Dr. iur., Dr. h.c. rer.publ. Gret Haller
Gret Haller ist Gastwissenschaftlerin an der Universität Konstanz. Als Lehrbeauftragte arbeitete sie 2006 bis 2011 an der Universität Frankfurt am Main und war assoziiertes Mitglied des dortigen Exzellenzclusters "Herausbildung normativer Ordnungen". Sie verfügt über praktische Erfahrung in Politik und Diplomatie. So war sie Präsidentin des Schweizerischen Parlamentes (1993/94), Botschafterin der Schweiz beim Europarat (1994-1996) sowie Ombudsfrau für Menschenrechte des Staates Bosnien&Herzegovina (gewählt durch die OSZE) mit Sitz in Sarajevo (1996-2000). Seither ist sie publizistisch tätig.
Europäischer Republikanismus
Republikanismus steht für eine aufgeklärte Organisation des Gemeinwesens. Er befreit die Menschen von ihrer Gebundenheit an Vergangenheit sowie Herkunft und macht sie zu individualisierten Staatsbürgern, die sich in gegenseitigem Austausch an Gegenwart und Zukunft orientieren. Seit der Französischen Revolution wird Republikanismus im Rahmen der einzelnen Nationalstaaten umgesetzt. Auch in der Europäischen Union halten entsprechende Vorstellungen Einzug, wenn auch in anderer Form als auf der nationalen Ebene.
Der Nationalstaat
Das Modell des Nationalstaates entwickelte sich in Europa und breitete sich von hier weltweit aus, teils in bereits bestehenden Territorialstaaten, teils durch die Schaffung neuer Staaten vor allem durch Kolonialisierung. So wurde der souveräne Nationalstaat weltweit zum einzigen Staatsmodell und löste nach und nach die noch bestehenden Vielvölkerreiche weitgehend ab. Daraus erhellt auch der etwas verwirrende Sprachgebrauch, wonach "national" genau besehen "einzelstaatlich" bedeutet und in der Regel als Gegenbegriff zu "international", "transnational", "multinational" oder "supranational" verwendet wird.
Das Modell "Nationalstaat" hat sich aber längst von der republikanischen Idee abgelöst, welche an seinem Entstehen massgeblich beteiligt war. Indessen begann in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Rahmen der heutigen Europäischen Union die Einbindung der Nationalstaaten in eine neue Form von übergeordneter multilateraler Staatlichkeit. Diese Entwicklung stellt den Republikanismus vor neue Herausforderungen und vermittelt ihm neue Chancen.
Republikanismus und Identität
Identität steht für die Geborgenheit unter seinesgleichen. Heute manifestiert sich Identität auch in einer Rückbesinnung auf eine romantisch verstandene kulturelle Herkunft. Diese Entwicklung ist nicht neu: Seit Beginn der Aufklärung vor mehreren Jahrhunderten kamen als Gegengewicht immer Manifestationen der Romantik auf. In Europa sorgte die Verbreitung aufklärerischer Ideen durch die napoleonischen Eroberungskriege für eine starke Gegenbewegung nationaler Identität, welche sich in der Folge zum Nationalismus entwickelte und in zwei Weltkriege mündete.
Der Kalte Krieg hat in Europa zwei Entwicklungslinien des Umgangs mit nationaler Identität entstehen lassen, welche sich heute nachhaltiger auswirken, als es sich unmittelbar nach dem Mauerfall hat voraussehen lassen. In einigen mittelosteuropäischen Staaten ist nach dem realsozialistisch verordneten Internationalismus eine Art Nachholbedarf an nationaler Identität zu beobachten, der sich nationalistisch zuspitzen kann. Die Verwandtschaft mit fremden- und EU-feindlichen Tendenzen auch in westeuropäischen Ländern fordert den europäischen Republikanismus zusätzlich heraus.
Das spezifisch Europäische des Republikanismus
Im Rahmen der Europäischen Union werden Nationalstaaten rechtlich verbindlich in eine supranationale Struktur eingebunden, wobei ihnen ihre (durchaus auch "national" verstandene) Eigenstaatlichkeit belassen wird. Hier entsteht eine neue Form von "Staatlichkeit", in welcher Multilateralismus auch im Innenverhältnis eine Rolle spielt. Die Suche nach Identität erweitert sich damit von der nationalen auch auf die europäische Ebene.
Wenn sich jedoch diese Suche an den traditionellen Narrativen nationaler Identität orientiert, wird oft ausgeblendet, dass Identität auch auf nationaler Ebene aufgrund romantischer Verklärung der aufklärerischen Tradition des Republikanismus entgegenstehen kann. Ausgeblendet wird insbesondere der Umstand, dass sich erst in der Französischen Revolution Republik und Nation zum Nationalstaat verbunden haben, Republik hervorgegangen aus der Aufklärung und Nation hervorgegangen aus der Romantik. Europäische Identität muss auf andere Ressourcen zurückgreifen.
Das republikanische "Fremdbleiben"
In der Tradition des Republikanismus kommt den staatlichen Institutionen eine Scharnierfunktion zu. Unter dem Vorzeichen der republikanischen Tradition tragen die Staatsbürger eine Verantwortung für diese Institutionen, und dies im Austausch mit anderen Staatsbürgern, die ihnen herkunftsmässig durchaus "fremd" bleiben dürfen. Unter dem Vorzeichen der Identität – wie sie sich in der Regel als "nationale Identität" manifestiert – ist gemeinsame Verantwortung hingegen jedenfalls tendenziell nur unter kulturell "Gleichen" möglich, so dass Fremdheit zum Ausschliessungskriterium werden kann.
Bei der Ausweitung der Identitätsfrage auf die europäische Ebene kommt deshalb dem traditionellen republikanischen "Fremdbleiben" eine gewisse Rolle zu, die sich auf beide Ebenen bezieht. Einerseits ermöglicht es die gemeinsame Wahrnehmung republikanischer Verantwortung für die "nationalen" wie auch für jene Institutionen, die im Rahmen der neu entstehenden europäischen Staatlichkeit an Bedeutung gewinnen. Andererseits und darüber hinaus bildet es die Grundlage für die Offenheit gegenüber Migrantinnen und Migranten. Beides fördert den gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Für Identität auf multinationaler Ebene könnte die Mitberücksichtigung des republikanischen "Fremdbleibens" hilfreich sein. Daraus ergibt sich im Sinne einer Arbeitshypothese die Frage, ob auch Republikanismus "beheimaten" kann, und unter welchen Bedingungen.