Chromosomale Artbildung bei wildlebenden Hausmäusen
Ein neuer Blick auf die Genome natürlicher Populationen der Hausmaus durch eine Gruppe von Forschern der Universität Konstanz, der Universität Harvard und der Universität La Sapienza in Rom legt nahe, dass großräumige Chromosomenrearrangements eine wichtige Rolle bei der Artbildung spielen.
Es wird angenommen, dass Veränderungen an Chromosomen bei der Artbildung (Speziation) wichtig sind. Das liegt daran, dass mehrere Chromosomenrearrangements das Genom einiger weniger Individuen in einer Population so verändern können, dass diese sich nicht erfolgreich mit dem Rest der Population kreuzen können. Es wird vermutet, dass dies im Laufe der Zeit zur Entwicklung von zwei getrennten Arten mit unterschiedlichen Karyotypen (das heißt, unterschiedlichen Sätzen der Chromosomen, aus denen das Genom besteht) führen kann. Eine eingehende Prüfung dieser Überlegungen ist jetzt mit fortgeschrittenen molekularen Technologien möglich, die es den Forschern erlauben, ganze Genome zu sequenzieren.
In einer neuen Arbeit, die in dem Journal Molecular Biology and Evolution erschienen ist, untersuchen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universität Konstanz, der Universität Harvard und der Universität La Sapienza in Rom wildlebende Hausmäuse (Mus musculus domesticus) von mehreren der Liparischen Inseln vor der Küste Siziliens. Ihre Ergebnisse liefern empirische Unterstützung für die Annahme, dass eine bestimmte Art von Chromosomenrearrangement im großen Maßstab, als „Robertson’sche (Rb) Translokationen“ bezeichnet, eine aktive Rolle bei der Artbildung spielen.
Aufklärung der Rolle von Chromosomenrearrangements bei der Artbildung
Chromosomenrearrangements sind Mutationen innerhalb des Genoms eines Individuums, einer Population oder einer ganzen Spezies, bei denen sich große Teile des Genoms verändern, z. B. durch Duplikation (bei der ein ganzer Abschnitt eines Chromosoms dupliziert wird) oder Inversion (bei der ein Teil eines Chromosoms seine Ausrichtung relativ zum Rest des Chromosoms ändert). „Die häufigste Art von Chromosomenrearrangement bei den natürlichen Hausmauspopulationen Westeuropas sind Robertson’sche Translokationen“, erklärt Dr. Paolo Franchini, Erstautor der Studie und Forscher in der Arbeitsgruppe für Zoologie und Evolutionsbiologie unter der Leitung von Prof. Dr. Axel Meyer an der Universität Konstanz.
Robertson’sche Translokationen sind Chromosomenrearrangements im großen Maßstab, bei denen jeweils zwei ganze Chromosomen zu einem sehr großen metazentrischen (X-förmigen) Chromosom verschmelzen. „Es ist bekannt, dass diese Art der Umlagerung eine beträchtliche Rolle bei der Artbildung spielt“, so Franchini. „Und sie kommt bei wildlebenden Hausmäusen tatsächlich sehr häufig vor, was diese Tiere zu einem perfekten Studiensystem macht. Der zusätzliche Vorteil bei den liparischen Mäusen ist, dass ihre Populationen sehr klein sind und genetische Mutationen sich wahrscheinlich schnell in der Population einer bestimmten Insel ausbreiten.“
Die wildlebenden Hausmauspopulationen im Liparischen Archipel, der aus sieben kleinen Inseln vulkanischen Ursprungs besteht, weisen verschiedene Karyotypen auf, die sich durch unterschiedliche Kombinationen von Robertson’schen Translokationen auszeichnen. Eines der Hauptziele bei der Untersuchung dieser Populationen war es, zu verstehen, wie diese Karyotypen-Verteilungen entstanden sind, das heißt, ihre Evolutionsgeschichte zu rekonstruieren.
Einzelner, gemeinsamer Ursprung (Monophylie) vs. mehrfache unabhängige Ursprünge (Polyphylie)
„Das Hauptproblem in diesem Zusammenhang ist der Ursprung dieser Verteilungen“, erklärt Franchini. Interessanterweise finden sich drei der Robertson’schen Chromosomen, die in liparischen Inselpopulationen gefunden wurden, auch in Mäusen aus Mittelitalien. Eine frühere Studie hatte daher vorgeschlagen, dass die Mäuse aus Mittelitalien die Inseln zusammen mit menschlichen Siedlern kolonisiert hätten, und geschlussfolgert, dass dies der Grund sei, warum diese drei Robertson’schen Translokationen heute auf den Liparischen Inseln zu beobachten sind.
