Der südamerikanische Lungenfisch hat einen aalartigen bräunlichgefärbten Körper und einen schlangenartigen, gelb-gepunkteten Kopf.
Südamerikanischer Lungenfisch (Lepidosiren paradoxa). © Katherine Seghers, Louisiana State University

Das größte Genom aller Tiere entschlüsselt

Dreißigmal so groß wie das des Menschen: Ein internationales Forschungsteam um den Konstanzer Evolutionsbiologen Axel Meyer und den Würzburger Biochemiker Manfred Schartl sequenzierte die größten Genome aller Tiere – die von Lungenfischen. Die Daten werden helfen zu ergründen, wie dem Vorfahren der heutigen Landwirbeltiere die Eroberung des Festlands gelang.

Reisen wir zurück durch die Zeit! Wir befinden uns im Zeitalter „Devon“, vor etwa 420-360 Millionen Jahren. In einem flachen Uferbereich passierte etwas, was das Leben auf unserem Planeten für immer verändern würde: Ein Fisch aus der Gruppe der Fleischflosser nutzt seine kräftigen, paarig an den Seiten angelegten Flossen, um sich aus dem flachen Wasser heraus an Land zu ziehen und seinen Körper über den schlammigen Uferboden zu bewegen. Dabei hat er keine Eile, ins Wasser zurückzukehren. Er kann problemlos an der Luft verweilen, denn dieser Fisch hat bereits Lungen – wie wir Landwirbeltiere heute noch.

So oder so ähnlich könnte er sich abgespielt haben, der erste Landgang eines Wirbeltiers – und damit eines der wichtigsten Ereignisse der Evolution. Denn auf einen Fisch gehen alle späteren Landwirbeltiere zurück – die sogenannten Vierfüßer (Tetrapoden). Dazu gehören neben Amphibien, Reptilien und Vögeln auch die Säugetiere einschließlich des Menschen. Doch ein Rätsel bleibt: Wie kam es, dass die Fische der Linie der Fleischflosser mit ihren Eigenschaften so gut auf die Eroberung des Festlandes vorbereitet waren?

Ein Blick auf die lebenden Verwandten
Um der Lösung dieses Rätsels nach all der Zeit auf die Spur kommen zu können, wurde nun das Erbmaterial der nächsten heute noch vorkommenden Verwandten unseres Vorfahren aus dem Devon analysiert, um damit Rückschlüsse auf dessen Äußeres zu ziehen. Nur drei Linien dieser nächsten Verwandten – der Lungenfische – leben heute noch: eine in Afrika, eine in Südamerika und eine in Australien. Die Evolution scheint sie vergessen zu haben, denn diese uralten „lebenden Fossilien“, sie sehen weitestgehend immer noch so aus wie ihre Vorfahren. Da unser Erbmaterial, die DNA, aus Nukleinbasen aufgebaut ist, in deren Reihenfolge die eigentliche genetische Information steckt, wird für eine vergleichende Analyse der Lungenfischgenome Kenntnis über deren vollständige Sequenzen benötigt.

Es war bereits bekannt, dass die Genome der Lungenfische riesig sind, doch wie gigantisch sie wirklich sind und was sich aus ihnen alles lernen lässt, war bisher nicht klar. Entsprechend war die Sequenzierung der Lungenfischgenome technisch und bioinformatisch sehr aufwändig und kompliziert. Einem internationalen Forschungsteam unter Leitung des Konstanzer Biologen Axel Meyer und des Würzburger Biochemikers Manfred Schartl ist es nun jedoch gelungen, das Erbgut des Südamerikanischen Lungenfisches und das eines afrikanischen Vertreters vollständig zu sequenzieren. Die bis dahin größte Genomsequenz des einzigen australischen Vertreters (Neoceratodus) war bereits zuvor vom gleichen Team sequenziert worden. Die Ergebnisse der aktuellen Arbeit wurden in der Fachzeitschrift Nature veröffentlicht.

Sehr, sehr groß – aber warum?
Insbesondere das Erbmaterial des Südamerikanischen Lungenfisches bricht in Sachen Größe alle Rekorde: „Die DNA des südamerikanischen Vertreters ist mit über 90 Gigabasen (also 90 Milliarden Basen) das größte aller Tiergenome und mehr als doppelt so groß wie das Genom des bisherigen Rekordhalters, des Australischen Lungenfisches. 18 der 19 Chromosomen des Südamerikanischen Lungenfisches sind allein jeweils größer als das gesamte menschliche Genom mit seinen knapp drei Milliarden Basen“, sagt Meyer. Verantwortlich dafür, dass das Lungenfischgenom im Laufe der Zeit auf diese enorme Größe angewachsen ist, sind sogenannte autonome Transposons. Das sind DNA-Abschnitte, die sich „vermehren“ und dann ihre Position im Genom verändern – was wiederum das Genom wachsen lässt.

