KIS |
Konstanzer
Inventar Sanktionsforschung |
Wolfgang Heinz:
Das strafrechtliche Sanktionensystem und die Sanktionierungspraxis in Deutschland 1882 - 2006
Stand: Berichtsjahr 2006 Version: 1/2008
Originalpublikation im Konstanzer Inventar Sanktionsforschung 2008 unter
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Das strafrechtliche
Sanktionensystem
und die Sanktionierungspraxis in Deutschland Sanktionierungspraxis-in-Deutschland-Stand-2006.pdf
(dieser
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Zitierhinweis:
Heinz, Wolfgang: Das strafrechtliche Sanktionensystem und die
Sanktionierungspraxis in Deutschland 1882 - 2006 (Stand:
Berichtsjahr 2006).
Internet-Publikation: Konstanzer Inventar Sanktionsforschung 2008
<www.uni-konstanz.de/rtf/kis/Sanktionierungspraxis-in-Deutschland-Stand-2006.pdf>
Version 1/2008
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I. Das Sanktionensystem des deutschen Strafrechts
1. Strafrecht und Strafe im Wandel
2. Die Sanktionenrechtsreform im Überblick
2.1.1 Materiellrechtliche und verfahrensrechtliche Entkriminalisierung
2.1.2 Verfahrensrechtliche Entkriminalisierung durch Einschränkung des Legalitätsprinzips
2.2 Reform des strafrechtlichen Sanktionensystems
2.2.1 Sanktionenrechtsreform im StGB
2.2.2 Sanktionenrechtsreform im JGG
3. Das derzeitige Sanktionensystem des StGB und des JGG
3.1 Das gegenwärtige System der Rechtsfolgen im allgemeinen Strafrecht
3.1.2 Verwarnung mit Strafvorbehalt
3.2 Das gegenwärtige Sanktionensystem des Jugendstrafrechts
3.2.1 Jugendstrafrecht als Sonderstrafrecht für junge Menschen
3.2.2 Das gegenwärtige Rechtsfolgensystem des Jugendstrafrechts
II. Beschreibung und Analyse der Sanktionierungspraxis anhand der amtlichen Rechtspflegestatistiken
1. Die amtlichen Rechtspflegestatistiken als Datenquellen
2. Aussagemöglichkeiten und Aussagegrenzen der amtlichen Rechtspflegestatistiken
2.1 Probleme der Vergleichbarkeit der Ergebnisse von StA-Statistik und StVerfStat
2.2 Grenzen der Aussagemöglichkeiten aufgrund der Datenlage
2.2.1 Staatsanwaltschafts-Statistik
2.2.2 Strafverfolgungsstatistik
2.2.3 Justizgeschäftsstatistik in Strafsachen
2.2.4 Bewährungshilfestatistik
2.4 Folgerungen für die Zeitreihenanalyse
3. Sanktionierungspraxis in der Bundesrepublik Deutschland - räumlicher Bezug der Beschreibung
III. Entwicklung der Sanktionierungspraxis in Deutschland seit 1882
1.1 Zurückdrängung stationärer zugunsten ambulanter Sanktionen
1.2 Bedeutungsgewinn informeller Sanktionen im allgemeinen Strafrecht und im Jugendstrafrecht
1.3 Abgeurteilte und Verurteilte
2. Entwicklung und Stand der Sanktionierungspraxis im allgemeinen Strafrecht
2.2.1 Bedeutungsgewinn der Geldstrafe
2.2.2 Zurückdrängung der Freiheitsstrafen
2.2.3 Bedeutungsgewinn von Strafaussetzung zur Bewährung und Bewährungshilfe
3. Entwicklung und Stand der Sanktionierungspraxis im Jugendstrafrecht
3.1 Durch Jugendgerichte verurteilte Jugendliche und Heranwachsende
3.3.1 Bedeutungsgewinn ambulanter Massnahmen
3.3.2 Die formellen Sanktionen im Einzelnen
5. Straf- und Untersuchungsgefangene
6. Europäischer pönologischer Vergleich
IV. Entwicklung der Massregelpraxis in Deutschland
1. Freiheitsentziehende Massregeln der Besserung und Sicherung
1.1 Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus oder in der Entziehungsanstalt
2. Ambulante Massregeln der Besserung und Sicherung
Weiterführende Literatur des Verfassers:
Verzeichnis
der Schaubilder:
Schaubild 1: Strafrechtliche Folgen (nach StGB)
Schaubild 2: Strafrechtliche Folgen (nach JGG)
Verzeichnis der Tabellen:
Tabelle 7: Lebenslange Freiheitsstrafe. Früheres Bundesgebiet mit Gesamtberlin 2006
Die unterstrichenen Begriffe werden im Glossar / Abkürzungsverzeichnis erläutert.
Das materielle Strafrecht, das die Voraussetzungen der Strafbarkeit und die Straftatfolgen regelt, ist im Strafgesetzbuch (StGB)*, in strafrechtlichen Hauptgesetzen (Jugendgerichtsgesetz, Wehrstrafgesetz) und in zahlreichen Nebengesetzen (z.B. Abgabenordnung, Betäubungsmittelgesetz, Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb, Strassenverkehrsgesetz, Urheberrechtsgesetz, Waffengesetz) geregelt. Quantitativ dominieren freilich die Deliktstatbestände des StGB das Bild der Kriminalität und der Sanktionierungspraxis. Die weit überwiegende Zahl aller Verurteilungen erfolgt nämlich wegen Verbrechen und Vergehen des StGB. So wurden z.B. 2006 751.387 Personen verurteilt, davon 80,9% gem. StGB (darunter waren allerdings 22,1% Vergehen im Strassenverkehr), weitere 5,6% wegen Verkehrsdelikten, die nach Strassenverkehrsgesetz strafbar waren, schliesslich 13,5% wegen strafrechtlicher Nebengesetze .
Das geltende StGB geht zurück auf das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich von 1871. Aufgrund einer Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Bürger und Staat als Folge der Betonung verfassungsrechtlicher und menschenrechtlicher Grenzen des Strafrechts haben sich freilich die Auffassungen hinsichtlich Ziel, Möglichkeiten und Grenzen strafrechtlicher Sozialkontrolle grundlegend gewandelt. Mit Jescheck (Einführung, in: dtv-Textausgabe StGB, 39. Aufl., 2004, S. XII f.) lässt sich das Ergebnis dieses Wandels folgendermassen beschreiben: "Die Erkenntnis, dass das Strafrecht nur ein Mittel der sozialen Kontrolle neben anderen ist und wegen der mit seiner Anwendung verbundenen tiefen Eingriffe in Freiheit, Ansehen und Einkommen der Betroffenen und wegen der daraus folgenden sozialen Nachteile möglichst sparsam verwendet werden sollte, hat sich weitgehend durchgesetzt. Zugleich ist durch die vielfältigen ideologischen Angriffe auf alle repressiven Institutionen des Staates als Gegeneffekt die Überzeugung gewachsen, dass nur ein am Schuldprinzip orientiertes Strafrecht den Schutz der Allgemeinheit in Freiheit ermöglicht, weil allein ein solches Recht den Menschen als verantwortlichen Mitbürger betrachtet, indem es durch Gebot und Sanktion an seine Einsicht und seine Disziplin appelliert, aber damit auch Ernst macht. Auch die Notwendigkeit der Beschränkung des Strafrechts durch die Grundsätze des Rechtsstaats und die Erkenntnis, dass nicht alles, was für die Behandlung von Rechtsbrechern zweckmässig erscheint, auch gerecht ist, sind heute Allgemeingut geworden. Allmählich beginnt man ferner zu verstehen, dass die Humanität als Grundlage der Kriminalpolitik nicht mehr nur eine Angelegenheit des Idealismus von Einzelnen ist, die sich dieser Sache aus Mitgefühl annehmen, sondern auch eine Frage der Mitverantwortung der Gesellschaft für die Kriminalität, und dass die Sorge um den Rechtsbrecher nicht eine Gnade, sondern ein verbindlicher Auftrag des Sozialstaats ist. Endlich wird die Strafrechtspflege selbst - viel stärker als früher - nicht mehr nur als Instanz für die Verwirklichung der Gerechtigkeit verstanden, sondern auch als eine soziale Aufgabe, die durch die Art und Weise ihrer Erfüllung dem straffälligen Menschen eine Lebenshilfe geben soll. Dabei wird die Wirksamkeit der Strafrechtspflege nicht so sehr in dem statistischen Nachweis von Erfolgen bei der Resozialisierung von Straftätern gesehen als vielmehr in einer Ausgestaltung der gesamten kriminalrechtlichen Tätigkeit des Staates, die sich mit dem geschärften sozialen Gewissen unserer Zeit vereinbaren lässt. Die neueste Entwicklung der Kriminalität hat freilich auch der verständnisbereiten Allgemeinheit gezeigt, dass zur Bekämpfung der Gewaltdelikte, der Sexualstraftaten, insbesondere an Kindern, der Brandstiftung an Asylanten- und Ausländerheimen, des Auftretens von bewaffneten Schlägertrupps, des Einbruchsdiebstahls in Wohnungen und der organisierten Kriminalität Freiheitsstrafen und freiheitsentziehende Massregeln voll eingesetzt werden müssen, ohne die Resozialisierungsaufgabe des Strafvollzugs aus den Augen zu verlieren. Die Grundstimmung der Bevölkerung beginnt in Richtung auf eine Verschärfung der Kriminalpolitik umzuschlagen und die grossen politischen Parteien scheinen sich dem anzuschliessen."
Leitend für die Ausgestaltung des Sanktionensystems waren vor allem die beiden zentralen verfassungsrechtlichen Prinzipien, das Rechts- und das Sozialstaatsprinzip.