Dies wird als monophyletische Theorie bezeichnet – die Annahme eines einzelnen, gemeinsamen Ursprungs. Sie postuliert, dass diese Rb-Translokationen nur ein einziges Mal – in Mittelitalien – stattfanden und sich von dort aus verbreiteten. „Was wir in unserer Arbeit zeigen konnten, ist, dass gleichartige chromosomale Verschmelzungen an verschiedenen Orten und unabhängig voneinander stattfinden können“, sagt Franchini. Da bekannt ist, dass Robertson’sche Translokationen eine aktive Rolle bei der chromosomalen Artbildung spielen, kann das Verständnis ihres Ursprungs und die Feststellung, ob sie häufig sind und an verschiedenen geographischen Orten vorkommen oder nicht, Einblicke in die Dynamik der Artbildung geben: „Wenn gleichartige chromosomale Verschmelzungen viel leichter auftreten als bisher angenommen, dann würde dies für eine hohe Mutationsrate und indirekt für eine größere Wahrscheinlichkeit sprechen, dass Robertson’sche Rearrangements eine aktive Rolle bei der Artbildung spielen.“
Um diese beiden Hypothesen – die monophyletische und die polyphyletische, also von mehrfachen unabhängigen Entstehungen – zu unterscheiden, ist es notwendig, tiefer in die genetische Sequenz dieser Robertson’schen Chromosomen einzudringen. Daher verfolgten die Forscher in ihrer neuen Studie die Ursprünge und die Evolutionsgeschichte der drei gleichartigen Robertson’schen Chromosomen, die bei den Insel- und Festlandpopulationen gefunden wurden. Durch Anwendung phylogenetischer und populationsgenetischer Ansätze auf über das gesamte Genom verteilte genetische Marker konnten sie zeigen, dass dieser spezielle Chromosomensatz mindestens zweimal an verschiedenen geographischen Orten entstanden ist – auf den Inseln und in Mittelitalien. Dies unterstützt die polyphyletische Hypothese – die Annahme mehrfacher unabhängiger Ursprünge.
Zusammenspiel von Robertson’schen Translokationen und Hybridisierungsereignissen
Die Wissenschaftler konnten ferner zeigen, dass einige der in den Inselpopulationen beobachteten Karyotypen tatsächlich Produkte von Hybridisierungsereignissen sind, an denen Mäuse mit unterschiedlichen Robertson- oder Standard-Chromosomensätzen beteiligt waren. „Letztlich ist es dieses Wechselspiel zwischen der Fixierung neu gebildeter Robertson’scher Chromosomen und solchen Hybridisierungsereignissen, was die Verteilung der Karyotypen auf dem Liparischen Archipel geprägt hat“, schließt Paolo Franchini.
Ob diese genomischen Mutationen einen Einfluss auf die Phänotypen dieser Mauspopulationen haben, ist nach wie vor unbekannt. „Dies ist der nächste Schritt“, sagt Franchini. „Wir wissen, dass Mutationen in den meisten Fällen etwas bewirken. Einige Robertson’sche Translokationen sind in Europa sehr weit verbreitet, was darauf hindeutet, dass irgendeine Selektion zugunsten dieser Mutationen stattfinden könnte. Dies wiederum legt nahe, dass diese Mutationen sogar vorteilhaft sein könnten.“ Worin genau der Vorteil dieser Translokationen bestehen mag, bleibt jedoch eine offene und faszinierende Frage.
Faktenübersicht:
- Neue genomweite Studie wildlebender Hausmäuse (Mus musculus domesticus) in Süditalien weist darauf hin, dass eine bestimmte Art von Chromosomenrearrangements im großen Maßstab, als „Robertson’sche (Rb) Translokationen“ bezeichnet, eine aktive Rolle bei der Artbildung spielen.
- Durch Anwendung einer Reihe genetischer Ansätze konnten Forschende der Universität Konstanz, der Universität Harvard und der Universität La Sapienza in Rom die demographischen Muster und Verteilung der Karyotypen wildlebender Hausmäuse im Liparischen Archipel verfolgen.
- Originalveröffentlichung: Paolo Franchini, Andreas F. Kautt, Alexander Nater, Gloria Antonini, Riccardo Castiglia, Axel Meyer, Emanuela Solano, Reconstructing the evolutionary history of chromosomal races on islands: a genome-wide analysis of natural house mouse populations, Molecular Biology and Evolution, msaa118, 25. Mai 2020. DOI: https://doi.org/10.1093/molbev/msaa118
- Durch Konzentration auf drei gleichartige Chromosomenrearrangements, die in den Insel- und Festlandpopulationen gefunden wurden, konnten die Forschenden zeigen, dass – anders als bisher angenommen – umfangreiche Genmutationen häufiger als gedacht und unabhängig voneinander stattfinden.