Das passiert zwar auch in anderen Organismen, die Analysen des Forschungsteams haben allerdings ergeben, dass die Expansionsrate des Genoms des Südamerikanischen Lungenfisches die mit Abstand schnellste bekannte ist: Alle zehn Millionen Jahre ist sein Genom in der Vergangenheit um die Größe des gesamten menschlichen Genoms gewachsen. „Und es wächst weiter“, berichtet Meyer. „Wir haben Belege dafür gefunden, dass die verantwortlichen Transposons noch immer aktiv sind.“ Sie fanden auch den Mechanismus für dieses gigantische Genomwachstum heraus: Die extreme Expansion ist zumindest teilweise auf sehr niedrige piRNA-Konzentrationen zurückzuführen. Dieser RNA-Typ ist Teil eines molekularen Mechanismus, der die Ausbreitung von Transposons normalerweise begrenzt.

Trotz allem erstaunlich stabil
Dadurch, dass Transposons sich vermehren, im Genom herumspringen und so zu dessen Wachstum beitragen, können sie das Erbgut eines Organismus stark verändern und destabilisieren. Das ist nicht immer nachteilig und kann sogar eine wichtige Triebkraft von Evolution sein. Denn manchmal verursachen diese „springenden Gene“ auch evolutionäre Innovationen, weil sie Veränderung von Genfunktionen verursachen können. Umso erstaunlicher ist, dass in der aktuellen Studie kein Zusammenhang zwischen dem enormen Transposon-Überschuss und der Genom-Instabilität gefunden wurde – das Genom der Lungenfische ist also unerwartet stabil und die Genanordnung erstaunlich konservativ. Diese Tatsache erlaubte es dem Forschungsteam, aus den Sequenzen der heute noch lebenden Lungenfischarten die ursprüngliche Architektur des Chromosomensatzes (Karyotyp) des Ur-Tetrapoden zu rekonstruieren.

Zusätzlich ermöglichte ihnen der Vergleich der Lungenfischgenome Rückschlüsse auf die genetische Basis von Unterschieden zwischen den noch heute lebenden Vertretern. Der Australische Lungenfisch besitzt beispielsweise noch die gliedmaßenähnlichen Flossen, die es seinen Verwandten einst erlaubten, sich an Land zu bewegen. Bei den anderen heutigen Lungenfischvertretern aus Afrika und Südamerika haben sich diese im Knochenbau unseren Armen ähnlichen Flossen im Laufe der letzten ca. 100 Millionen Jahre sekundär zu fadenförmigen Flossen zurückentwickelt. „Wir konnten in unserer Studie auch anhand von Versuchen mit CRISPR-Cas transgenen Mäusen aufdecken, dass diese Vereinfachung der Flossen auf eine Veränderung des sogenannten shh-Signalweges zurückgeht“, sagt Meyer.

Während der Embryonalentwicklung von Mäusen beispielsweise steuert der shh-Signalweg unter anderem die Anzahl und Entwicklung der Finger. Die Studienergebnisse liefern somit einen zusätzlichen Beleg für den evolutiven Zusammenhang zwischen den Flossenstrahlen der Knochenfische und den Fingern von Landwirbeltieren. Da der Wissenschaft dank der neuen Studie nun die vollständigen Genomsequenzen aller heutigen Lungenfischfamilien zur Verfügung stehen, werden genetische Vergleichsstudien wie diese in Zukunft weitere Aufschlüsse über die fleischflossigen Vorfahren der Landwirbeltiere ermöglichen – und so dabei helfen, das Rätsel um den Landgang der Wirbeltiere zu lösen.

Faktenübersicht:

  • Originalpublikation: Manfred Schartl, Joost M. Woltering, Iker Irisarri et al. & Axel Meyer (2024) The genomes of all lungfish inform on genome expansion and tetrapod evolution. Nature; doi: 10.1038/s41586-024-07830-1
  • Ein internationales Forschungsteam um den Konstanzer Biologen Axel Meyer und den Würzburger Biochemiker Manfred Schartl sequenziert das bisher größte tierische Genom.
  • Weitere an der Studie beteiligte Einrichtungen neben der Universität Konstanz und der Universität Würzburg:
    • Leibniz-Institut zur Analyse des Biodiversitätswandels (Deutschland)
    • Texas State University (USA)
    • Max-Planck-Institut für molekulare Zellbiologie und Genetik (Deutschland)
    • Louisiana State University (USA)
    • University of California, Irvine (USA)
    • Universidade Federal do Pará (Brasilien)
    • Universität Hamburg (Deutschland)
    • Université de Bordeaux (Frankreich)
    • Uppsala University (Schweden)
    • Universität Wien (Österreich)
  • Interviewkontakte:
  • Förderung: Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) und Next Generation Sequencing Kompetenznetzwerk (NGS-CN)