Wir trauern um unseren Kollegen, Weggefährten und Freund Prof. Dr. Boris Barth (09.10.1961 – 04.09.2023). Die Historikerinnen und Historiker der Universität Konstanz.
Ein Nachruf von Prof. em. Jürgen Osterhammel.
Boris Barth
Am 4. September 2023 verstarb in Berlin Prof. Dr. Boris Barth, der in Konstanz viele Jahre lang als Forscher und Lehrer im Bereich der neueren und neuesten Geschichte tätig war.
Boris Barth, geboren am 9. Oktober 1961 in Duisburg, studierte an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf im Hauptfach Geschichte und war dort von Oktober 1990 bis November 1995 als Wissenschaftlicher Angestellter am Historischen Seminar II tätig. Barths wichtigster Lehrer und späterer Chef und Doktorvater war Wolfgang J. Mommsen (1930-2004), der nach seiner Amtszeit als Direktor des Deutschen Historischen Instituts London (1977-1985) auf seinen Düsseldorfer Lehrstuhl zurückgekehrt war. Mommsen, eine charismatische Persönlichkeit, wie man sie schon damals in den deutschen Geisteswissenschaften nur noch selten fand, scharte in Düsseldorf einen Kreis von brillanten Nachwuchskräften um sich, von denen viele später auf Professuren und einflussreiche Positionen im deutschen Kulturbetrieb gelangten. Zu den hellsten Köpfen der späten Mommsen-Ära gehörte Boris Barth.
Aus dem breiten Spektrum von Mommsens Interessen suchte Barth sich das Themenfeld des Imperialismus aus, das in der Mommsen-Schule in gesamteuropäischer Breite bearbeitet wurde. Boris Barths Dissertationsthema war der deutsche Finanzimperialismus vor 1914, ein absolut zentraler Forschungsgegenstand, um den bis dahin ein großer Bogen gemacht worden war, weil es sehr spezieller finanztechnischer Kenntnisse bedarf, um die Quellen zu verstehen, die man in Bankarchiven findet. Barth besaß diese Kenntnisse und noch dazu eine entwickelte Fähigkeit zur außenpolitischen Analyse. Das Ergebnis war eine 1993 mit „summa cum laude“ angenommene Dissertation, die zwei Jahre später in den renommierten „Beiträgen zur Kolonial- und Überseegeschichte“ des Verlags Franz Steiner erschien. Dieser umfangreiche Band – Die Deutsche Hochfinanz und die Imperialismen. Banken und Außenpolitik vor 1914 – gilt bis heute unter deutschen wie internationalen Fachleuten als unübertroffenes Standardwerk zum Finanzimperialismus. Da Barth stets im Sinne seines Lehrers den gesamteuropäischen Kontext im Auge behielt, besitzt dieses Buch, das leider nie übersetzt wurde, eine Bedeutung, die sich nicht im deutschen Fall erschöpft. Barth hat später das Thema in mehreren Aufsätzen, die über die Dissertation hinausführen, weiter ausgearbeitet. Auch mit der Geschichte des Versicherungswesens hat er sich eingehend und auf archivalischer Grundlage beschäftigt.
Nach einer dreijährigen Gastdozentur an der Karls-Universität zu Prag (1996-1999) kam Boris Barth Anfang 2000 nach Konstanz. Im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 485 „Norm und Symbol“ widmete er sich dort auf der Basis umfangreicher Materialien, die er teilweise bereits gesammelt hatte, einer kulturgeschichtlichen Kontextualisierung der Dolchstoßlegende. Barth blieb immer Politik- und Wirtschaftshistoriker (mit großen Kenntnissen auch der Geschichte des ökonomischen Denkens), öffnete sich aber in Konstanz für kulturwissenschaftliche Ansätze und vor allem für eine bei ihm neue biographische Arbeitsweise. Eine immense Zahl von Publikationen und Nachlässen von Professoren und Pfarrern, Journalisten und Schriftstellern, Bürokraten und Militärs wurde daraufhin befragt, was die Dolchstoßlegende, an denen diese Leute strickten und an die sie glaubten, jeweils „bedeutete“. Als analytisches Werkzeug entwickelte Barth das Konzept der „Ordnungsschemata“, das es ermöglichte, die Dolchstoßlegende in ihren verschiedenen Varianten in größere Weltbilder einzubetten. Bereits im November 2002 wurde das umfangreiche Manuskript einer Habilitationsschrift an der Universität Konstanz angenommen; die Antrittsvorlesung fand dann 19. Mai 2003 statt. Noch im selben Jahr erschien die Arbeit unter dem Titel Dolchstoßlegenden und politische Desintegration. Das Trauma der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg 1914–1933 als Band 61 der „Schriften des Bundesarchivs“, einer der im Fach am höchsten anerkannten Schriftenreihen.