· Aus dem Rechtsstaatsprinzip werden die für die Strafgesetzgebung zentralen Grundsätze der Geeignetheit der Mittel, der Verhältnismässigkeit sowie das Subsidiaritätsprinzip abgeleitet. Diese Leitprinzipien einer rationalen Strafgesetzgebung sind nicht nur für die Frage entscheidend, ob und inwieweit ein Verhalten unter Strafe gestellt werden soll, sondern auch dafür, welche Sanktionen angedroht werden. Bestimmen Eignung und Erforderlichkeit den Einsatz der Strafe, dann führt nicht jede schuldhafte Tatbestandsverwirklichung zwingend zur - durch das Mass der Schuld begrenzten - Bestrafung, wie dies für das Vergeltungsstrafrecht selbstverständlich war: "Wo Strafe nicht erforderlich ist, kann, wo sie schädlich ist, sollte nach Möglichkeit auf sie verzichtet werden" (Schäfer, Gerhard: Praxis der Strafzumessung, 3. Aufl., München 2001, Rdnr. 4). Strafrecht ist danach nicht nur ultima ratio im Instrumentarium des Gesetzgebers, sondern muss mit seinen Sanktionen auch geeignetes Mittel zur Erreichung des gesetzgeberischen Zwecks sein, wobei das verfassungsrechtliche Gebot des sinn- und massvollen Strafens zu beachten ist (vgl. Heinz: Kriminalpolitik an der Wende zum 21. Jahrhundert: Taugt die Kriminalpolitik des ausgehenden 20. Jahrhunderts für das 21. Jahrhundert? Bewährungshilfe 2000, 131 ff.).
· Das Sozialstaatsprinzip verlangt von der Gemeinschaft "staatliche Vor- und Fürsorge für Gruppen der Gesellschaft, die aufgrund persönlicher Schwäche oder Schuld, Unfähigkeit oder gesellschaftlicher Benachteiligung in ihrer persönlichen und sozialen Entfaltung behindert sind" (BVerfGE 35, 202, [235]). Das (Re-)Sozialisierungsziel des Strafrechts folgt danach aus der verfassungsrechtlichen Anerkennung der Menschenwürde und dem Sozialstaatsprinzip. Die Bedeutung dieses Prinzips erschöpft sich nicht in der Bestimmung des Vollzugsziels und in der Ausgestaltung eines (behandlungsorientierten) Vollzugs, sondern prägt die Ausgestaltung des strafrechtlichen Sanktionensystems insgesamt.
Dem Wandel im Verständnis der Aufgaben des Strafrechts entspricht es, dass das Recht der Sanktionen tiefgreifende Änderungen und Ergänzungen erfahren hat (vgl. zusammenfassend Roxin, Strafrecht – Allgemeiner Teil, Bd. I, 3. Aufl., München 1997, § 4). Zum einen wurde das System der dem Schuldausgleich dienenden Strafen durch eine "zweite Spur" ergänzt, das System der Massregeln der Besserung und Sicherung. Zum zweiten wurde, entsprechend der Einsicht, dass Strafrecht nur ultima ratio sein kann, das Strafrecht auf materiellrechtlichem, vor allem aber auf verfahrensrechtlichem Wege entkriminalisiert. Zum dritten wurde das Strafensystem selbst wiederholt geändert, um es mit den gewandelten kriminalpolitischen Grundkonzeptionen in Übereinstimmung zu bringen.
Der Forderung nach Entkriminalisierung als Ausdruck des ultima ratio-Gedankens hat der deutsche Gesetzgeber zum einen durch eine materiell-rechtliche, zum anderen durch eine verfahrensrechtliche Entkriminalisierung Rechnung getragen.
· Die materiell-rechtliche Lösung besteht darin, dass zahlreiche Rechtsverletzungen von geringerer Bedeutung nicht bestraft, sondern als Ordnungswidrigkeiten mit nicht-krimineller Geldbusse nach dem Gesetz über Ordnungswidrigkeiten (OWiG) geahndet werden. Die klassische Dreiteilung des RStGB in Verbrechen, Vergehen und Übertretungen wurde zum 1.1.1975 aufgehoben und durch die Dichotomie von Verbrechen und Vergehen ersetzt. Die bisherigen Übertretungen wurden teils zu Vergehen hochgestuft, überwiegend aber zu Ordnungswidrigkeiten heruntergestuft. Ordnungswidrigkeiten kennzeichnen ein sozial unerwünschtes, das soziale Leben störendes Verhalten, das aber nicht so bedeutsam ist, dass es bereits als strafwürdig und strafbedürftig anzusehen wäre. Wegen Ordnungswidrigkeiten können keine Kriminalstrafen, sondern lediglich Geldbussen (§§ 17 f. OWiG) verhängt werden.
· Die verfahrensrechtliche Lösung besteht zum einen in der Einschränkung der für die Staatsanwaltschaft grundsätzlich bestehenden Anklagepflicht durch das Opportunitätsprinzip, wonach die Anklage in bestimmten Fällen in das Ermessen der Staatsanwaltschaft gestellt wird (entsprechende Möglichkeiten, von einer Verurteilung abzusehen und das Verfahren einzustellen, wurden auch dem Gericht eingeräumt), zum anderen im Strafantragserfordernis im Bereich der leichten Kriminalität. Der Gesetzgeber geht davon aus, dass derartige Fälle meist nicht zu einem Strafantrag führen, sondern auf zivilrechtlichem oder aussergerichtlichem Wege erledigt werden.
In der Reichsstrafprozessordnung von 1877 war das Legalitätsprinzip in seinen beiden Ausprägungen - Verfolgungs- und Anklagezwang für die Staatsanwaltschaft - nahezu ausnahmslos zur Anerkennung gelangt. Es bildete das verfahrensrechtliche Korrelat zur damals herrschenden Vergeltungsidee, derzufolge der Staat zur Verwirklichung absoluter Gerechtigkeit jede Straftat auch zu bestrafen hatte. Mit dem allmählichen Vordringen general- und spezialpräventiver Auffassungen, die die Bestrafung an ihre gesellschaftliche Notwendigkeit und Zweckmässigkeit im Hinblick auf Kriminalitätsverhütung und Rückfallverhinderung knüpften, verlor das Legalitätsprinzip einen Grossteil seiner ursprünglichen Berechtigung. Denn es forderte eine Strafverfolgung auch in jenen Fällen, in denen eine Strafe weder zur Abschreckung potentieller Täter noch zur Einwirkung auf den jeweiligen Täter notwendig und geboten war, ja sogar dann, wenn eine Bestrafung zur Erreichung des Ziels der Legalbewährung kontraproduktiv erschien.
Erstmals im JGG von 1923 wurde das Legalitätsprinzip, und zwar gestützt auf spezialpräventive Annahmen, eingeschränkt. In den Jugendgerichtsgesetzen von 1943 und von 1953 wurden diese Einstellungsmöglichkeiten (Subsidiaritätsprinzip) weiter ausgebaut (vgl. Heinz: Diversion im Jugendstrafverfahren der Bundesrepublik Deutschland, in: Heinz/Storz: Diversion im Jugendstrafverfahren der Bundesrepublik Deutschland. Bonn 1992, 15 ff.). Durch das EGStGBÄndG von 1974 wurden auch die Heranwachsenden in den Anwendungsbereich der §§ 45, 47 JGG einbezogen.
Im allgemeinen Strafverfahrensrecht wurde das Legalitätsprinzip erstmals durch die - nach dem damaligen Justizminister benannte - Emmingersche Verordnung von 1924 eingeschränkt. Seitdem wurde das Opportunitätsprinzip vom Gesetzgeber immer weiter ausgebaut. Überlastung mit Bagatelldelikten, Flexibilität der prozessualen Entkriminalisierung, Vermeidung von stigmatisierenden Begleitschäden machten diese "informelle Erledigungsmöglichkeit" (Diversion) auch im allgemeinen Strafrecht attraktiv. Durch das EGStGB von 1974 wurde mit § 153a StPO auch im allgemeinen Strafrecht erstmals die Möglichkeit geschaffen, das Strafverfahren bei Erfüllung von Auflagen oder Weisungen einzustellen. Das Strafverfahrensänderungsgesetz 1979 erweiterte die eine Konzentration des Prozessstoffes ermöglichenden §§ 154, 154a StPO wesentlich; insbesondere bei Grossverfahren ist eine Einstellung auch dann noch möglich, wenn die Rechtsfolge der einzustellenden Tat beträchtlich ins Gewicht fallen würde. Die Vorschriften der §§ 153 ff. StPO wurden 1993 durch das Rechtspflegeentlastungsgesetz erneut erweitert. Hierdurch sollte "der Praxis die Möglichkeit (gegeben werden), auch im Bereich der mittleren Kriminalität von der Erhebung der öffentlichen Klage gegen Auflagen und Weisungen abzusehen" (Begründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Entlastung der Rechtspflege vom 27.9.1991, BT-Drs. 12/1217, S. 34). Der Katalog der zulässigen Massnahmen wurde 1998 durch die Aufnahme der für verkehrsauffällige Kraftfahrer bestimmten Nachschulung (Aufbauseminar) sowie 1999 durch die des Täter-Opfer-Ausgleichs erweitert. Durch das Gesetz zur strafverfahrensrechtlichen Verankerung des Täter-Opfer-Ausgleichs von 1999 wurde der bisher abschliessende Katalog der Massnahmen geöffnet, ferner wurde das ernsthafte Bemühen des Beschuldigten, einen Ausgleich mit dem Verletzten zu erreichen, in den Katalog der Auflagen und Weisungen des § 153a StPO aufgenommen. Hierdurch sollte erneut die „Möglichkeit einer Einstellung des Strafverfahrens ... erweitert“ werden (Begründung zum Entwurf vom 29.10.1999, BT-Drs. 14/1928, S. 1).
Die rechtsphilosophische Grundlage des Strafgesetzbuches für das Deutsche Reich (RStGB) von 1871 war von der in den Dienst der Generalprävention gestellten strengen Vergeltungsidee der Philosophie Kants und Hegels bestimmt. Gesichtspunkte der Spezialprävention fanden so gut wie keine Berücksichtigung. Das Sanktionensystem bildeten Todesstrafe, ferner vier verschiedene, nach ihrer Schwere abgestufte Arten von Freiheitsstrafe (Zuchthaus, Gefängnis, Festungshaft [ab 1953: Einschliessung] und Haft) sowie die Geldstrafe. Das Schwergewicht des Strafensystems lag bei den Freiheitsstrafen. Das RStGB enthielt keine Massregeln der Besserung und Sicherung, es kannte keine Strafaussetzung zur Bewährung und bot auch sonst kaum Möglichkeiten für eine resozialisierende Einwirkung auf den Straftäter. Unter dem Einfluss der modernen Strafrechtsschule, die für ein präventiv orientiertes Strafrecht eintrat, wurde das RStGB allmählich umgestaltet.
