Grüner Wahlzettel

Wagenknechts Kritik in der Analyse

Haben sich die linken Parteien in Deutschland von ihrer traditionellen Agenda entfremdet? Ein Forschungsteam unter Leitung des Konstanzer Politikwissenschaftlers Alexander Horn überprüfte diese These anhand der Wahlprogramme seit 1970.

Die Gründung des Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) fußt auf der Prämisse, dass die linken Parteien in Deutschland sich von ihrer traditionellen Agenda entfernt und zu einem progressiven Neoliberalismus entwickelt hätten, den das BSW mit dem Begriff der „Lifestyle-Linken“ kritisiert. Ein Forschungsteam unter Leitung des Politikwissenschaftlers Alexander Horn vom Exzellenzcluster „The Politics of Inequality“ der Universität Konstanz überprüfte nun diese These in einer Studie. Die Forscher untersuchten dabei, welchen Anteil die Themen Gleichheit, Antidiskriminierung und Ostdeutschland in den Wahlprogrammen der SPD, der Grünen und der Linken seit den 1970er-Jahren hatten. Ihre Studie zeigt, dass die Darstellung in Sahra Wagenknechts Buch „Die Selbstgerechten“ nur teilweise zutrifft. Auch wenn über die Jahre hinweg teils Schwankungen in der Schwerpunktsetzung der Parteiprogramme zu sehen seien, könne nicht von einer Abkehr von den traditionellen Themen die Rede sein. „Zusammenfassend warnen wir vor der pauschalen Behauptung, die linken Parteien in Deutschland hätten sich zu einer ‚Lifestyle-Linken‘ entwickelt“, gibt Alexander Horn sein Fazit.

Ergebnisse der Studie
Die Ergebnisse der Studie wurden als Working Paper online veröffentlicht. Die wesentlichsten Befunde sind im Folgenden zusammengefasst. Bei der Analyse der Wahlprogramme seit 1970 nahm die Studie einerseits die Themenbereiche Gleichheit und Umverteilung, andererseits Antidiskriminierung von Frauen und Minderheiten in den Fokus.

SPD: Wiederentdeckung der ökonomischen Gleichheit
Das Forschungsteam sieht in den Wahlprogrammen der SPD seit den 1970er-Jahren durchaus Veränderungen in der Schwerpunktsetzung, aber eine Rückbesinnung auf klassische Themen seit 2017: „Die SPD hat das Thema ökonomische Gleichheit der Studie zufolge tatsächlich seit den 1970ern zusehends aus den Augen verloren, wie Sozialdemokraten generell weltweit im Zuge des sogenannten ‚Dritten Weges‘“, schildert Alexander Horn. „Im Gegenzug gab es mehr Betonung von Antidiskriminierung und gleichen Rechten“. Ab 2017 habe die SPD das Thema ökonomische Gleichheit dann aber wiederentdeckt, sodass es auch wieder verstärkt in den Wahlprogrammen verankert sei.

Alexander Horn erläutert: „Unsere Daten zeigen, dass sich im Jahr 1972 noch 55% der Sätze zu Gleichheit in SPD-Wahlprogrammen den Themenkategorien ökonomische Gleichheit und Umverteilung zuordnen lassen. Im Jahr 2013 sank der Wert auf einen Tiefpunkt von 21%, danach stieg er wieder an: 2017 lag er bei 28%, 2021 bei 42%.“ Eine umgekehrte Entwicklung sei beim Themenbereich Antidiskriminierung zu beobachten: „Gleiche Rechte und Antidiskriminierung machten derweil 1972 zur ersten von uns erhobenen Wahl nur 14% der Sätze zu Gleichheit aus, 2013 aber bereits 34%. Im Jahr 2017 waren es 38%, 2021 schließlich ein Rückgang auf 26%.“

Grüne: gleichbleibende Priorisierung
Bei der Analyse der Wahlprogramme der Grünen stellte das Forschungsteam eine konstant gebliebene Schwerpunktsetzung fest: „Bei den Grünen hingegen lässt sich nicht von einer neuen Verschiebung sprechen“, so Horn. Die Studie zeige, dass die Partei im Verhältnis ihrer Themen ökonomische Gleichheit immer nachrangig behandelt und Antidiskriminierung/gleiche Rechte priorisiert habe.

