Die Inquisition und die Bücher. Literarische Grenzüberschreitungen zwischen Europa und Amerika am Vorabend der mexikanischen Unabhängigkeit
Vortrag von Prof. Dr. Anne Kraume an der Karl-Franzens-Universität Graz, Mittwoch, 10. April 2024
Der neuspanische Dominikanermönch fray Servando Teresa de Mier (1763–1827) kann nicht nur als Wegbereiter der politischen Unabhängigkeit seines Heimatlandes gelten, sondern auch als einer der Begründer einer unabhängigen lateinamerikanischen Literatur. In seinen beiden Hauptwerken, nämlich der 1813 in London veröffentlichten, historiographisch orientierten Historia de la Revolución de Nueva España, antiguamente Anáhuac einerseits und den autobiographisch motivierten, zwischen 1817 und 1820 im Gefängnis der Inquisition in Mexiko-Stadt verfassten und erst lange nach dem Tod ihres Verfassers veröffentlichten sogenannten Memorias andererseits, greift Mier auf in der Alten Welt kanonisierte Gattungsmuster zurück, um mit unterschiedlichen Schwerpunkten die Geschichte einer Emanzipation zu erzählen: Während sich das historiographische Werk der Unabhängigkeit eines Kollektivs (nämlich der mexikanischen Nation) widmet, steht im Mittelpunkt des autobiographischen Werkes vor allem das Freiheitsstreben eines Individuums (nämlich des autobiographischen Ichs fray Servando Teresa de Mier). Dass die beiden umfangreichen Werke die Gattungstraditionen, in die sie sich einschreiben, nicht nur nachhaltig transformieren, sondern dass sie sie auch subvertieren, kann vor diesem Hintergrund als eine weitere Geste der (literarischen) Emanzipation verstanden werden, die nicht denkbar wäre ohne die vielfältigen Lektüren des Autors. Der Vortrag untersucht vor diesem Hintergrund am Beispiel fray Servando Teresa de Miers und seiner von der Inquisition inventarisierten Bibliothek die intellektuellen Austauschprozesse zwischen Europa und den Amerikas und deren Reichweite am Vorabend der Independencia.