Die wichtigsten Zwischenschritte bis zur grundlegenden Neuregelung des Sanktionensystems durch das 1. und 2. Strafrechtsreformgesetz von 1969 waren (vgl. Roxin, Strafrecht – Allgemeiner Teil, Bd. I, 3. Aufl., München 1997, § 4):
· die Erweiterung des Anwendungsbereichs der Geldstrafe in den Jahren 1921-1924,
· die 1923 erfolgte Schaffung eines besonderen Jugendstrafrechts (JGG), durch das die Strafmündigkeitsgrenze von 12 auf 14 Jahre heraufgesetzt und die 14- bis unter 18-jährigen jungen Straftäter aus dem allgemeinen Strafrecht herausgenommen wurden,
· die 1933 erfolgte - einer alten Forderung der modernen Strafrechtsschule entsprechende - Einführung der Massregeln der Sicherung und Besserung, durch die Präventionsbedürfnisse, denen mit der vergeltenden Strafe allein nicht genügt werden kann, erfüllt werden sollen,
· die Abschaffung der Todesstrafe durch Art. 102 des Grundgesetzes (GG) vom 23.5.1949,
· die Einführung der Strafaussetzung und Entlassung zur Bewährung im allgemeinen Strafrecht 1953 und deren Wiedereinführung im Jugendstrafrecht, schliesslich
· die 1953 erfolgte partielle Einbeziehung der 18- bis unter 21-Jährigen (Heranwachsende) in das Jugendstrafrecht.
Die gegenwärtige Struktur des Sanktionensystems des allgemeinen Strafrechts wird wesentlich geprägt durch das 1. und 2. Strafrechtsreformgesetz von 1969 sowie durch das EGStGB von 1974 (vgl. hierzu Scheffler, Uwe: Das Reformzeitalter 1953-1975 In: Thomas Vormbaum, Jürgen Welp (Hrsg.): Das Strafgesetzbuch. Sammlung der Änderungsgesetze und Neubekanntmachungen. Supplementband 1: 130 Jahre Strafgesetzgebung - Eine Bilanz, Berlin 2004, S. 174-257). "In der Neuregelung des Sanktionensystems steht das gegenwärtige Recht mit dem Übergang von der Freiheitsstrafe zur Geldstrafe als weitaus häufigster Strafart an einem ähnlich bedeutsamen Wendepunkt, wie es einst der Übergang von den Leibes- und Lebensstrafen des Mittelalters zur Freiheitsstrafe der Aufklärungszeit gewesen ist" (Jescheck, in: Leipziger Kommentar, 11. Aufl., Berlin/New York 1992, Einleitung, Rndr. 93). Namentlich durch die beiden Strafrechtsreformgesetze sollte u.a. "die moderne Ausgestaltung des Sanktionensystems als taugliches Instrument der Kriminalpolitik mit dem Ziel einer Verhütung künftiger Straftaten, vor allem durch Resozialisierung des Straftäters" (Erster Schriftlicher Bericht des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform, BT-Drs. V/4094, S. 3) erreicht werden. Dem dienten vor allem
· die Ersetzung der verschiedenen Arten freiheitsentziehender Strafen durch die (Einheits-)Freiheitsstrafe (§ 38 StGB),
· die Heraufsetzung des Mindestmasses der Freiheitsstrafe von einem Tag auf einen Monat (§ 38 II StGB),
· die Zurückdrängung der kriminalpolitisch unerwünschten kurzen Freiheitsstrafe unter sechs Monaten zugunsten der Geldstrafe (§ 47 StGB),
· die Erweiterung des Anwendungsbereichs der Strafaussetzung zur Bewährung auf Freiheitsstrafen bis einschliesslich zwei Jahren (§ 56 StGB),
·
die
Umstellung
der Geldstrafe auf das Tagessatzsystem (§ 40 StGB)
sowie
· die Einführung der Rechtsinstitute der Verwarnung mit Strafvorbehalt (§ 59 StGB) und des Absehens von Strafe (§ 60 StGB).
Kernstück des kriminalpolitischen Programms war die nachhaltige Einschränkung der als resozialisierungsfeindlich angesehenen kurzen Freiheitsstrafe, die "in Zukunft nur noch in einem ganz engen und auch kriminalpolitisch vertretbaren Bereich verhängt und vollstreckt" (Erster Schriftlicher Bericht des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform. BT-Drs. V/4094, S. 6) werden sollte. Damit war die Erwartung verbunden, den Strafvollzug nachhaltig zu entlasten und so überhaupt erst die tatsächlichen Voraussetzungen für dessen Reform zu schaffen (Erster Schriftlicher Bericht des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform. BT-Drs. V/4094, S. 11). Hauptstrafe der Gegenwart sollte die Geldstrafe sein, deren Anwendungsbereich die leichte und mittlere Kriminalität sein sollte. In Verbindung mit der Strafzumessungsvorschrift von § 46 StGB wurde durch die Strafrechtsreform von 1969 die Idee der Spezialprävention wesentlich gestärkt und in den Vordergrund gerückt.
Der Bundesgerichtshof
hat diese
kriminalpolitische Grundkonzeption folgendermassen zusammengefasst:
"Nach
der kriminalpolitischen Gesamtkonzeption, von der die
Strafrechtsreform
ausgeht, soll in der Regel auf die Verhängung kurzer und die
Vollstreckung
mittlerer Freiheitsstrafen verzichtet werden (...). Dem 1.
Strafrechtsreformgesetz
liegt der Gedanke zugrunde, dass die Strafe nicht die Aufgabe hat,
Schuldausgleich
um ihrer selbst willen zu üben, sondern nur gerechtfertigt ist, wenn
sie sich
zugleich als notwendiges Mittel zur Erfüllung der präventiven
Schutzaufgabe des
Strafrechts erweist. Einen wesentlichen Akzent hat der Gesetzgeber
durch die
Aufnahme der spezialpräventiven Klausel als Ziel des
Strafzumessungsvorgangs
in § 13 I Satz 2 StGB
(jetzt: § 46 I StGB
- d. Verf.) gesetzt. Die Tatsache, dass das Gesetz den Strafzweck
der
Generalprävention im Gegensatz zur mehrfachen Erwähnung des Gedankens
der
sozialen Anpassung (§ 13 I Satz 2, § 14 I, § 23 I StGB)
(jetzt: § 46 I Satz
2, § 47 I, § 56 I StGB
- d. Verf.) nicht ausdrücklich nennt, lässt für die Bemessung der
Strafe eine
bedeutsame Schwerpunktverlagerung auf den spezialpräventiven
Gesichtspunkt
im weitesten Sinne erkennen. Bei diesem Grundsatz der
'Individualisierung'
geht es nicht allein um die gezielte Einwirkung auf einen schon
entsozialisierten
Täter, die Verurteilung und sinnvoller Vollzug erreichen sollen
(Resozialisierung), sondern auch um die Vermeidung unbeabsichtigter
Nebenwirkungen von Verurteilung und Vollzug, etwa der Gefahr, dass die
Strafe
einen bisher sozial ausreichend eingepassten Täter aus der sozialen
Ordnung
herausreisst. Die Strafvollstreckung soll sich nicht in einem sinnlosen
Absitzen erschöpfen, sondern Behandlung im Vollzug sein.
Grundsätzlich geht deshalb die Geldstrafe der Freiheitsstrafe, die
Aussetzung
dem Vollzug vor, soweit dies im Hinblick auf die zu erwartende
kriminalpolitische
Wirksamkeit der Rechtsgüterschutz zulässt. Die kurze Freiheitsstrafe
wird
daher nur noch ausnahmsweise, ihr Vollzug nur unter ganz besonderen
Umständen
vorgesehen (§§ 14 I, 23 I StGB) (jetzt:
§ 47 I, § 56 I StGB - d. Verf.). Vor
allem wird
die vermehrte Durchführung einer 'ambulanten' Behandlung des Täters in
Freiheit
angestrebt, die durch Weisungen sinnvoll gestaltet werden soll. Diesem
Ziel
dient die Erweiterung der Möglichkeit einer Strafaussetzung
durch Heraufsetzung der zeitlichen Grenze, die Vereinfachung der
Prognose und
der Wegfall der formellen Ausschlussvoraussetzungen (vgl. hierzu
§ 23
III StGB
a.F.). Zwar ist die Strafaussetzung zur
Bewährung
eine Modifikation der Strafvollstreckung. Die neue gesetzliche Regelung
lässt
jedoch ihre Eigenständigkeit im Sinne einer besonderen 'ambulanten'
Behandlungsart
deutlich werden, wenn sie sich auch bei bestimmten Tätergruppen in
einer blossen
Vergünstigung erschöpft. Ihre zeitliche Grenze bestimmt sich ohne
Rücksicht
auf den Deliktscharakter (§ 1 StGB) nach der Höhe
der erkannten Strafe, so dass auch
wegen Verbrechen verhängte Freiheitsstrafen aussetzungsfähig sind. Bei
guter
Sozialprognose muss die Vollstreckung von Freiheitsstrafen unter sechs
Monaten
stets ausgesetzt werden; auch bei Freiheitsstrafen von sechs Monaten
bis zu
einem Jahr ist die Aussetzung im Regelfall zwingend, sofern nicht die
'Verteidigung der Rechtsordnung' dem entgegensteht" (BGHSt 24, 40 [42
f.]).
Die deutsche Bundesregierung und der Deutsche Bundestag hatten zunächst keinen Anlass gesehen, dieses durch das 1. und 2. StrRG geschaffene System "grundlegend zu ändern" (vgl. die Antwort der Bundesregierung auf eine Grosse Anfrage hinsichtlich der Weiterentwicklung des strafrechtlichen Sanktionensystems [BT-Drs. 12/3718] vom 12.11.1992). Lediglich einige behutsame Fortentwicklungen sowie - als Reaktion auf neue Erscheinungsformen der Kriminalität - einige Ergänzungen des Sanktionensystems wurden als notwendig erachtet. Das Schwergewicht der Reform verlagerte sich auf den Besonderen Teil (vgl. hierzu Hilgendorf, Eric: Die deutsche Strafrechtsentwicklung 1975 - 2000, in: Vormbaum, Thomas; Welp, Jürgen [Hrsg.]: Das Strafgesetzbuch. Supplementband I: 130 Jahre Strafgesetzgebung - Eine Bilanz, Berlin 2004, S. 258 ff.).
