, die sich auf den Fortbestand eben
dieser Institutionen richten und ihre Dauerhaftigkeit stärken (Schelsky
1965: 36ff). Dass sich auch nachträglich Motive finden, um in eine
Institution zu investieren, ist einer der wesentlichen Gründe dafür,
dass sie sich von ihren ursprünglichen Trägern, Entstehungsumständen
und Zwecken verselbständigen und auf Dauer gestellt werden (Gehlen
1994: 33ff).
Das steht in direktem Zusammenhang mit einer dritten und an dieser Stelle
wichtigsten Dimension des Institutionalisierungsproblems. Noch einmal
kann Gehlen ein Stichwort liefern, in diesem Fall das der institutionellen
Fiktion. Gehlen beschreibt damit den Effekt, dass sich Institutionen und
Vorstellungen bzw. Begriffe wechselseitig validieren und in ihrem Bestand
sichern (Gehlen 1994: 244). Wenn er die „obligatorisch gewordene
Fiktion [...] eine Realität eigenen Rechts“ nennt (ebd.), so
weist das auf den brisanten Sachverhalt der Fiktionalität gesellschaftlicher
Einrichtungen hin, in dem sich literatur- und sozialwissenschaftliche
Perspektiven begegnen. Institutionen müssen sich ja als autorlose,
unpersönliche, höhere Macht hypostasieren gegen den Augenschein,
den ihre menschlichen Repräsentanten vermitteln; sie sind nur in
der Form regulativer Fiktionen zu haben.
(Wenn der Argumentation hier vor allem konservative deutsche Nachkriegssoziologen
als Gewährsmänner dienen, so soll die problematische Seite dieser
Institutionensoziologie – die Vermischung von sozialtheoretischer
Analytik und anthropologisierender Apologie – nicht unberücksichtigt
bleiben. Es wäre ein eigenes lohnendes Forschungsgebiet, ‚Triadenmanagement’
und Geschichte bzw. Nachgeschichte des totalitären Denkens zueinander
in Beziehung zu setzen. Für die Aufarbeitung Gehlens mit Blick auf
eine „kritische Institutionentheorie“ sind die Arbeiten von
Rehberg grundlegend (Rehberg 1990 u.a.).)
Die Einsicht in die fiktive Beschaffenheit grundlegender sozialer Ordnungsinstanzen
– genannt seien Recht, Nation, Staat, allgemeiner: Institutionen
– verschafft der Literaturwissenschaft, die ihrer Bestimmung nach
mit fiktionalen Texten befasst ist, ganz neue Aufgaben außerhalb
ihres angestammten Gebiets. Ihr tritt dadurch vor Augen, dass die Erzeugung
sozialer Entitäten immer auch ein poetisches Projekt ist, insofern
es dabei um „imagined communities“ (Anderson 1993) und die
dazugehörige „invention of tradition“ geht (Hobsbawm/Ranger
1983) – allgemein um die narrative Kreditierung kollektiver Subjekte,
die innerhalb der Leitunterscheidung eigen/fremd gewissermaßen retroaktiv
als immer schon selbstidentische Wesen eingeführt werden müssen.
In diesem Zusammenhang sei nochmals die Bedeutung des Vorgangs der Unterbrechung
betont. Staatlich-bürokratische Institutionen errichten Außengrenzen,
nicht nur um ihre Routinen vor dem information overflow des alltäglichen
Lebens zu schützen (Luhmann 1964: 220ff), sondern um eben Agenturen
des Allgemeinen werden zu können. Wer sich als Amtsträger ins
Innere der Institution begibt, muss seine Identität wechseln oder
doch spalten; keine moderne Institution kommt aus ohne das Gebot der Trennung
zwischen Amt und Person, oder allgemeiner: zwischen Symbolik und Empirie.
