Manfred Hensler, Abendgymnasium Konstanz: „Wir müssen diese Menschen als Chance begreifen, und wenn wir das tun, dann müssen wir aber auch diese Schnittstellen ganz anders auflegen“
Bildungswege: Wer könnte sich damit besser auskennen als Manfred Hensler? Der pensionierte und nach wie vor passionierte Lehrer und Schuldirektor führte 23 Jahre lang die Robert Gerwig Schule in Singen, hatte davon für die Dauer von neun Jahren zugleich geschäftsführende Leitung der beruflichen Schulen im Landkreis inne und ist noch über seine Rente hinaus als Leiter des Abendgymnasiums in Radolfzell tätig. Außerdem ist der vielseitig aktive Pädagoge im erweiterten Vorstand des Vereins „InSi e.V.“ („Integration in Singen“) und Mitglied des Konstanzer Beratungsgremiums „Internationales Forum“. Kein Wunder also, dass Manfred Hensler zum Thema bzw. den Themen der dreitätigen Veranstaltung besonders viel zu sagen hat: So war er nicht nur Mitglied der Vorbereitungskommission der „Bildungswege“, sondern beteiligte sich an Tag eins gemeinsam mit Birgit Ruf zugleich als Vortragender und war als einfacher Teilnehmer anwesend.
Feedback zur Veranstaltung
Sein Feedback zu den „Bildungswegen“? Schade sei gewesen, dass die „hochaktuellen Themen“, um die es durchweg gegangen sei, nicht noch mehr Teilnehmende angezogen hätten: „Es waren interessante und wichtige Leute da, aber nach meiner Einschätzung hätten alle drei Tage mehr Publikum verdient gehabt“, so Hensler. Doch nennt er auch einige Aspekte, die sich sehr positiv auf die Veranstaltungsreihe auswirkten: Zum einen sei der Rahmen sehr gut gewesen, von der Bewirtung bis hin zum Vorhandensein und der Funktionstüchtigkeit diverser Mediengeräte passte alles. Zum anderen hätten vor allem die Moderatorinnen der Veranstaltung, Dr. Kathrin Leipold und Beatrice Salamena, sehr gute Arbeit geleistet: sie seien sehr kompetent und feinfühlig aufgetreten und hätten sich nie in den Vordergrund gespielt, stattdessen den Expert*innen das Wort überlassen. Die durch die beiden auf den Weg gebrachte Nachbereitung und das damit verbundene Einholen von Feedback schätzt Manfred Hensler als hochprofessionell und vorbildlich ein.
VKL, VABO, VABO-E – kryptische Kürzel, die Wellen schlagen
Besonders den ersten Vortrag am Tag eins der Veranstaltung fand er, ebenso wie Veronika Schäfer, inspirierend: die schulische Aufwertung der (nicht-deutschen) Muttersprache hält Hensler wie auch die Vortragende für richtig und wichtig. Doch worum ging es genau in dem durch ihn und die Lehrerin Birgit Ruf gestalteten Beitrag? Dessen Titel, „Erfahrungen und Visionen für Übergänge an weiterführenden Schulen, Ausbildung oder Arbeit“, spricht für sich. Birgit Rufs Hauptanliegen waren dabei die sogenannten „VKL“, also „Vorbereitungsklassen“, welche zum Ziel haben, Schüler*innen mit nicht-deutscher Muttersprache – das heißt, vielfach mit Migrationshintergrund – an allgemeinbildenden Schulen auf den dortigen Regelunterricht vorzubereiten. Ihre Kritik: Der Übergang von den VKL, in denen sie selbst tätig ist, in den Regelunterricht gelinge vielfach nicht. Gründe dafür seien unter anderem fehlende Ressourcen: so könne eine angemessene Begleitung und Unterstützung einzelner Schüler*innen nicht gewährleistet werden.