· 1981 wurde durch das 20. StrÄndG die Strafrestaussetzung zur Bewährung auch bei lebenslanger Freiheitsstrafe (§ 57a StGB) eingeführt. Durch das 23. StrÄndG von 1986, das u.a die alte Rückfall-Regelung des bisherigen § 48 StGB ersatzlos aufhob, wurde der Anwendungsbereich der Strafaussetzung bei Freiheitsstrafen zwischen 12 und 24 Monaten durch Anpassung an die höchstrichterliche Rechtsprechung erweitert. Das Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten von 1999 engte die Strafrestaussetzung allerdings insofern wieder ein, als es nunmehr das Gericht verpflichtet, bei der Aussetzung der Vollstreckung des Restes einer Freiheitsstrafe stärker als bisher Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit zu berücksichtigen (zusammenfassend Schöch, Heinz: Das Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26.1.1999, NJW 1999, 1257 ff.).
· Durch das 23. StrÄndG von 1986 wurden ferner die Voraussetzungen für die Abwendung der Vollstreckung der - an die Stelle einer uneinbringlichen Geldstrafe tretenden - Ersatzfreiheitsstrafe durch gemeinnützige Arbeit (Art. 293 Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch [EGStGB]) neu gefasst.
· Durch das Ende Dezember 2006 in Kraft getretene Zweite Gesetz zur Modernisierung der Justiz wurde die Verwarnung mit Strafvorbehalt mit dem Ziel einer häufigeren Anwendung moderat erweitert.
Der zutreffenden Erkenntnis folgend, dass sich ein allein um den Täter und nicht auch um das Opfer kümmerndes Strafrecht "zu seinen Zielen der Friedensstiftung, Humanität und Prävention" (Kaiser, Kriminalpolitik in der Bundesrepublik Deutschland, in: Hirsch, J.; Weigend, Th. [Hrsg.]: Strafrecht und Kriminalpolitik in Japan und Deutschland, Berlin 1989, S. 47) in Widerspruch setzen würde, wurden zunehmend auch Opferbelange berücksichtigt, insbesondere durch den Täter-Opfer-Ausgleich (TOA).
· Wiedergutmachung und Täter-Opfer-Ausgleich wurden durch das Opferschutzgesetz von 1986 in den Katalog der Strafzumessungsgründe aufgenommen (§ 46 II StGB) und dadurch deutlich aufgewertet.
· Weitergeführt wurde dieser Gedanke einer konfliktlösenden Verständigung zwischen Täter und Opfer durch das Verbrechensbekämpfungsgesetz von 1994, durch das u.a. Täter-Opfer-Ausgleich und Schadenswiedergutmachung als fakultative Strafmilderungsvorschrift ausgestaltet wurden; in Fällen leichter Kriminalität kann seitdem sogar von Strafe abgesehen werden (§ 46a StGB).
· Eine Förderung des Täter-Opfer-Ausgleichs wurde 1999 durch das Gesetz zur strafverfahrensrechtlichen Verankerung des Täter-Opfer-Ausgleichs erreicht. Danach sind Staatsanwalt und Richter gehalten, in jedem Stadium des Verfahrens zu prüfen, ob ein Ausgleich zwischen Beschuldigtem und Verletztem erreicht werden kann (§ 155a StPO). Das Bemühen des Beschuldigten, einen Täter-Opfer-Ausgleich zu erreichen, kann die Einstellung des Strafverfahrens rechtfertigen (§ 153a StPO). Entsprechende Möglichkeiten hat das Gericht nach Anklageerhebung.
· Zur Stärkung der Opferinteressen im Bereich der Schadenswiedergutmachung sieht das Ende Dezember 2006 in Kraft getretene Zweite Gesetz zur Modernisierung der Justiz vor, dass das Gericht bereits im Urteil Zahlungserleichterungen gewähren soll, wenn ohne deren Bewilligung die Wiedergutmachung gefährdet ist (§ 42 S. 3 StGB).
In der Kriminalpolitik der letzten beiden Jahrzehnte erfolgte eine Ausdifferenzierung des Rechts strafrechtlicher Sanktionen hinsichtlich bestimmter Tätergruppen.
· So wurden insbesondere die Möglichkeiten erweitert, als „gefährlich“ prognostizierte Täter durch Ausbau der Massregeln der Besserung zu Sicherung zu heilen und/oder zu kontrollieren (siehe hierzu unten I. 3.1.5.1).
· Ferner wurden die Möglichkeiten erweitert, mithilfe strafrechtlicher Sanktionen illegal erlangte Gewinne abzuschöpfen und dadurch insbesondere der Organisierten Kriminalität die wirtschaftliche Grundlage für deren Aufbau und Erhalt zu entziehen. Das 2. StrRG von 1969 hatte mit den Instituten des Verfalls und der Einziehung die Möglichkeit geschaffen, dem Täter (u.U. auch einem Dritten) Vermögensgegenstände zu entziehen, die durch eine enge Beziehung mit der Straftat gekennzeichnet sind. 1992 wurde das bisher für den Verfall geltende Nettoprinzip durch das Bruttoprinzip ersetzt. Im gleichen Jahre wurden durch das Gesetz zur Bekämpfung des illegalen Rauschgifthandels und anderer Erscheinungsformen der Organisierten Kriminalität (OrgKG) vom 15.7.1992 neue Vorschriften eingeführt, mit denen die Gewinnabschöpfung erleichtert werden sollte: Geldwäsche (§ 261 StGB), Vermögensstrafe (§ 43a StGB) und erweiterter Verfall (§ 73d StGB). Von diesen Vorschriften wurde inzwischen die Vermögensstrafe durch das BVerfG (BVerfGE 105, 135) für nichtig erklärt. Die Vorschrift über den erweiterten Verfall wurde durch den 4. Strafsenat des BGH (BGHSt 40, 371) sowie eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Januar 2004 (BVerfGE 110, 1) in verfassungskonformer Auslegung auf die Fälle beschränkt, in denen das Gericht die „uneingeschränkte tatrichterliche Überzeugung von der deliktischen Herkunft“ der betreffenden Gegenstände gewonnen hat. Im Nebenstrafrecht, nämlich im Kartellstrafrecht und im UWG wurden weitergehende Möglichkeiten der Vorteils- bzw. Gewinnabschöpfung eingeführt (vgl. Heinz, Was ist Strafe?, Festschrift für Jung 2007, S. 296 f.). Durch das am 1.1.2007 in Kraft getretene Gesetz zur Stärkung der Rückgewinnungshilfe und der Vermögensabschöpfung bei Straftaten wurde das Instrumentarium zur Abschöpfung von kriminellen Gewinnen dadurch verbessert, dass ein Auffangrechtserwerb des Staates eingeführt wurde (§ 111i StPO).
Vor dem Hintergrund vielfältiger Reformvorschläge aus Wissenschaft und Praxis (vgl. nur die Verhandlungen der strafrechtlichen Abteilung des 59. Deutschen Juristentags, hierzu das Gutachten von Schöch, Heinz: Empfehlen sich Änderungen und Ergänzungen bei den strafrechtlichen Sanktionen ohne Freiheitsentzug? Gutachten C zum 59. Deutschen Juristentag. München 1992; ferner die Beratungen auf der Strafrechtslehrertagung 1999 in Halle/Saale, hierzu u.a. Streng, Franz: Modernes Sanktionenrecht, Zeitschrift für die Gesamte Strafrechtswissenschaft 1999, 827 ff.) und im Hinblick auf mehrere, teils in den Deutschen Bundestag, teils in den Bundesrat eingebrachte Gesetzesentwürfe, wurde 1999 durch das Bundesministerium der Justiz die "Kommission zur Reform des strafrechtlichen Sanktionensystems" eingesetzt, die im März 2000 ihren Abschlussbericht (http://www.bmj.bund.de/media/archive/137.pdf; vgl. dort auch die Übersicht über die wichtigsten sanktionenrechtlichen Gesetzesentwürfe der letzten beiden Jahrzehnte) vorgelegt hat (die Materialien der Kommission sind abgedruckt bei Hettinger, Michael [Hrsg.]: Reform des Sanktionenrechts, Baden-Baden 2001/2002, 3 Bde). Den „Entwurf eines Gesetzes zur Reform des Sanktionsrechts“ hat die Bundesregierung am 2.1. 2004 im Bundesrat eingebracht (BR-Drs. 3/04). Der Gesetzentwurf (BT-Drs. 15/2725) wurde mit der Stellungnahme des Bundesrates am 1.4. vom Bundestag in erster Lesung beraten und in die Ausschüsse überwiesen. Der Entwurf wollte die ambulanten Sanktionsmöglichkeiten für den Bereich der kleinen und mittleren Kriminalität erweitern und „insbesondere der Vermeidung von kurzen Freiheits- und Ersatzfreiheitsstrafen dienen. Auf diese Weise sollen unerwünschte Nebenwirkungen von Freiheitsstrafen vermieden oder abgeschwächt und der Strafvollzug entlastet werden. Die Erweiterung des Sanktionensystems durch den Ausbau ambulanter Sanktionen trägt wirksam zum strafrechtlichen Rechtsgüterschutz bei, denn nach allen bisherigen Erkenntnissen sind die vorgeschlagenen Sanktionen den heute vorhandenen in spezial- und generalpräventiver Hinsicht gleichwertig“ (BT-Drs. 15/2725, S. 1). Diese Pläne zur Reform des Sanktionenrechts sind vorläufig wegen der vorzeitigen Auflösung des 15. Deutschen Bundestages der Diskontinuität zum Opfer gefallen.
Im Unterschied zum
allgemeinen
Strafrecht, in dem die Strafen gem. §°46 StGB zumindest „auch“ dem
Schuldausgleich dienen, hat das Jugendstrafrecht eine präventive
Ausrichtung.