Damit institutionelle Rollenzuschreibungen sich zu Realfiktionen im Sinn
Gehlens verselbständigen können, ist ein ganzer Apparat von
symbolischen Praktiken aufzubieten, die eben die Grenzziehung zwischen
dem Innen und dem Außen der Institution absichern: Rituale der Schwelle,
der Vereidigung und Investitur in das Amt, des Einlasses und der Aussperrung,
der Reglementierung des Parteienverkehrs und nicht zuletzt der räumlichen,
vestimentären, gestischen Produktion von Repräsentativität
und Würde. All dies sind Funktionen der Unterbrechung, und sie werden
ausgeübt von dem entsprechenden Personal: Grenzwächtern, Türhütern,
Zeremonienmeistern, Ratgebern, Sekretären – lauter Figuren
des Dritten.
Unterbrechung ist also kein einfacher und logisch einsinniger Vorgang.
Bei näherem Hinsehen ist sie auf eine Reihe von stützenden Praktiken
und Narrativen angewiesen, die eine paradoxe Aufgabe erfüllen: nämlich
genau an der Stelle der institutionellen Zäsur Übergänge
und Verbindungen zu stiften, damit das Allgemeine – die Bestimmung
der Institution – in den Kontinua des gewöhnlichen und partikularen
Lebens seinen Ort finden und dennoch davon substanziell geschieden werden
kann. Diese Übergänge zu füllen, um die systemischen Funktionsroutinen
zu ‚verunreinigen’ oder, anders gefasst, in ihrer Nichtselbstverständlichkeit
auszustellen, ist Sache der Literatur. Dass literarische Texte gattungsbedingt
dazu neigen, institutionelle Determinanten in persönliche Konfliktlagen
und Charakterfragen umzuwandeln, lässt sich hier möglicherweise
als eine besondere Kompetenz ausmünzen, auf beiden Seiten der Unterscheidung
Institution/Individuum zu operieren. Ebenso kann die epochale ‚Zäsur
der Medien’ (Tholen 2002) nicht technikgeschichtlich oder mit den
Medien als (politische, kulturelle) Institution überdeckt werden,
weil jene immer zugleich ihre Differenz zu den Botschaften, die sie vermitteln,
mitproduzieren und in ihrem Dazwischentreten auch die Zäsur, die
sie bedeuten, kommunizieren. Die Medien sind ihre Botschaft nur, wenn
das, was sie vermitteln, als ihre Unterscheidung beobachtet wird.
2.2.5 Politische Epistemologie
In der aktuellen historischen
Forschung zur Geschichte des europäischen Staates ist eine Tendenz
festzustellen, die von herkömmlichen Souveränitätskonzepten
wegführt und stattdessen die Einbindung des Herrschers in Machteliten
akzentuiert. Von der Konkurrenz zwischen bestehenden klientelären
Strukturen einerseits, der Instituierung des Staates – in der Nachfolge
Gottes – als ,Großem Dritten’ andererseits war in Abschnitt
2.2.3 schon die Rede. Es handelt sich dabei um die Konkurrenz zwischen
unterschiedlichen Triangulationsstrategien. Die Elementarbausteine klientelärer
Systeme sind zwar Dyaden (zwischen Patron und Klient), die aber immer
in triadische Strukturen eingebettet sein müssen, wenn das System
Anreize bieten soll: der Patron verschafft Zugang zu einer anderen, noch
mächtigeren Person; der Klient konkurriert um Patronage mit anderen
Bewerbern; umgekehrt sind Patrone Gerechtigkeitserwartungen ausgesetzt,
und eine ihrer vornehmsten Aufgaben besteht darin, Streitigkeiten zwischen
ihren Klienten zu schlichten.
Dass solche Dezentrierungen politischer Herrschaft gegenwärtig verstärkte
Aufmerksamkeit auf sich ziehen, hängt sicherlich mit dem Befund einer
Krise des Staates und mit dem aktuellen Syndrom der failed states zusammen.