Alexander Horn führt dies aus: „Schon 1983 und 1987 (mit einem Anteil von 46% bzw. 75% in den Wahlprogrammen) dominiert das Thema Antidiskriminierung, wenn die Grünen über Gleichheit reden. Auch 2017 und 2021 lag dieser Wert bei 45%. Ökonomische Gleichheit war also immer weniger stark betont, was der These widerspricht, dass diese Art von Fokus bei linken Parteien neu ist.“ Einen Gleichstand zwischen der Betonung von Antidiskriminierung und ökonomischer Gleichheit habe es einzig beim Steuerwahlkampf 2013 gegeben (mit jeweils 35%).

Linke: wechselnde Schwerpunktsetzung
Sahra Wagenknechts ehemalige Partei, Die Linke, weist der Studie zufolge starke Schwankungen in der Schwerpunktsetzung auf und priorisierte mal gleiche Rechte und Antidiskriminierung, ein andermal das Thema Verteilung. Horn: „Das lässt sich als Ausdruck der Flügelkämpfe zwischen alten Materialisten und neuen Bewegungslinken deuten. Es findet also zwar eine Betonung von materieller Ungleichheit und Differenzierung vieler Minderheiten statt, aber eben mit viel Fluktuation.“

Für das Jahr 2013 zeigt die Studie, gemessen an den Gleichheitsstatements, einen hohen Anteil von 50% bei Aussagen zu ökonomischer Gleichheit und Umverteilung im Programm. 2021 lag der Wert bei 41%. Die Werte für Antidiskriminierung lagen 2021 bei 27%, das Thema wurde in einigen Jahren davor allerdings schon deutlich stärker betont (2009 und 2017 jeweils über 40%).

Alexander Horn: „Mit Blick auf die Priorisierung Ostdeutschlands zeigt sich, dass SPD und Grüne das Thema Ostdeutschland zusehends vergessen haben. Bei der Linken gibt es hingegen nur einen leichten Rückgang.“

Faktenübersicht:

  • Working-Paper: Horn, Alexander; Jonathan Klüser, Simon Rittershaus, Martin Haselmayer (2024): Unequal German Democracy and the Rise of the “Lifestyle-Left”? How Left Parties in Germany Conceive of (In)Equality, 1970-2021.
    Link: https://voe-project.org/wp-content/uploads/2024/09/Horn-et-al-_-unequal-german-democracy.pdf
  • Die Studie wurde als Working Paper veröffentlicht, d.h. online und ohne Peer Review-Verfahren. Ein Working Paper spiegelt als Diskussionspapier den aktuellen Stand eines fortlaufenden Forschungsprojekts wider.
  • Weitere Working Papers der Forschungsgruppe: https://voe-project.org/working-paper-series/
  • Dr. Alexander Horn ist Leiter der Forschungsgruppe „Spielarten des Egalitarismus“ (Varieties of Egalitarianism) an der Universität Konstanz. Das
  • Projekt ist am Exzellenzcluster „The Politics of Inequality“ der Universität Konstanz angesiedelt und untersucht, ob und wie Parteien auf Ungleichheit reagieren und wie sich die Betonung von Gleichheit, sozialer Mobilität und Antidiskriminierung seit 1970 verändert hat.
  • Der Exzellenzcluster „The Politics of Inequality” an der Universität Konstanz erforscht aus interdisziplinärer Perspektive die politischen Ursachen und Folgen von Ungleichheit. Die Forschung widmet sich einigen der drängendsten Themen unserer Zeit: Zugang zu und Verteilung von (ökonomischen) Ressourcen, der weltweite Aufstieg von PopulistInnen, Klimawandel und ungerecht verteilte Bildungschancen.