Der durch das Zweite Gesetz zur Änderung des Jugendgerichtsgesetzes
und
anderer Gesetze vom 13.12.2007 (BGBl I, S. 2894) eingefügte §°2°I JGG
bestimmt
nunmehr ausdrücklich: „Die Anwendung des Jugendstrafrechts soll vor
allem
erneuten Straftaten eines Jugendlichen oder Heranwachsenden
entgegenwirken. Um
dieses Ziel zu erreichen, sind die Rechtsfolgen und unter Beachtung des
elterlichen Erziehungsrechts auch das Verfahren vorrangig am
Erziehungsgedanken
auszurichten.“
Das Jugendstrafrecht, das hinsichtlich der Erprobung spezialpräventiver
Konzepte
"Schrittmacher-" oder "Vorreiterfunktion" für das
allgemeine Strafrecht hatte, wurde in den 1980er Jahren durch eine
"Reform durch die Praxis" (vgl. BMJ [Hrsg.]: Jugendstrafrechtsreform
durch die Praxis, Bonn 1989) weiterentwickelt: Neue ambulante Massnahmen
(Täter-Opfer-Ausgleich,
Betreuungsweisung, sozialer Trainingskurs, Arbeitsweisung) wurden
erprobt,
Untersuchungshaftvermeidungsmodelle wurden entwickelt; das Konzept der Diversion, d.h. der "Umlenkung" des Straftäters
um das förmliche Strafverfahren bzw. um die Verurteilung, wurde in
hohem und
wachsendem Masse umgesetzt. Die Normen des Jugendstrafrechts waren für
diese
Reform flexibel genug. 1990 schrieb der Gesetzgeber durch das 1.
Gesetz zur
Änderung des JGG (1. JGGÄndG)
diese
Reform fest und stellte sie auf eine sichere Grundlage, insbesondere
verdeutlichte er die damit verbundene kriminalpolitische Konzeption:
· "Neuere kriminologische Forschungen haben erwiesen, dass Kriminalität im Jugendalter meist nicht Indiz für ein erzieherisches Defizit ist, sondern überwiegend als entwicklungsbedingte Auffälligkeit mit dem Eintritt in das Erwachsenenalter abklingt und sich nicht wiederholt. Eine förmliche Verurteilung Jugendlicher ist daher in weitaus weniger Fällen geboten, als es der Gesetzgeber von 1953 noch für erforderlich erachtete.
· Untersuchungen zu der Frage, inwieweit der Verzicht auf eine formelle Sanktion zugunsten einer informellen Erledigung kriminalpolitisch von Bedeutung ist, haben - jedenfalls für den Bereich der leichten und mittleren Jugenddelinquenz - zu der Erkenntnis geführt, dass informellen Erledigungen als kostengünstigeren, schnelleren und humaneren Möglichkeiten der Bewältigung von Jugenddelinquenz auch kriminalpolitisch im Hinblick auf Prävention und Rückfallvermeidung höhere Effizienz zukommt.
· Es hat sich weiterhin gezeigt, dass die in der Praxis vielfältig erprobten neuen ambulanten Massnahmen (Betreuungsweisung, sozialer Trainingskurs, Täter-Opfer-Ausgleich) die traditionellen Sanktionen (Geldbusse, Jugendarrest, Jugendstrafe) weitgehend ersetzen können, ohne dass sich damit die Rückfallgefahr erhöht. Schliesslich ist seit langem bekannt, dass die stationären Sanktionen des Jugendstrafrechts (Jugendarrest und Jugendstrafe) sowie die Untersuchungshaft schädliche Nebenwirkungen für die jugendliche Entwicklung haben können" (Regierungsentwurf eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Jugendgerichtsgesetzes [BT-Drs. 11/5829], 1).
Der Gesetzgeber blieb damit einer Tradition des Fortschritts verpflichtet, wie sie der damalige Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland, G. Heinemann, formuliert hatte: "Wenn es eine Tradition des Fortschritts im Strafrecht gibt, dann ist sie vor allem im Jugendstrafrecht zu Hause. Beim straffälligen und verwahrlosten Jugendlichen hat sich immer schon die Unvernunft eines Strafrechtssystems, das sinnlose Härten metaphysischen Spekulationen zuliebe in Kauf nimmt, besonders augenfällig erwiesen" (G. Heinemann, Vorbemerkung, in: Simonsohn [Hrsg.]: Jugendkriminalität, Strafjustiz und Sozialpädagogik, Frankfurt a.M. 1969, 5).
Dass das 1. JGGÄndG nur ein erster Schritt sein sollte und dass weiterer Reformbedarf bestand, war 1990 allseits anerkannt. Der Deutsche Bundestag hat deshalb die Bundesregierung aufgefordert, bis zum 1. Oktober 1992 den Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Jugendgerichtsgesetzes vorzulegen, der den weiteren Reformbedarf aufgreifen sollte. Dieser zweite Reformschritt unterblieb bislang. Während Wissenschaft, Fachverbände und Praxis ganz überwiegend „einen weiteren Abbau verzichtbarer strafender Elemente des Jugendgerichtsgesetzes anmahnen“ (Kreuzer, Ist das deutsche Jugendstrafrecht noch zeitgemäss?, NJW 2002, S. 2345), wird von Teilen der Politik eine Verschärfung der jugendstrafrechtlichen Sanktionen gefordert (zu den gegensätzlichen Positionen vgl. nur die Verhandlungen der strafrechtlichen Abteilung des 64. Deutschen Juristentages zum Thema „Ist das deutsche Jugendstrafrecht noch zeitgemäss?“, München 2002, sowie die Vorschläge der beiden Reformkommissionen der Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen (veröffentlicht in DVJJ-Journal 1992, S. 9 ff., DVJJ-Journal 2002, S. 227 ff., einerseits und andererseits die im Bundesrat eingebrachten Gesetzesanträge einiger Bundesländer, aktuell von der DVJJ zusammengestellt (http://www.dvjj.de/artikel.php?ebene=29,119&artikel=639). Einige bereichsspezifische Änderungen erfolgten mit dem Ende Dezember 2006 in Kraft getretenen Zweiten Gesetz zur Modernisierung der Justiz. Mit ihm wurde das Ziel verfolgt, die Stellung des Opfers im Jugendstrafverfahren zu verbessern. Hierzu wurde eine – gegenüber § 395 StPO eingeschränkte - Nebenklage im Jugendstrafverfahren eingeführt und das Adhäsionsverfahren nunmehr auch bei nach Jugendstrafrecht verurteilten Heranwachsenden für zulässig erklärt (vgl. Stuppi, Frank: Die Änderungen des Jugendgerichtsgesetzes durch das 2. Gesetz zur Modernisierung der Justiz, ZJJ, 2007, S. 18 ff.).
Strafrechtliche Folgen (nach StGB) Absehen von Strafe § 60 StGB Verwarnung mit Strafvorbehalt §§ 59-59c StGB Strafen Hauptstrafen Freiheitsstrafe § 38 StGB Strafaussetzung zur Bewährung §§ 56-56g StGB Unbedingt verhängte Freiheitsstrafe Geldstrafe § 40 StGB Nebenstrafen*) Fahrverbot § 44 StGB Nebenfolgen Verlust der Amtsfähigkeit, der Wählbarkeit und des Stimmrechts §§ 45ff StGB Bekanntgabe der Verurteilung §§ 165; 200 StGB Massnahmen (§ 11 I Nr. 8 StGB) Massregeln der Besserung und Sicherung Freiheitsentziehende Massregeln Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus § 63 StGB Unterbringung in einer Entziehungsanstalt § 64 StGB Unterbringung in Sicherungsverwahrung § 66 StGB Massregeln ohne Freiheitsentzug Führungsaufsicht §§ 68-68g StGB Entziehung der Fahrerlaubnis §§ 69-69b StGB Berufsverbot §§ 70-70b StGB Verfall §§ 73-73e StGB Einziehung §§ 74, 75 StGB Unbrauchbarmachung § 74d StGB *) § 43a StGB (Vermögensstrafe) wurde durch Urteil des BVerfG vom 20.03.2002 - 2BvR 794/95 (BVerfGE 105, 135ff.) - wegen Unvereinbarkeit mit Art. 103 II GG für nichtig erklärt
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Schaubild 1: Strafrechtliche Folgen (nach StGB)
Nach § 60 StGB sieht das Gericht von Strafe ab, wenn die Tat, z.B. eine Trunkenheitsfahrt mit schweren Unfallfolgen für den Täter oder einen nahen Angehörigen, für den Täter so schwerwiegende Folgen hatte, dass die Verhängung einer Strafe "offensichtlich verfehlt" wäre. In diesen Fällen ist die Schuld durch die schweren Folgen bereits zu einem Teil ausgeglichen, so dass kein Präventionsbedürfnis mehr besteht.
Von Strafe kann ferner entweder ganz abgesehen oder diese kann gemildert werden, wenn der Täter "in dem Bemühen, einen Ausgleich mit dem Verletzten zu erreichen (Täter-Opfer-Ausgleich), seine Tat ganz oder überwiegend wiedergutgemacht oder deren Wiedergutmachung ernsthaft erstrebt" hat (§ 46a Nr. 1 StGB). Ebenso kann von Strafe abgesehen werden, wenn der Täter durch "erhebliche persönliche Leistungen" oder einen "persönlichen Verzicht" das Opfer "ganz oder zum überwiegenden Teil entschädigt" hat (§ 46a Nr. 2 StGB).
Im Unterschied zu diesen beiden Fallgruppen, in denen das Strafbedürfnis gemindert ist, sieht das StGB in einer Reihe weiterer Vorschriften die Möglichkeit eines Schuldspruchs unter Absehen von Strafe in Fallgruppen vor, in denen die Strafwürdigkeit sehr gering ist, weil entweder das Unrecht der Straftat und/oder die Schuld des Täters stark gemindert ist (z.B. §§ 139 I, 174 IV StGB; §§ 113 IV, 157 I, 2 StGB; § 129 V StGB).
Nach §§ 59-59c StGB kann das Gericht unter bestimmten Voraussetzungen den Schuldspruch des Täters mit einer Verwarnung verbinden und eine Geldstrafe bestimmen, deren Verhängung jedoch vorbehalten bleibt. Es erfolgt also ein aufschiebend bedingter Strafausspruch (§ 59 StGB). Das Gericht setzt eine Bewährungszeit fest, es kann Auflagen und Weisungen erteilen, z.B. eine Wiedergutmachungsauflage, die Auflage, einen Geldbetrag zugunsten einer gemeinnützigen Einrichtung oder der Staatskasse zu zahlen oder die Weisung, sich einer ambulanten Heilbehandlung zu unterziehen (§ 59a StGB). Sanktionierenden Charakter haben insoweit lediglich Schuldspruch, Verwarnung und die Auflagen oder Weisungen; um eine Bestrafung im Rechtssinne handelt es sich bei "Verwarnung mit Strafvorbehalt" nicht, denn die Geldstrafe bleibt ja gerade vorbehalten. Bewährt sich der Täter, so bleibt es bei der Verwarnung; der Täter bleibt also nicht nur von der Strafvollstreckung, sondern auch von einer Verurteilung zu Strafe verschont (§ 59b II StGB). Bei Nichtbewährung kann ihn das Gericht zu der vorbehaltenen Geldstrafe verurteilen (§ 59b I StGB).