Wenn zentralstaatliche Institutionen den ‚historischen Auftrag’
ausführen, den ,heißen’ Konfliktstoff einer Gesellschaft
in abgekühlte soziale Betriebsenergie umzuwandeln, dann bedeutet
dies immer auch, dass sie anders instituierten oder präinstitutionellen
Regulativen Legitimität und Geltung bestreiten. Sobald jedoch die
Staatsordnung geschwächt ist, kehren die klientelären Systeme,
die niemals ganz zu entmachten sind, sondern sich im Gegenteil der staatlichen
Institutionen parasitär zu bedienen verstehen (Lind 1996: 125), wieder
an die Oberfläche zurück. Failing states zerfallen nicht in
soziale Atome, sondern in das vor- oder unterstaatliche Gewebe der „Friends
of friends“ (Boissevain 1974) – lose verknüpfte Triaden,
alte und neue, traditionale und terroristische Verbünde, ohne dass
klare Grenzen zu ziehen wären.
Die aktuelle Konjunktur des Netzwerk-Begriffs, der eine eigene ,Triadologie’
mit sich bringt, lässt sich wohl daraus erklären, dass herkömmliche
politische Inklusionskategorien an Geltung verlieren. Die politische Grammatik
wird immer weniger von klassischen Instanzenzügen und Normenhierarchien
geprägt und entwirft stattdessen Modelle von labilen, dezentralen,
hybriden Strukturen. (Dies dürfte auch den Bedeutungszuwachs ethnologischer,
an der Beobachtung segmentärer Organisationsweisen gewonnener Modelle
für die Selbstbeschreibung der entwickelten westlichen Gesellschaften
erklären.) Die klassischen Nationalstaaten büßen einen
Teil ihrer Regelungsmacht und ihrer Identität stiftenden Geltung
ein, was Auswirkungen auf Identitätskonzepte generell hat. Seit dem
Ende des Kalten Krieges konkurrieren politische Strategien, welche die
zerfallende Blockkonfrontation in neue dichotomische Ordnungen zu überführen
suchen, mit solchen, welche die überkommenen Freund/Feind-, Rechts/links-
und Kapitalismus/Sozialismus-Schemata für obsolet halten. Nicht nur
Anthony Giddens proklamiert „dritte Wege“ und sucht nach „dritten
Kräften“ (Giddens 1999; 2000; 2001).
Als Gegenreaktion auf das damit verbundene Ethos der Hybridität und
transkulturellen Verhandlung entstehen jedoch auch neuartige, häufig
fundamentalistische Dichotomien. Es ist ja ein Kennzeichen vor allem des
religiösen Fundamentalismus, dass er seine Leitunterscheidungen in
ein Szenario des „cosmic war“ vergrößert (Juergensmeyer
2003: 148ff) und Unduldsamkeit gegenüber allem Dritten zeigt, das
die Zuspitzung zu einer phantasierten Entscheidungskrise abmildert. Alle
Verfahren der politischen Pazifizierung – Kompromiss, Koexistenz,
Toleranz, Multikulturalismus, Trennung von Religion und Politik –
sind aus dieser Perspektive nur als Schwächung der eigenen Seite,
kurz: als Verrat, wahrnehmbar.
Mit den Modi der politischen Integration ändern sich zugleich die
Formen der Sanktionierung und Ausschließung. Hier ist Simmels Typologie
des Dritten um verschiedene Ausprägungen des tertius miserabilis,
wie den Zankapfel, den Diener zweier Herren, den Prügelknaben oder
auch Sündenbock, zu ergänzen (Scharmann 1959). Zum Opfer als
einem das soziale Band stiftenden bzw. erneuernden Ritual sind die Überlegungen
Girards grundlegend (Girard 1987). Die Antisemitismus-Forschung hat gezeigt,
dass auch ‚die Juden’ als Figur des Dritten imaginiert (und
verfolgt) werden: Für den Antisemiten verkörpern sie einerseits
das verhasste Prinzip universeller Vermittlung (Geld) und andererseits
das nicht minder perhorreszierte einer ‚nicht-nationalen Nation’,
welche die nationale Semantik mit ihrer Aufteilung zwischen eigener und
fremder Nation unterläuft (Claussen 1987; Holz 2000).