Manfred Hensler konzentrierte sich im Vortrag auf einen weiteren „Integrations-Baustein“ des baden-württembergischen Schulsystems, die VABO- bzw. VABO-E-Klassen. „VABO“ steht für „Vorqualifizierungsjahr Arbeit/Beruf mit Schwerpunkt Erwerb von Deutschkenntnissen“. Es soll Jugendlichen mit Migrationsgeschichte an beruflichen Schulen ermöglichen, innerhalb eines Jahres das Sprachniveau A2 in Deutsch zu erreichen. VABO-E-Klassen hingegen richten sich an Erwachsene mit Migrationsgeschichte, die außerhalb des regulären Schulsystems innerhalb eines Jahres einen deutschen Hauptschulabschluss nachholen möchten. Mit VABO und VABO-E sollen jugendliche und erwachsene Geflüchtete also in kürzester Zeit fit für den deutschen Ausbildungs- bzw. Arbeitsmarkt gemacht werden.
An sich scheint das eine gute Idee, die das Potenzial birgt, im Ergebnis zu einer Win-win-Situation zu führen. So hat auch Manfred Hensler während seiner Tätigkeit als Sprecher der beruflichen Schulen im Landkreis Konstanz flächendeckend VABO-Klassen eingeführt. Doch zeigt die Erfahrung des Lehrers und Schulleiters, dass das Konzept in vieler Hinsicht noch nicht perfekt ist und Verbesserung bedarf. Vor allem junge Frauen seien oft damit konfrontiert, dass ihr im Rahmen der VABO-E- Klasse erlangte Hauptschulabschluss nicht ausreicht, um den Bildungsweg ihrer Wahl zu beschreiten: für die Zulassung zu vielen Ausbildungen ist ein Realschulabschluss zwingende Voraussetzung. Als Konsequenz bewirbt Hensler als „fehlendes Glied in der Kette“ eine sogenannte „VABO-M“-Klasse, also ein Vorqualifizierungsjahr mit dem Ziel des Erwerbs der mittleren Reife. Zwar ist das Konzept schon ausgearbeitet, doch bemühen sich Hensler und seine Mitstreiter*innen aktuell noch um die Zulassung bzw. Finanzierung.
Ein weiteres Problem ist in den Augen des pensionierten Schulleiters, dass es 40-50% der Schüler*innen der VABO-Klassen jedes Jahr nicht gelingt, das Sprachniveau A2 zu erreichen. In solchen fällen ist die Regel, dass die betroffenen Personen das Schuljahr wiederholen. Aus der Außenperspektive scheint das zunächst kein großes Problem zu sein. Doch entstehe so in der Wahrnehmung der jungen Menschen das Gefühl einer ständigen Niederlage, welches dem Lernfortschritt im Wege stehe. Viel sinnvoller sei es, so Hensler, als Alternative zu der einjährigen VABO-Klasse zusätzlich ein zweijähriges Programm anzubieten: dieses würde die Lerninhalte auf ein weiteres Jahr strecken und sich mittels eines erhöhten Praxisanteils stärker an die Situation der Schüler*innen, deren Schwierigkeit häufig die das Lernen der Theorie ist, anpassen. Und, ein Zwischenerfolg: Nach langem und intensivem Engagement wurde das Konzept schließlich seitens der Schulaufsichtsbehörde zugelassen; ab 2023 können tatsächlich zweijährige VABO-Klassen angeboten werden.
Gedämpft wird die Freude über diese Errungenschaft leider durch den traurigen Umstand, dass 2022 im Landkreis Konstanz keine VABO-Klasse zustande kam. Den Grund hierfür sieht Hensler jedoch keinesfalls in der potentiellen Attraktivität des VABO-Konzepts, sondern vielmehr bei den Job- und Beratungscentern: Dort sei die Investitionsbereitschaft – „VABO“ ist teuer – oft nicht in ausreichendem Maß vorhanden und es herrsche stattdessen die Mentalität vor, dass „die Leute halt arbeiten sollen“. Wolle man aktiv zu einer gelingenden Integration der Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland beitragen und außerdem der aktuellen Situation des Fachkräftemangels begegnen, sei eine solche Haltung kurzsichtig und ergebe kaum Sinn. Dazu äußert sich Manfred Hensler ganz konkret:
„Die Diskussion [ist] wieder heftiger angesichts der hohen Zahlen von geflüchteten Menschen: können wir das leisten, können wir diese Menschen integrieren, werden wir hier scheitern, schaffen wir das, schaffen wir das nicht – ich denke, und da bin ich nicht allein: wir müssen diese Menschen als Chance begreifen, und wenn wir das tun, dann müssen wir aber auch diese Schnittstellen ganz anders auflegen, dann müssen wir – wenn wir das Thema Fachkräftemangel auf der anderen Seite hier sehen – noch sehr viel mehr Anstrengungen hier bringen, um diese Übergänge klarer zu gestalten, ja. Wir schaffen das, wenn uns die Integration in den Arbeits- und Ausbildungsmarkt gelingt, ganz einfach. Wenn uns das nicht gelingt, dann schaffen wir das auch nicht. Das ist die ganz schlichte Wahrheit, die man auch noch sehr viel stärker realisieren müsste in der Politik.“
Wie kann es weitergehen?