Im Bereich der Strafen differenziert das StGB zwischen Haupt- und Nebenstrafen. Hauptstrafen sind die Freiheitsstrafe (§§ 38, 39 StGB) und die Geldstrafe (§§ 40-43 StGB). Als Nebenstrafe ist das Fahrverbot (§ 44 StGB) ausgestaltet.
Die (einheitliche) Freiheitsstrafe kann entweder eine zeitige oder eine lebenslange sein.
Die lebenslange Freiheitsstrafe ist teils als absolute (Mord [§ 211 StGB]), teils als wahlweise Sanktion angedroht (z.B. bei Vorbereitung eines Angriffskrieges [§ 80 StGB], Hochverrat [§ 81 StGB], besonders schwerem Totschlag [§ 212 II StGB], sexuellem Missbrauch von Kindern mit Todesfolge [§ 176b StGB], sexueller Nötigung und Vergewaltigung mit Todesfolge [§ 178 StGB], Raub mit Todesfolge [§ 251 StGB], Brandstiftung mit Todesfolge [§ 306c StGB], räuberischem Angriff auf Kraftfahrer mit Todesfolge [§ 316a III StGB]). Nach Abschaffung der Todesstrafe ist die lebenslange Freiheitsstrafe die schwerste Strafe des deutschen Strafrechts. Das Bundesverfassungsgericht hat die Verfassungsmässigkeit der absoluten Strafandrohung für Mord bejaht, jedoch eine restriktive Auslegung des Mordtatbestandes und eine rechtliche Regelung der Strafrestaussetzung gefordert (BVerfGE 45, 187; www.oefre.unibe.ch/law/dfr/bv045187.html). 1981 wurde in Erfüllung verfassungsgerichtlicher Vorgaben durch § 57a StGB die Strafrestaussetzung auch bei lebenslanger Freiheitsstrafe nach einer Strafverbüssung von 15 Jahren zugelassen (zur verfassungskonformen Auslegung des § 57a StGB vgl. BVerfGE 86, 288, aus der Literatur statt vieler Müller-Dietz: Lebenslange Freiheitsstrafe und bedingte Entlassung, Jura 1994, 72 ff.).
Die zeitige Freiheitsstrafe beträgt im Mindestmass einen Monat, im Höchstmass 15 Jahre (§ 38 II StGB). Innerhalb dieses allgemeinen Rahmens werden durch die Strafrahmen der Straftatbestände Höchst- und Mindeststrafen festgelegt und damit dem Rang der strafrechtlich geschützten Rechtsgüter Rechnung getragen. Die kurze Freiheitsstrafe (unter sechs Monaten) ist gegenüber der Geldstrafe ultima ratio (§ 47 StGB). Sie darf nur verhängt werden, "wenn besondere Umstände, die in der Tat oder der Persönlichkeit des Täters liegen, die Verhängung einer Freiheitsstrafe zur Einwirkung auf den Täter oder zur Verteidigung der Rechtsordnung unerlässlich machen." Ansonsten ist auf Geldstrafe zu erkennen.
Die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe, die zwei Jahre nicht übersteigt, kann zur Bewährung ausgesetzt werden; eine teilbedingte Freiheitsstrafe kennt das deutsche Recht nicht. Bei Strafen unter sechs Monaten entscheidet gem. § 56 I i.V.m. III StGB allein die günstige Sozialprognose, d.h. die Erwartung, dass die Rückfallwahrscheinlichkeit bei Aussetzung der Vollstreckung (gegebenenfalls unter Anordnung von Bewährungsmassnahmen, namentlich unter der Einwirkung eines Bewährungshelfers) geringer sein werde als bei Vollstreckung der Freiheitsstrafe (vergleichende Interventionsprognose). Bei Strafen zwischen sechs Monaten und einem Jahr wird die Vollstreckung auch bei günstiger Prognose nicht ausgesetzt, wenn generalpräventive Notwendigkeiten ("Verteidigung der Rechtsordnung") entgegenstehen (§ 56 III StGB). Strafen zwischen einem Jahr und zwei Jahren können ausgesetzt werden, "wenn nach der Gesamtwürdigung von Tat und Persönlichkeit des Verurteilten besondere Umstände vorliegen" (§ 56 II StGB). Bei Strafaussetzung zur Bewährung wird eine Bewährungszeit zwischen zwei und fünf Jahren festgesetzt (§ 56a StGB), wobei diese Dauer nachträglich verlängert oder verkürzt werden kann. Dem Verurteilten können Auflagen und Weisungen erteilt werden. Auflagen, wie z.B. Schadenswiedergutmachung, Zahlung eines Geldbetrages an eine gemeinnützige Einrichtung oder zugunsten der Staatskasse, dienen "der Genugtuung für das begangene Unrecht" (§ 56b StGB). Weisungen dienen ausschliesslich dem Zweck, Straftaten des Verurteilten in Zukunft zu verhüten. Als solche kommen in Betracht die Unterstellung unter die Aufsicht und Leitung eines Bewährungshelfers (§ 56d StGB); weitere Beispiele für Weisungen sind "Anordnungen zu befolgen, die sich auf Aufenthalt, Ausbildung, Arbeit oder Freizeit oder auf die Ordnung seiner wirtschaftlichen Verhältnisse" beziehen, bestimmte Gegenstände nicht zu besitzen, die "Gelegenheit oder Anreiz zu weiteren Straftaten bieten können", oder Unterhaltspflichten zu erfüllen (§ 56c StGB). Wenn der Verurteilte die Erwartungen nicht erfüllt, die mit der Strafaussetzung zur Bewährung verbunden sind, z.B. durch eine erneute einschlägige Straftat, kommt entweder eine Modifikation der Bedingungen der Aussetzung (§ 56f II StGB), also z.B. die Erteilung weiterer Auflagen oder Weisungen bzw. die Verlängerung der Bewährungszeit , oder, wenn dies nicht erfolgversprechend erscheint, der Widerruf der Aussetzung (§ 56f I StGB) in Betracht mit der Folge, dass nunmehr die verhängte Freiheitsstrafe zu vollstrecken ist. Ansonsten wird die Strafe, d.h. die verhängte Freiheitsstrafe, erlassen (§ 56g StGB).
Sowohl bei zeitiger als auch bei lebenslanger Freiheitsstrafe besteht die Möglichkeit, die Vollstreckung eines Strafrestes zur Bewährung auszusetzen (§§ 57, 57a StGB). Hat der zu zeitiger Freiheitsstrafe Verurteilte zwei Drittel der verhängten Strafe, mindestens aber zwei Monate verbüsst, ist seine bedingte Entlassung bei günstiger Prognose (wenn, so die jetzige Fassung durch das Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten von 1999, "dies unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwortet werden kann", durch das die bisherige Fassung "wenn ... verantwortet werden kann zu erproben, ob der Verurteilte ausserhalb des Strafvollzugs keine Straftaten mehr begehen wird" ersetzt wurde) obligatorisch (§ 57 I StGB); hat er die Hälfte der Strafe, mindestens aber sechs Monate verbüsst, ist eine bedingte Entlassung fakultativ möglich, wenn darüber hinaus noch "besondere Umstände" vorliegen (§ 57 II StGB). Gemäss der Forderung des Bundesverfassungsgerichts, auch der zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilte müsse eine Chance haben, wieder ein Leben in Freiheit führen zu können (BVerfGE 45, 187; http://www.oefre.unibe.ch/law/dfr/bv045187.html), wurde in § 57a StGB die Aussetzung des Strafrestes bei lebenslanger Freiheitsstrafe normiert. Voraussetzungen sind die Verbüssung von mindestens 15 Jahren der Strafe, des Weiteren, dass nicht die - vom erkennenden Gericht festzustellende (BVerfGE 86, 288) - "besondere Schwere der Schuld des Verurteilten die weitere Vollstreckung gebietet" und dass schliesslich eine günstige Prognose i.S. von § 57 I StGB vorliegt. In die Aussetzung des Strafrestes sowohl einer zeitigen als auch einer lebenslangen Freiheitsstrafe muss der Verurteilte einwilligen.
Die Geldstrafe wird in Tagessätzen (§ 40 StGB) verhängt, d.h. festgelegt wird zunächst, und zwar nach den allgemeinen Strafzumessungskriterien des § 46 StGB, die Zahl der Tagessätze (§ 40 I StGB). Sodann wird die Höhe eines Tagessatzes bestimmt, die sich nach den persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen des Täters richtet; in der Regel ist hierfür "von dem Nettoeinkommen (auszugehen), das der Täter an einem Tag hat oder haben könnte" (§ 40 II StGB). Die Mindestzahl der Tagessätze beträgt fünf (§ 40 Abs 1 StGB), die Höchstzahl im Regelfall 360 Tagessätze, bei einer Gesamtstrafe 720 Tagessätze (§ 54 II Satz 2 StGB). Die Höhe eines Tagessatzes beläuft sich auf mindestens einen und höchstens 5.000 €; (§ 40 II StGB). Die zu zahlende Geldstrafe ergibt sich als Produkt aus Zahl und Höhe der Tagessätze, also maximal 1.800.000 € bzw. - bei Gesamtstrafen (§ 54 II S. 2 StGB) - 3.600.000 €. Durch die getrennte und nach unterschiedlichen Kriterien erfolgende Bemessung von Zahl und Höhe der Tagessätze soll der Strafzumessungsvorgang transparenter werden, zugleich soll die Geldstrafe gerechter werden, weil Opfergleichheit für wirtschaftlich unterschiedlich situierte Täter geschaffen wird. Ist dem Verurteilten nicht zuzumuten, die Geldstrafe sofort zu zahlen, sind ihm Zahlungserleichterungen (Stundung, Ratenzahlung) zu gewähren (§ 42 StGB), u.U. auch nachträglich (§ 459a StPO). Zahlungserleichterungen können auch dann gewährt werden, wenn ohne sie die Schadenswiedergutmachung durch den Verurteilten erheblich gefährdet wäre.