Mit der Figur des homo sacer, des aus dem Raum des Rechts verbannten und
dadurch auf sein „nacktes Leben“ zurückgeworfenen Menschen,
hat Giorgio Agamben (2002) eine weitere Figur des ausgeschlossenen Dritten
in die politische Philosophie eingeführt und zum Paradigma der abendländischen
Geschichte erhoben. Die zeitgenössische soziologische Theorie wiederum
sieht sich konfrontiert mit den ‚Überflüssigen’,
die aus den gesellschaftlichen Funktionssystemen als irrelevant herausfallen
und nicht einmal mehr als Objekt von Ausbeutung und sozialer Unterdrückung
taugen (Schroer 2001). Eine gleichermaßen aktuelle wie bedrohliche
Figur des Dritten ist schließlich der Terrorist, der als irregulärer
Kämpfer weder der eigenen noch einer fremden staatlichen Macht zuzuordnen
ist und durch seine asymmetrischen Aktionen deren Gewaltmonopol herausfordert.
All dies berührt das Einzugsgebiet der soziologischen Strukturanalyse
ebenso wie der politischen Mythologie. Insbesondere öffnet sich hier
das Feld für medienwissenschaftliche Untersuchungen, sei es, dass
sie den Blick auf Stereotypisierungen in der politischen Berichterstattung
richten, sei es, dass sie sich dem Nachweis fundamentalistischer Gewalt-
und Ausgrenzungsschemata in den Massenmedien sowie im Science Fiction
widmen. Das enthebt nicht der Aufgabe, der historischen Tiefendimension
des Themas nachzuspüren und einen vom Zerfall nationalstaatlicher
Identitätskonzepte geprägten Blick auch auf die Entstehungsgeschichte
moderner Gesellschaften und Staaten zu richten.
2.2.6 Publikation, Transmission, öffentlicher Raum
Neuere Ansätze
besonders in der französischen Geschichtswissenschaft arbeiten darauf
hin, das rezeptionsästhetische Dual Sender/Empfänger in eine
Serie von publizistischen Handlungen aufzufächern und so auf ihre
Weise zu einer Theorie des Dritten, nämlich der Transmission, fortzuentwickeln:
„l’interêt est déplacé vers les relais,
les intermédiaires, les médiateurs, les ‚passeurs’“.
Gefragt wird weniger nach dem Schriftstück als einem „objet
porteur du sens“ als nach dessen „déplacements“,
die sich im Prozess seiner Übermittlung zutragen (Jouhaud 2002: 9f).
Das erlaubt eine intensive Verschränkung von Text- und Machtanalyse.
Im absolutistischen Frankreich etwa konzentriert sich die Publikationstätigkeit
um den Machtpol der Hauptstadt und des Hofes; sie findet im „espace
mixte“ hybrider Überlagerungen zwischen persönlichen und
öffentlichen Interessen statt, in der Zwischenzone der „publicateur-relais
qui forment le premier public de leurs publications“ (ebd.: 18),
wobei die abgeschickten Botschaften alle möglichen medialen Aggregatzustände
durchqueren (mündliche Mitteilung, Gerücht, anonym verbreitetes
Pamphlet, offizielle Denkschrift usw.). Dieser halböffentliche Betrieb
expandiert entlang von klientelären Netzwerken, deren Zentrum der
personale Souverän selbst und die Prinzen von Geblüt bilden,
in denen sich die hybride Konjunktion des public und des particulier verkörpert,
weil ihre ‚privaten’ Belange öffentlichen Rang besitzen.
In der Gravitationszone der monarchischen Macht erfolgen alle publizistischen
Akte als Interventionen jeweils mit Blick auf einen patron, der seinerseits
als agent de change, d.h. als Dritter, adressiert wird.