In den folgenden Jahren blieb Boris Barth der Universität Konstanz in unterschiedlichen Funktionen verbunden. Aufgrund seiner außerordentlichen wissenschaftlichen Leistungen wurde er bereits im Juli 2005 zum außerplanmäßigen Professor ernannt. Auf die Vertretung einer Assistentenstelle im Arbeitsbereich „Neuere und neueste Geschichte“ (2003-5) folgte dort eine Lehrstuhlvertretung. Spätere Vertretungen führten Barth zweimal an die Universität Düsseldorf zurück. Von 2008 bis 2010 folgte eine Tätigkeit als Visiting Professor an der Jacobs University in Bremen. 2010 kehrte Boris Barth zu seinem längsten kontinuierlichen Aufenthalt an den Konstanzer Fachbereich „Geschichte und Soziologie“ zurück, als er die Aufgabe eines „Ergänzungsprofessors“ mit vollem Lehrdeputat übernahm, die im Zuge der Verleihung des Leibnizpreises 2010 an Jürgen Osterhammel geschaffen worden war; zugleich war Barth permanentes Mitglied der Forschergruppe „Globale Prozesse, 18.–20. Jahrhundert“. Von dieser Position wechselte er im Herbst 2016, nunmehr als DAAD-Professor, zurück an die Karls-Universität in Prag, die er bereits gut kannte. Dort war er am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte tätig und sah seine Aufgabe unter anderem darin, Lehre und Forschung zu europäisieren.
Das Themenspektrum seiner Publikationen erweiterte Boris Barth stetig. Als Mitherausgeber verantwortete er 2005 den Sammelband Zivilisierungsmissionen. Imperiale Weltverbesserung seit dem 18. Jahrhundert (Konstanz: UVK) – ein Thema, auf das er später in Zusammenarbeit mit seinem norwegischen Kollegen und Freund Rolf Hobson zurückkam (Civilizing Missions in the Twentieth Century, Leiden: Brill, 2020). Ein altes Interesse an Rassismus und Genozid – dem Thema zahlreicher seiner Lehrveranstaltungen – führte 2006 zu der Monographie Genozid: Völkermord im 20. Jahrhundert. Geschichte, Theorien, Kontroversen (München: C.H. Beck), in der er, diesmal in rezeptionsfreundlicher Kürze, ein höchst komplexes Themenfeld mit vorbildlicher Klarheit und begrifflicher Präzision ordnete. Angesichts der kulturkämpferischen Erhitzung der Debatte hat dieses besonnene Buch nichts an Wert verloren. Boris Barths letztes Buch Europa nach dem Großen Krieg. Die Krise der Demokratie in der Zwischenkriegszeit 1918–1938 (Frankfurt a.M./New York: Campus Verlag) reflektiert seine Prager Erfahrungen, indem es den „peripheren“ europäischen Ländern einen größeren Raum innerhalb eines epochalen Gesamtbildes einräumt, als dies in einer auf die Großmächte fixierten Historiographie zumeist geschieht. Auch dieses Buch wird wegen der Fülle seiner interpretierenden Einsichten auch in Zukunft breit konsultiert werden. Zuletzt war ein vergleichendes Werk über Revolutionen im 20. Jahrhundert in Arbeit.
Boris Barth war einer der vielseitigsten Historiker seiner Generation. Er war unglaublich belesen und ein ebenso kundiger wie urteilsstarker Gesprächspartner auch bei Themen, über die er niemals etwas veröffentlichte. Er kannte sich in russischer, nahöstlicher und lateinamerikanischer Geschichte aus und war gegen Ende seiner Konstanzer Zeit engagiert mit dem Thema „religiöse Gewalt“ beschäftigt.
In Kolloquien, Vortragsveranstaltungen und Tagungsdiskussionen stellte er mit großer Verlässlichkeit eine außerordentliche Fähigkeit unter Beweis, die er möglicherweise seinem prägenden Lehrer Wolfgang J. Mommsen abgeschaut hatte: mit größtmöglicher Präzision die entscheidende Schwachstelle eines Gedankengangs aufzuspüren. Boris Barth hielt keine Korreferate und stellte nicht die Standardfragen nach „Quellenbasis“ und theoretischen Grundüberzeugungen. Akademische Moden und Sprechkonventionen interessierten ihn nicht, kalkulierte Selbstdarstellung war ihm fremd. Sein Fragestil war eher der eines jovialen Untersuchungsrichters, der den Dingen auf den Grund gehen will, ohne sein Gegenüber inquisitorisch zu bedrängen oder gar bloßzustellen. Der gelernte Diplomatiehistoriker war nicht immer diplomatisch. Es ging ihm – und über den großen Max-Weber-Forscher Mommsen führt dies in gerader Linie auf ein Webersches Ethos zurück – vor allem anderen um Sachlichkeit.
Als Lehrer war Boris Barth eine Sonderbegabung. Das merkte man schon, wenn man gemeinsam mit ihm Prüfungen abnahm. Was in Seminarräumen und Hörsälen geschieht, entzieht sich zum allergrößten Teil dem Einblick eines Kollegen. Doch man hört gelegentlich eine studentische Stimme. Boris Barth hatte einen Fan-Club, auch unter Seniorstudierenden. Seine Vorlesungen waren von legendärer Anschaulichkeit. Bei hohen Ansprüchen flößte er keine Furcht ein, regte eher an, ermutigte, behielt die Verwendung und Verwendbarkeit historischen Wissens im Blick, in der Schule und anderswo. Mehrere Schulbücher von ihm sind bundesweit im Gebrauch. Die Konstanzer Kolleginnen und Kollegen, die ihn kannten, gedenken seiner mit Respekt und Dankbarkeit. Und weit verstreut gibt es viele junge Leute, die niemals erfahren werden, wem sie ihren guten Geschichtsunterricht (mit-) verdanken: dem Lehrer ihrer Lehrer Boris Barth.
Jürgen Osterhammel