Eine Aussetzung der Vollstreckung der Geldstrafe zur Bewährung sieht das StGB nicht vor. Eine ähnliche Wirkung ist jedoch im Anwendungsbereich der Geldstrafe bis zu 180 Tagessätzen durch die Verwarnung mit Strafvorbehalt (§§ 59 ff. StGB) zu erreichen.
Wenn die Geldstrafe weder freiwillig bezahlt wird noch im Wege der Zwangsvollstreckung beigetrieben werden kann bzw. wenn die Beitreibung wegen Aussichtslosigkeit unterblieben ist, dann tritt an ihre Stelle eine Ersatzfreiheitsstrafe (§ 43 StGB). Hierbei entspricht ein Tagessatz einem Tag Freiheitsstrafe. Die Vollstreckung dieser Ersatzfreiheitsstrafe kann jedoch dann unterbleiben, wenn das Gericht dies wegen einer "unbilligen Härte" für den Verurteilten anordnet (§ 459f StPO). Ist der Verurteilte einverstanden, dann kann er anstelle der Ersatzfreiheitsstrafe gemeinnützige Arbeit leisten und auf diese Weise die Geldstrafe tilgen (Art. 293 EGStGB).
Das Fahrverbot (§ 44 StGB) ist als Nebenstrafe ausgestaltet, die neben einer Freiheits- oder einer Geldstrafe verhängt werden kann. Das Fahrverbot kann nur verhängt werden für Taten, die bei oder im Zusammenhang mit dem Führen eines Kraftfahrzeugs oder unter Verletzung der Pflichten eines Kraftfahrzeugführers begangen werden. Erwogen wird derzeit, das Fahrverbot als Neben- oder gar als Hauptstrafe auf alle Straftaten auszudehnen.
Das Fahrverbot dient dazu, nachlässige oder leichtsinnige Kraftfahrer, die noch als geeignet für die Teilnahme am Verkehr erscheinen, nachdrücklich zu warnen. Im Unterschied zur Entziehung der Fahrerlaubnis (§ 69 StGB), einer Massregel der Besserung und Sicherung, die dem Ziel dient, ungeeignete Fahrzeugführer vorübergehend oder auf Dauer von der Verkehrsteilnahme als Kraftfahrer auszuschliessen, behält beim Fahrverbot der Verurteilte die Fahrerlaubnis. Die Nebenstrafe besteht in dem Verbot, für die Dauer von einem Monat bis zu drei Monaten, "im Strassenverkehr Kraftfahrzeuge jeder oder einer bestimmten Art zu führen". Die Verletzung dieses Verbots ist strafbewehrt (§ 21 StVG).
Diese als Nebenstrafe eigener Art ausgestaltete Vermögensstrafe sollte vor allem als Waffe im Kampf gegen "organisierte Kriminalität" dienen. Das Gericht sollte "neben einer lebenslangen oder einer zeitigen Freiheitsstrafe von mehr als zwei Jahren auf Zahlung eines Geldbetrages erkennen (können), dessen Höhe durch den Wert des Vermögens des Täters begrenzt ist (Vermögensstrafe)" (§ 43a I S. 1 StGB). Die Vermögensstrafe war für solche Delikte vorgesehen, die typischerweise (auch) durch organisierte Gruppen begangen werden, wie z.B. Betäubungsmittelkriminalität, Geld- und Wertzeichenfälschung, Menschenhandel und Zuhälterei, Diebstahl, Erpressung, Hehlerei, Geldwäsche und Glücksspiel, sofern der Täter das Delikt als Mitglied einer Bande begangen hat. Das BVerfG hat mit Urteil vom 20.03.2002 - 2 BvR 794/95 - § 43a StGB wegen Unvereinbarkeit mit dem Gebot der Gesetzesbestimmtheit (Art. 103 II GG) insgesamt für nichtig erklärt (BVerfGE 105, 135-185; http://www.bverfg.de/entscheidungen/rs20020320_2bvr079495.html)
Neben den eigentlichen Strafen kennt das StGB als Nebenfolgen den Verlust der Amtsfähigkeit, der Wählbarkeit und des Stimmrechts (§§ 45 ff. StGB), ferner die Bekanntgabe der Verurteilung (§§ 165, 200 StGB).
Unter dem Begriff der Massnahmen (§ 11 I Nr. 8 StGB) werden zusammengefasst die Massregeln der Besserung und Sicherung (§§ 61 ff. StGB), der Verfall, die Einziehung und die Unbrauchbarmachung (§§ 73 ff. StGB).
Auf eine Massregel der Besserung und Sicherung kann entweder neben einer Strafe oder selbständig – bei schuldunfähigen Tätern – erkannt werden. Die Massregeln der Besserung und Sicherung knüpfen an die Gefährlichkeit des Täters an und dienen, wenngleich aus Anlass einer begangenen Straftat verhängt, ausschliesslich dem Schutz der Allgemeinheit vor zukünftigen Taten. Durch therapeutische oder pädagogische Einwirkung soll die Tätergefährlichkeit beseitigt, durch Isolierung des Täters oder durch Ausschluss von bestimmten Tätigkeiten soll die Gesellschaft vor dem Täter gesichert werden. Das geltende Strafrecht kennt als Massregeln mit dem vorwiegenden Ziel der Besserung die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) oder in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB). Vorwiegend der Sicherung dienen die Sicherungsverwahrung (§ 66 StGB), die Entziehung der Fahrerlaubnis (§ 69 StGB) und das Berufsverbot (§ 70 StGB). Sowohl Sicherungs- als auch Besserungsfunktion hat die Führungsaufsicht (§ 68 StGB).
Die bei der Strafrechtsreform 1969 als „Kernstück“ des Massregelrechts vorgesehene „Unterbringung in einer sozialtherapeutischen Anstalt"„ (§ 65 StGB a.F.) ist nach längerer Erprobungszeit nicht als Massregel verankert worden. Vielmehr hat der Gesetzgeber die „Vollzugslösung“ (§ 9 Strafvollzugsgesetz) gewählt, wonach ein Gefangener mit seiner Zustimmung in eine therapeutische Anstalt verlegt werden kann, wenn eine entsprechende Behandlung angezeigt erscheint.
Im Massregelbereich kommt dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit (§ 62 StGB) dieselbe begrenzende Wirkung zu, wie sie bei Strafen durch das Schuldprinzip erzielt wird. Sämtliche Massregeln erfordern ferner eine Prognose hinsichtlich der zukünftigen Gefährlichkeit des Täters.
Ihrem Ziel entsprechend sind einige dieser Massregeln mit Freiheitsentzug verbunden, nämlich
· die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB),
· die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB),
· die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung (§ 66 StGB).
Am 20.07.2007 ist das Gesetz zur Sicherung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus und in einer Entziehungsanstalt (BGBl I 2007, 1327) in Kraft getreten, durch das die rechtlichen Rahmenbedingungen für den Massregelvollzug verbessert, Sicherheitslücken geschlossen und die knappen Ressourcen der Vollzugseinrichtungen effektiver genutzt werden sollen. Insbesondere die neuen Voraussetzungen für die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt und die Möglichkeit zur Umkehrung der bisherigen Vollstreckungsreihenfolge "Massregel vor Strafe" entsprechen langjährigen Forderungen. So können künftig Anordnung und Fortdauer der Unterbringung von einem zu erwartenden Behandlungserfolg - also der Vermeidung von Rückfalltaten - abhängig gemacht werden, um zu verhindern, dass Täter mit ungünstigen Ausgangsbedingungen kostenintensive Therapieplätze blockieren. Bei gleichzeitig verhängter Haftstrafe und Massregel darf unter bestimmten Voraussetzungen die Haft vorweg vollzogen werden.
Vor allem die Sicherungsverwahrung als "eine der letzten Notmassnahmen der Kriminalpolitik" (Schriftlicher Bericht des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform – BT-Drs. V/4094, S. 19) war und ist eine der kriminalpolitisch umstrittensten Massnahmen (zusammenfassend Kinzig, J., Die Sicherungsverwahrung auf dem Prüfstand, 1996). Durch das 1. StrRG 1969 wurden die Anforderungen an die Anordnung von Sicherungsverwahrung verschärft, um deren ultima ratio-Charakter deutlicher zu betonen. Durch das unter dem Eindruck von zwei Sexualmorden an Kindern entstandene "Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten" wurden 1998 die Anordnungsvoraussetzungen für Sicherungsverwahrung wieder abgesenkt, freilich ohne Beschränkung auf schwere Sexualdelikte. Vor allem wegen der prognostischen Unsicherheiten hat diese Regelung in der Wissenschaft überwiegend Ablehnung erfahren (statt vieler Schöch, H., Das Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26. 1. 1998, NJW 1998, 1261).
Umstritten blieb die Reaktion auf eine kleine Gruppe von Straftätern, deren Gefährlichkeit zwar zum Zeitpunkt des Urteils nicht mit der erforderlichen Sicherheit prognostiziert werden konnte oder worden war, deren Gefährlichkeit aber zum Zeitpunkt der Entlassung aus dem Vollzug der Freiheitsstrafe prognostisch gesichert schien. Zunächst führten ab 2001 einige Bundesländer, gestützt auf Polizeirecht, durch sog. Straftäterunterbringungsgesetze eine "nachträgliche Sicherungsverwahrung" ein. Durch das „Gesetz zur Einführung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung“ vom 7.6.2002 (BGBl. I, 3344) schuf der Bundesgesetzgeber durch § 66a StGB die Möglichkeit für das erkennende Gericht, in bestimmten Fällen die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung vorzubehalten und deren endgültige Anordnung der Strafvollstreckungskammer zu überlassen, wenn nach Teilverbüssung der Freiheitsstrafe die Gefährlichkeit des Täters feststeht. Zwei der Straftäterunterbringungsgesetze der Bundesländer hat das Bundesverfassungsgericht mit Urteil vom 10. Februar 2004 (2 BvR 834/02; 2 BvR 1588/02; http://www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/rs20040210_2bvr083402.html) nunmehr für unvereinbar mit der Kompetenzordnung des Grundgesetzes erklärt.