Und genau dies ist die Scharnierstelle, an der über die Serie von
klientelären Kontaktnahmen hinaus so etwas wie ‚Öffentlichkeit’
im modernen Sinn entsteht. Zum einen geschieht das dadurch, dass der Patron
nicht nur als Türöffner in die höfische Hierarchie, sondern
auch als Makler eines emphatischen Allgemeinen angerufen wird –
sei es des guten Geschmacks, sei es der Vernunft oder eines anderen menschheitlichen
Ideals. Zum anderen ergeht die Rede an den Patron mit Blick auf ein Publikum,
das (etwa in Dedikationen) sozusagen stillschweigend mitadressiert wird
und dergestalt in der Beziehung Klient-Patron die Rolle des anwesend-abwesenden
Dritten spielt. Öffentlichkeit entsteht insoweit als Seiteneffekt
und zugleich modellierender Hintergrund klientelärer Sprechakte.
Der kommunikativen Struktur nach ist dies der Situation des absolutistischen
Theaters vergleichbar, wo sich der Hof als kunstrichterliches Publikum
konstituiert, um der von einem Autor erdachten Tragödie des Souveräns
beizuwohnen.
Schließlich erreichen Publikationen, insbesondere Druckwerke, über
die unmittelbar adressierte Person hinaus eine unbestimmte Anzahl weiterer,
namenloser Empfänger. Sie diffundieren und schaffen dadurch einen
über den klientelären Zusammenhang hinausreichenden, wenn auch
nicht zu beziffernden Überschuss. Und diese jeweils entstehenden
Mengen 2+x ergeben in ihrer Summe eine als solche nicht mehr adressierbare,
zum ‚Interaktionskern’ der publizistischen Handlung transzendente
Größe – die Vorform einer allgemeinen Öffentlichkeit.
Es scheint lohnend, den so gefassten ‚Strukturwandel der Öffentlichkeit’
auch über die Epoche des Absolutismus hinaus mit dem hier kurz vorgestellten
theoretischen Instrumentarium weiterzuverfolgen. Mit einer Institutionenlehre
im Zeichen des Dritten ist dieses Thema auf innige Weise verbunden, da
ja die regulativen Fiktionen der Öffentlichkeit und der modernen
Institution sich bis zu einem gewissen Grad koevolutiv zueinander verhalten
(vgl. Rehberg 1995). Denkbar ist ein Blick auf mögliche Parallelentwicklungen
etwa im Rechtswesen bei der Umstellung von monarchischen auf demokratische
Prozeduren. Auch hier stellt sich ja die Frage, wie ein öffentliches
Gut, abgelöst von der Person des Souveräns, hypostasiert und
semantisch plausibel gemacht werden kann. Es sind vor allem die Schriftsteller
der Achsenzeit um 1800, die das semantische Potential des Universalismus
auf allen denkbaren Feldern, einschließlich der kommunikativen Möglichkeitsbedingungen
ihrer eigenen Tätigkeit, explorieren.
2.2.7 Soziale Akteure
In den neueren Analysen
von Machtsystemen lässt sich so etwas wie ein infrastructural turn
ausmachen – ein Schwenk der Aufmerksamkeit weg von hierarchischen,
mit klaren Grenzen versehenen, scheinbar stabilen politischen Gebilden
und hin zu den Verbreitungswegen und Diffusionsweisen der Macht. Macht
wird dabei als ein plurikausales Zusammenspiel von Netzwerken verstanden,
die dezentriert, asynchron und in großen Teilen unabhängig
voneinander agieren. Deshalb werden die entscheidenden sozialen Kräfte
nicht mehr im Zentrum, sondern in der Spannung zwischen Zentrum und Peripherie
verortet, in den „interstices“, das heißt Lücken,
Rändern, Rissen der jeweiligen Machtgefüge (Mann 1990). Überhaupt
ist ja die Netzwerkanalyse um Fragen der Einheit und der dazugehörigen
Reinhaltung von Grenzen wenig besorgt. Sie scheint sich vielmehr in einer
fröhlichen Heterogeneität anzusiedeln, in der die Trennung zwischen
Innen und Außen, Eigenem und Fremdem wenig Sinn macht, weil die
Hauptaktivität in der Herstellung von weltweiten Verbindungen, nicht
von regionalen Schließungen besteht.