Doch zurück von den praktischen Bildungswegen hin zur gleichnamigen, dreitätigen Veranstaltung. Nun, nach deren offiziellem Ende, stellt sich die Frage: Wie könnte eine mögliche Fortsetzung aussehen, bzw. wie verlaufen wichtige Ergebnisse nicht im Sande? Manfred Hensler hat hier ein paar sehr konkrete Ideen.
So referiert er auf die sogenannten „Fachkräfteallianzen“, die in einigen Landkreisen Baden-Württembergs existieren. „Eine Fachkräfteallianz heißt, dass sich die maßgeblichen Akteure an dieser Schnittstelle, ich sage jetzt mal: Schule und Ausbildung, im Grunde Gedanken machen: Wie kann man diese Schnittstelle verbessern?“ erklärt der pensionierte Schulleiter. Auch der Landkreis Konstanz verfügte über diese Instanz; doch wurde sie vor einigen Jahren aus Kostengründen eingestampft. Das sei insbesondere deshalb schade, weil eine „Fachkräfteallianz“ das Potenzial birgt, Lösungsansätze für zahlreiche Probleme wie beispielsweise den aktuell gravierenden Mangel an Auszubildenden in allen Bereichen zu entwickeln. Aus Henslers Perspektive orientierte sich die dreitätige Veranstaltung „Bildungswege“, was Themen und auch die versammelten Akteur*innen betrifft, in eine sehr ähnliche Richtung wie die frühere Konstanzer Fachkräfteallianz. Könnten die Bildungswege womöglich langfristig deren Erbe antreten? Um sich tatsächlich als Nachfolgeprojekt verstehen zu können, bräuchte es allerdings, so Manfred Hensler, noch mehr „Stoßkraft“: das heißt, vor allem mehr Interesse und Beteiligung seitens der Politik. So könnten Projektideen, die im Rahmen einer Veranstaltung wie der der Bildungswege entwickelt würden, möglicherweise eine größere Wirksamkeit entfalten, die entstandenen Visionen mehr politische Beachtung finden. Zwar wären auch bei der vergangenen Veranstaltung politische Akteur*innen im Rahmen einer Podiumsdiskussion am dritten Tag durchaus beteiligt gewesen; allerdings müsste diese Beteiligung noch ausgeweitet werden, um sicherstellen zu können, dass inhaltliche Ergebnisse auch tatsächliche politische Tragkraft entfalten.
Weitere Zutaten, die laut Hensler für die Fortsetzung der Bildungswege als Fachkräfteallianz förderlich bis unabdingbar wären, sind eine gewisse Regelmäßigkeit der Veranstaltungen bzw. Zusammenkünfte von Akteur*innen sowie, falls möglich, externes Sponsoring. Letzteres würde gewährleisten, dass die theoretisch mögliche Umsetzung konkreter Projektvorschläge, die im Zuge der Treffen aufkommen, von vorneherein abgesichert wäre.
Alles in allem wird deutlich, dass der Manfred Hensler in der Veranstaltungsreihe der Bildungswege vor allem eines wahrnimmt: sehr viel Potenzial. Diese Rückmeldung von jemandem, der so viel Erfahrung in diversen Schnittstellen-Bereichen mitbringt, ist natürlich äußerst vielversprechend.