Albrecht Koschorke spricht mit campus.kn über Narrative

Von der Wissenschaft über die Feuilletons bis zu Statements von PolitikerInnen: Der Begriff Narrativ findet in immer mehr Bereichen Anwendung. Was aber bedeutet er konkret? Und warum ergibt es für die Wissenschaft Sinn, sich ihm genauer zu widmen? Fragen an Literaturwissenschaftler Albrecht Koschorke, der über Narrative des Liberalismus forscht.

Albrecht Koschorke ist Professor für Deutsche Literatur und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die Deutsche Literaturgeschichte des 17. bis 20. Jahrhunderts sowie die Kultur- und Erzähltheorie.

Was verstehen geisteswissenschaftliche Disziplinen unter einem Narrativ?

Albrecht Koschorke: Das ist für sich genommen schon eine schwierige Frage, weil der Begriff eigentlich aus der Literaturwissenschaft kommt und ihr sozusagen entlaufen ist. Jetzt bewegt er sich, um bei diesem Bild zu bleiben, frei durch die Wildnis. Insofern besteht meine berufliche Tätigkeit zum Teil darin, ihm hinterherzurennen und zu schauen, was er da draußen so macht. Eine konsistente Definition zu bilden, gestaltet sich entsprechend komplex.
Eine geläufige Definition würde wohl lauten, Narrative sind formative Erzählungen, die Kollektive in einer bestimmten Weise bilden, ausrichten und bis zu einem gewissen Grade auch binden. Das lässt sie sozial wirksam werden. Diese soziale Wirksamkeit ist entscheidend, wenn zu Narrativen geforscht wird.

Wie entwickeln Narrative eine soziale Wirkung?

Anders als einzelne Geschichten, also Stories, stellen Narrative Muster oder Templates dar, in die hinein individuelle Erfahrungen oder spezifische Sachverhalte gelegt werden können. Sie sind in gewisser Weise Sammelbecken oder Formatierungsvorlagen für kollektive Erfahrungen. Besonders deutlich tritt das in Konfliktnarrativen zutage, etwa des Typs „Diese Kulturen waren schon immer miteinander unvereinbar“ oder „Unsere Volksgruppe/Minorität wurde immer schon benachteiligt“, in die sich dann alle möglichen Einzelfälle und ‑erfahrungen inserieren lassen. So stabilisieren sich einzelne Erfahrungen von Feindseligkeit oder Benachteiligung zu einem nachhaltigen Ressentiment. Denn Erfahrungen bestehen ja nicht einfach so für sich, sondern sie brauchen eine Gestalt. Und Narrative sind sehr mächtig, wenn es darum geht, solche sozialen Erfahrungen zu gestalten.

Warum wurde der Narrativ-Begriff in den Wissenschaften populär?

Das Narrativ tritt, so würde ich es sagen, die Nachfolge von anderen Begriffen an, etwa des Diskurses oder der Ideologie. Vieles von dem, was heute unter Narrativ verhandelt wird, könnte gut und gerne auch unter dem Begriff der Ideologie verhandelt werden.
Allerdings führt Ideologie immer eine bestimmte normative Messlatte mit sich. Von Ideologien spricht man in der Regel, wenn man Abweichungen von realen Tatsachen ausgedrückt findet. Ideologien sind interessegeleitet. Der Begriff des Narrativs ist pluraler und damit heute wohl anschlussfähiger, weil nichts festgelegt ist. Die Frage, ob etwas stimmt oder nicht, ist hier möglicherweise auch zweitrangig.

Schaffen Narrative insofern auch selbst soziale Fakten?

Ich würde immer zwischen einem starken oder schwachen Begriff des Narrativs unterscheiden. Der starke Begriff geht davon aus, dass man die Welt gar nicht anders als erzählerisch greifen kann. So betrachtet würde das Narrativ überhaupt erst festlegen, was wir als Realität wahrnehmen und handhaben können. Der schwache Begriff von Narrativ meint: „Das ist ja nur ein Narrativ.“ Hier gibt es noch die Fakten als Gegenmacht. Diesen schwachen Narrativbegriff könnte man alternativ auch als eine Ideologie bezeichnen.

Titelbild: Floor mosaic, detail of the gorgone Medusa, opus tessellatum, found in Zea (Piraeus). 2nd century CE: commons.wikimedia.org/wiki/File:Mosaic_floor_opus_tessellatum_de... / Copyright: Wikimedia Commons, Lizenz CC0 1.0 Deed (https://creativecommons.org/publicdomain/zero/1.0/deed.en)

Von Claudia Marion Voigtmann - 20.06.2024
campus.kn