So gering sonst die Gemeinsamkeiten sein mögen – auf ihre Weise
ist die sozialwissenschaftliche Netzwerkanalyse zu ähnlichen Ergebnissen
gelangt wie die durch postmoderne Dezentrierungen und Dekonstruktionen
geprägten Kulturwissenschaften. Das macht sich auch darin bemerkbar,
dass in beiden Theoriemilieus der Subjektstatus sozialer Akteure zusehends
problematisch erscheint. Im gleichen Maß, in dem Begriffe des sozialen
Ganzen ihre Glaubwürdigkeit verlieren, ist es auch um die Integrität
individueller Subjekte geschehen. Sie werden ihrerseits konzipiert als
Kreuzungspunkte von Diskursen und Kräften, hybride Gestalten, die
sich nur durch einen dezisionistischen Akt in die Passform personaler
Identität haben zwingen lassen.
Gerade auf diesem Gebiet kann die Literaturwissenschaft ihre vielfältigen
Erfahrungen mit Ich-Problematik, psychischer Departementalisierung und
Rollenspiel in eine soziostrukturelle Analyse einbringen. Zudem lässt
sich ihr Instrumentarium nutzen, um in kultursemiologischer Perspektive
nach den Narrativen zu fragen, die auch einer sozialen Grammatik der Dezentrierung
zugrundeliegen. Als besondere Herausforderung dürften sich dabei
die Überlegungen in der neuesten Wissenschaftstheorie zum Hybridcharakter
sozialer Akteure erweisen. Hier sind die Arbeiten Bruno Latours und der
Konstanzer Soziologin Karin Knorr-Cetina wegweisend, weil sie die moderne
Subjekt-Objekt-Dichotomie zurückweisen und soziale Akteure stattdessen
als Kompositformen mit menschlichen und technischen Anteilen rekonzeptualisieren
(Latour 2002: 211ff). Sozialität konstituiert sich nicht allein über
Kommunikation, sondern ebenso über den Umgang mit Dingen, die –
als verbindende und trennende, begehrte und bedrohliche, inkorporierte
und ausgesonderte, natürliche und artifizielle Elemente – ein
eigenes Arsenal von Figuren des Dritten bilden. Eine große Herausforderung
für eine Narratologie der wissenschaftlichen Moderne im Zeichen des
Dritten liegt nach wie vor in Latours Studie ,Wir sind nie modern gewesen.
Versuch einer symmetrischen Anthropologie’ (Latour 1995).
2.2.8 Institutionen der Wissenschaft
Zu den Institutionen,
die für ein Graduiertenkolleg über die Figur des Dritten von
Belang sind, zählt nicht zuletzt die Wissenschaft selbst. Probleme
des Kulturkontakts treten ja nicht erst im Feld einer wissenschaftlich
zu beschreibenden Empirie auf, sondern bereits im grenzüberschreitenden
Verkehr zwischen den Wissensgebieten und Disziplinen. Diese Entwicklung
betrifft zuallererst die Literaturwissenschaft selbst, die sich nicht
länger auf die Rolle nationalphilologischer Identitätsstiftung
festlegen lässt und in der folglich Fragen der Übersetzung,
der interkulturellen und intermedialen Kommunikation an Bedeutung gewinnen.
Doch auch ganz allgemein herrscht im Wissenschaftsbetrieb eine Konjunktur
von Präfixen wie ,inter’ und ,trans’, und die Aufschließung
hybrider Wissensfelder ist sogar zum Imperativ der (staatlichen) Forschungslenkung
geworden. Ob in den Kultur- oder Naturwissenschaften, überall werden
die Zonen größter Innovationskraft an den Rändern und
in den Interferenzzonen zwischen den etablierten Fächern mit ihrem
bisher wechselseitig exklusiven Methodenkanon vermutet.
