Nicht blind folgen: Wie Menschen von anderen lernen
Wenn wir Entscheidungen treffen, lassen wir uns häufig von den Meinungen und Erfahrungen unserer Mitmenschen leiten. Dabei unterscheiden sich unsere Präferenzen, Geschmäcker und Ziele oft. Ein internationales Forschungsteam unter Leitung der Universitäten Tübingen und Konstanz ging der Frage auf den Grund, wie wir trotz individueller Unterschiede von anderen lernen. Sie fanden heraus, dass wir Menschen Informationen von anderen eher als eine Empfehlung betrachten – aber mit einer gewissen Skepsis. Außerdem nutzen wir sie dazu, uns kostspieliges Ausprobieren zu sparen. Die Ergebnisse eröffnen neue Wege, um ähnliche Prinzipien des Lernens in die künstliche Intelligenz (KI) einzubeziehen.
Stellen Sie sich vor, Sie sind zum ersten Mal in einer neuen Stadt und es ist Zeit für ein Abendessen. Wie wählen Sie ein Restaurant aus? Sie könnten einfach im Internet nach Bewertungen suchen und das Restaurant mit der besten Bewertung nehmen. Aber wie können Sie sicher sein, dass die Leute, die die Bewertungen geschrieben haben, Ihre Essensvorlieben, Ihre Gewürztoleranz oder Ihr Budget teilen? Und wie gelingt es Menschen im Allgemeinen, von anderen zu lernen, wenn die Vorlieben von Person zu Person so unterschiedlich sein können?
Wie wir Informationen von unseren Mitmenschen nutzen
Bislang lag der Fokus der Forschung darauf, wie Menschen voneinander lernen können, wenn alle die gleichen Ziele und Vorlieben haben. Im Alltag ist das jedoch selten der Fall. Die neue Studie, die jetzt in der Fachzeitschrift Proceedings of the National Academy of Sciences (PNAS) veröffentlicht wurde, schließt diese Forschungslücke. Sie untersucht, wie Menschen soziale Informationen nutzen, um Entscheidungen zu treffen, wenn ihre Präferenzen nicht perfekt mit denen ihrer Mitmenschen übereinstimmen. Die Forschungsarbeit wurde von WissenschaftlerInnen zweier Exzellenzcluster – dem Cluster Maschinelles Lernen der Universität Tübingen und dem Cluster Kollektives Verhalten der Universität Konstanz – gemeinsam mit Kollegen des RIKEN (Japan) und der Universität St Andrews (Großbritannien) durchgeführt.
Für ihre Untersuchungen entwickelten die ForscherInnen ein Online-Experiment, das einem Computerspiel ähnelt. Das Spiel war Entscheidungssituationen im Alltag nachempfunden. Je vier Teilnehmende mussten eine Aufgabe bewältigen. Ihre jeweiligen Ziele ähnelten sich zwar, wiesen aber doch gewisse individuelle Unterschiede auf. Während des Experiments konnten die Teilnehmenden sehen, wie ihre MitspielerInnen sich verhielten und vorankamen.
Soziale Informationen dienen als Entscheidungshilfe
Die Ergebnisse zeigen, dass Menschen sogar in diesem Setting soziale Informationen als Entscheidungshilfe nutzen, allerdings nicht blind. In dem Experiment behandelten sie soziale Informationen zwar als weniger zuverlässig als Informationen, die sie selbst gesammelt hatten, passten diese aber flexibel an ihre eigene Situation an. Um dieses Phänomen zu erklären, führten die Forschenden ein neues Modell der sozialen Generalisierung ein, das eine Reihe anderer Modelle aus früheren Theorien bei der Vorhersage von Verhalten übertraf. „Im Gegensatz zu Modellen aus der bisherigen Literatur erklärt unser Modell der sozialen Generalisierung, wie Menschen soziale Informationen mit individuellen Informationen kombinieren können, anstatt blind zu imitieren”, erklärt Alexandra Witt, Doktorandin an der Universität Tübingen und Erstautorin der Studie.
Mithilfe des Modells zeigten die Forschenden, dass Menschen soziale Informationen als Erkundungsinstrument nutzen. Dinge selbst auszuprobieren und zu durchdenken, kann sowohl kognitiv als auch mit Blick auf das Risiko kostspielig sein. Wenn Informationen von Mitmenschen zur Verfügung standen, verließen sich die Teilnehmenden auf sie, um ihre Entscheidungen zu treffen, und ersparten sich so den kostspieligen individuellen Erkundungsprozess. „Die grundlegende Idee, dass soziales Lernen als Instrument genutzt werden kann, um Erkundungen zu steuern, ist nicht neu“, sagt Wataru Toyokawa, Mitautor der Studie an der Universität Konstanz und nun Gruppenleiter am RIKEN. „Aber das, was wir herausgefunden haben, stützt nicht nur die Idee an sich. Wir können die Theorie jetzt auf den Fall diverser, heterogener menschlicher Gesellschaften ausweiten.“
Was bedeutet das für die weitere Forschung?
„Obwohl die jüngsten Fortschritte die Leistungsfähigkeit der künstlichen Intelligenz (KI) unter Beweis gestellt haben, tut sie sich immer noch schwer damit, in ähnlichem Maße sozial zu lernen wie der Mensch“, sagt Charley Wu, Leiter des Human and Machine Cognition Lab an der Universität Tübingen und einer der Hauptautoren der Studie. „Unsere besondere Fähigkeit zum sozialen und kulturellen Lernen hat eine Schlüsselrolle für den Erfolg der menschlichen Spezies gespielt. Mit einem besseren Verständnis für soziales Lernen im Menschen könnten wir ähnliche Prinzipien in die künstliche Intelligenz einbeziehen, um Systeme zu entwickeln, die menschliches Verhalten besser verstehen und nachahmen, beispielsweise in virtuellen Assistenten oder Empfehlungsalgorithmen.“ Letztlich ist soziales Lernen eines der mächtigsten Werkzeuge des Menschen, und diese Forschung bringt uns dem Verständnis dieser beeindruckenden Fähigkeit näher.