Darauf hat die Wissenschaftsgeschichtsschreibung reagiert, indem sie die
universitäre Aufteilung in Disziplinen und das Konzept der Disziplin
als solches einer genealogischen Analyse unterzieht. Eine wichtige, die
USA, Europa und Asien übergreifende Initiative dazu geht vom Francke
Institute an der University of Chicago aus (Leitung: Prof. James Chandler),
zu dem seitens des Graduiertenkollegs Forschungsbeziehungen bestehen.
Aus kulturwissenschaftlicher Sicht lässt sich dieser Komplex in eine
Reihe von Teilaspekten aufgliedern. Zunächst wird man fragen, ob
nicht die Unterscheidung zwischen disziplinär gesichertem Wissen
einerseits, hybriden Agglomerationen zwischen den Fächern andererseits
schlicht eine Folge bestimmter framings ist, die historisch kontingent
sind, folglich auch anders gesetzt werden könnten. Das würde
bedeuten, dass es zwischen ‚stark’ und ‚schwach’
definierten Gebieten der Wissensproduktion keinen qualitativen, sondern
nur einen klassifikatorischen Gegensatz gäbe – mit der doppelten
Folge, dass sich durch ein re-framing einerseits die disziplinäre
Kanonisierung vormaligen Grenzwissens, andererseits aber auch die Hybridisierung
bisher ,reiner’ Wissenschaften herbeiführen ließe. Da
indessen jede disziplinäre Aufteilung neue Epiphänomene des
Übergangs schafft, lässt sich das Problem, wie unterschiedliche
epistemische Regimes miteinander in Verhandlung treten und trading zones
bilden (Galison 1997), durch Änderung des Klassifikationsrasters
nicht beseitigen, sondern nur neu kartieren.
Historische Untersuchungen hierzu können die Rekonfiguration der
Wissenschaften in bestimmten Schwellenepochen zum Gegenstand machen. Interessant
ist dies vor allem im Hinblick auf die Trennungsgeschichte zwischen Natur-
und Geisteswissenschaften, die bekanntlich nicht nur eine methodische
Schließung auf beiden Seiten des great divides zur Folge hatte,
sondern auch eine bis dahin mit wissenschaftlicher Evidenz ausgestattete
‚transversale’ Empirie zum Verschwinden brachte. Kulturtheoretisch
folgenreich dürfte die Behandlung der Frage sein, mit Hilfe welcher
Vorverständigungen und Vermittlungssemantiken auch weiterhin eine
Migration von Konzepten zwischen den beiden Wissenskulturen, oft hinter
dem Rücken der Beteiligten, möglich war. Dies führt in
eine Historiographie erst der Rhetorik – als alteuropäisches
Universalsystem aller Wissenschaften –, später der Hermeneutik
und ihrer Geltung über den Bereich der sogenannten verstehenden Wissenschaften
(Dilthey) hinaus.
Für eine ,historische Ethnographie’ der Philologien selbst
wäre es aufschlussreich, die Programme ihrer nationalen Abschließung
(im 19. Jahrhundert) und Internationalisierung (im letzten Drittel des
20. Jahrhunderts) ineinander zu spiegeln. Wie das Beispiel der deutschen
nationalen Rhetorik während der napoleonischen Kriege zeigt –
zu nennen sind Autoren wie Fichte, Kleist, Arnim, Arndt und Jahn –,
ist Nationalisierung ein purifikatorisches, um nicht zu sagen purgatorisches
Unternehmen und löst eine extreme Sensitivität in Bezug auf
Grenzverletzungen aus. Plakativ formuliert: Wer eine Nation erfindet und
kämpferisch gegen das Fremde (in diesem Fall: ‚Welsche’)
zu behaupten versucht, muss den Dritten austreiben. Umgekehrt passt die
,Zulassung des Dritten’ in eine Periode, in der die Literaturwissenschaften
ihre nationalen Kanones als Kunstgebilde erkennen und nach Konzepten suchen,
die dem permanenten Ideentransfer zwischen Sprachen und Literaturen Gerechtigkeit
widerfahren lassen.
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