Innerhalb der vom BVerfG eingeräumten Übergangsfrist wurde durch das „Gesetz zur Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung“ vom 23. Juli 2004 (BGBl. I S. 1838) § 66b StGB eingefügt. Danach ist künftig in bestimmten Fallkonstellationen auch eine nachträgliche Sicherungsverwahrung – ohne vorherigen Urteilsvorbehalt – zulässig, sofern sich entweder der Täter noch im Vollzug der Freiheitsstrafe befindet oder seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus für erledigt erklärt wird, weil nach Beginn der Vollstreckung festgestellt wurde, dass der krankheitsbedingte Zustand, auf dem die Unterbringung beruht, nicht oder nicht mehr vorliegt. Durch das Zweite Gesetz zur Modernisierung der Justiz von 2007 wurde die Möglichkeit geschaffen, auch für sog. „Altfälle“ künftig nachträglich Sicherungsverwahrung anzuordnen.
Die Führungsaufsicht dient der Überwachung und Betreuung vor allem von solchen Verurteilten, die ihre Strafe voll verbüsst haben oder aus einer Klinik für psychisch oder suchtkranke Straftäter entlassen wurden. Durch das Gesetz zur Reform der Führungsaufsicht und zur Änderung der Vorschriften über die nachträgliche Sicherungsverwahrung vom 13. April 2007 (BGBl I, S. 513) wurde die Führungsaufsicht (§§ 68 ff. StGB) reformiert mit dem Ziel, dass künftig eine wirksamere Kontrolle der Lebensführung von Straftätern vor allem in den ersten drei Jahren nach ihrer Entlassung in Freiheit möglich sein wird; die Führungsaufsicht ist nunmehr sogar auf unbefristete Zeit möglich (§ 68c III StGB). Ferner wurde die Möglichkeit einer stationären Krisenintervention bei Personen geschaffen, deren Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus oder in einer Entziehungsanstalt zur Bewährung ausgesetzt ist (§ 67h StGB).
Sonstige Massnahmen sind insbesondere Verfall und Einziehung.
· Durch den Verfall (§ 73 StGB) - einschliesslich des Erweiterten Verfalls (§ 73d StGB) - soll ein unrechtmässig erlangter Vermögenszuwachs abgeschöpft werden. Voraussetzung ist die Begehung einer rechtswidrigen, nicht notwendig schuldhaften Tat, durch die der Täter oder Teilnehmer "für die Tat oder aus ihr etwas erlangt" hat (§ 73 I, S. 1 StGB).
· Gegenstände, die durch eine vorsätzliche Tat "hervorgebracht oder zu ihrer Begehung oder Vorbereitung gebraucht worden oder bestimmt gewesen sind" (§ 74 I StGB), können eingezogen werden (§§ 74 ff. StGB).
Strafrechtliche Folgen (nach JGG) Absehen von Strafe § 60 StGB Hauptfolgen Erziehungsmassregeln § 9 JGG Weisung § 10 JGG Erziehungsbeistandschaft § 12 JGG Heimerziehung § 12 JGG Zuchtmittel § 13 JGG Verwarnung § 14 JGG Auflagen § 15 JGG Jugendarrest § 16
JGG Jugendstrafe § 17 JGG Aussetzung der Verhängung
§ 27 JGG bei Jugendstrafe Verhängung der
Jugendstrafe § 17 JGG wg: Strafaussetzung zur
Bewährung Unbedingt verhängte Jugendstrafe Nebenfolgen Fahrverbot § 44 StGB Massnahmen (§ 11 I Nr. 8 StGB) Massregeln der Besserung und Sicherung §§ 7 JGG, 61 ff StGB Freiheitsentziehende Massregeln - Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus § 63 StGB - Unterbringung in einer Entziehungsanstalt § 64 StGB Massregeln ohne Freiheitsentzug - Führungsaufsicht §§ 68-68g StGB - Entziehung der Fahrerlaubnis §§ 69-69b StGB Andere Massnahmen Verfall §§ 6 JGG, 73-73e StGB Einziehung §§ 6 JGG, 74, 75 StGB Unbrauchbarmachung §§ 6 JGG, 74d StGB
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Schaubild 2: Strafrechtliche Folgen (nach JGG)
Mit dem 1923 geschaffenen Jugendgerichtsgesetz (JGG) wurde erstmals in Deutschland ein Sonderstrafrecht für junge Täter geschaffen. In das JGG in der seit 1953 geltenden Fassung sind - bezogen auf das Alter zur Zeit der Tat - Jugendliche (14- bis unter 18-Jährige) und Heranwachsende (18- bis unter 21-Jährige) einbezogen. Die jugendspezifischen Rechtsfolgen des JGG, d.h. materielles Jugendstrafrecht, sind auf einen Heranwachsenden aber nur anzuwenden, wenn dieser entweder "zur Zeit der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung noch einem Jugendlichen gleichstand" oder wenn es sich um eine "Jugendverfehlung" handelt (§ 105 I JGG).
Das Rechtsfolgensystem des JGG besteht aus einem abgegrenzten Kreis von Reaktionsmitteln, von denen keines mehr in Abhängigkeit vom allgemeinen Strafrecht steht (§§ 5 ff. JGG). Das JGG kennt drei Kategorien von formellen Rechtsfolgen, nämlich Erziehungsmassregeln, Zuchtmittel und Jugendstrafe. Ferner sind auch im Jugendstrafrecht einige der Nebenfolgen des StGB, insbesondere die Erteilung eines Fahrverbots, und einige der Massregeln der Besserung und Sicherung (§§ 6, 7 JGG) zulässig.
Erziehungsmassregeln sind die nicht "wegen", sondern die "aus Anlass der Straftat" anzuordnenden Massnahmen, deren Zweck nicht in der Ahndung der Tat, sondern ausschliesslich in der Erziehung des Täters bestehen soll. Als Erziehungsmassregeln kennt das JGG Weisungen (§ 10 JGG) und Hilfe zur Erziehung (§ 12 JGG).
· Weisungen sind "Gebote und Verbote, welche die Lebensführung des Jugendlichen regeln und dadurch seine Erziehung fördern und sichern sollen". Beispielhaft aufgeführt sind Weisungen, die sich auf den Aufenthaltsort des Jugendlichen beziehen, ferner die Weisung, sich der Betreuung und Aufsicht einer bestimmten Person zu unterstellen, an einem sozialen Trainingskurs teilzunehmen oder sich um einen Täter-Opfer-Ausgleich zu bemühen. Besonders hervorgehoben ist die Weisung, sich einer heilerzieherischen Behandlung oder einer Entziehungskur zu unterziehen (§ 10 II JGG).
· Als Hilfe zur Erziehung kommen Erziehungsbeistandschaft oder Heimerziehung bzw. Erziehung in einer sonstigen betreuten Wohnform (§ 12 JGG i.V.m. §§ 30, 34 Kinder- und Jugendhilfegesetz) in Betracht.
Als Reaktionen ahndenden Charakters kennt das JGG Zuchtmittel, und zwar die Verwarnung, die Auflagen und den Jugendarrest.
· Verwarnung ist das förmliche Vorhalten des Unrechts der Tat (§ 14 JGG).
· Auflagen sind nicht nur eine gesteigerte Form der Verwarnung insofern, als dem Täter das Einstehen für das Unrecht der Tat durch eine von ihm zu erbringende Leistung deutlich werden soll, sondern sie dienen auch der Genugtuung des Verletzten. Auflagen können nämlich sein, "nach Kräften den durch die Tat verursachten Schaden wiedergutzumachen, sich persönlich bei dem Verletzten zu entschuldigen, Arbeitsleistungen zu erbringen oder einen Geldbetrag zugunsten einer gemeinnützigen Einrichtung zu zahlen" (§ 15 JGG).
· Der Jugendarrest als stationärer Freiheitsentzug dient als "Denkzettelstrafe". Er kann in Form des Freizeitarrests, des Kurzarrests (höchstens 4 Tage) sowie des Dauerarrests (mindestens 1 Woche und höchstens 4 Wochen) verhängt werden (§ 16 JGG).
Die Jugendstrafe ist die einzige echte Kriminalstrafe des Jugendstrafrechts. Dieser "Freiheitsentzug in einer Jugendstrafanstalt" (§ 17 I JGG) kann zum einen verhängt werden, "wenn wegen der schädlichen Neigungen des Jugendlichen, die in der Tat hervorgetreten sind, Erziehungsmassregeln oder Zuchtmittel zur Erziehung nicht ausreichen", zum anderen, "wenn wegen der Schwere der Schuld Strafe erforderlich ist" (§ 17 II JGG). Obwohl es sich um eine Kriminalstrafe handelt, soll der Erziehungsgedanke bei der Verhängung eine wesentliche (§ 18 II JGG) und beim Vollzug gar eine dominierende Rolle spielen (§ 91 JGG).
Die Dauer der Jugendstrafe beträgt mindestens 6 Monate und (bei Jugendlichen) höchstens 5 Jahre; das Höchstmass beträgt jedoch 10 Jahre, wenn nach allgemeinem Strafrecht eine Höchststrafe von mehr als 10 Jahren Freiheitsstrafe angedroht ist (§ 18 I JGG). Bei Heranwachsenden beträgt das Höchstmass in jedem Fall 10 Jahre (§ 105 III JGG).
Das JGG kennt mehrere Bewährungsstrafen: die Aussetzung der Verhängung der Jugendstrafe (§§ 27 ff. JGG), die Aussetzung der Vollstreckung der Jugendstrafe zur Bewährung (§§ 21 ff. JGG) sowie die Strafrestaussetzung zur Bewährung (§ 88 JGG). Auf richterlicher Rechtsfortbildung beruht die sog. Vorbewährung. In den gesetzlich geregelten Fällen ist die Unterstellung unter die Aufsicht und die Leitung eines Bewährungshelfers (§ 24 JGG) während einer vom Richter zu bestimmenden Bewährungszeit von maximal 3 (§ 22 JGG) bzw. 2 Jahren (§ 28 JGG) obligatorisch. Weisungen sollen und Auflagen können erteilt werden (§ 23 JGG).
· Die Aussetzung der Verhängung der Jugendstrafe kommt in Betracht, wenn "nach Erschöpfung der Ermittlungsmöglichkeiten nicht mit Sicherheit beurteilt werden (kann), ob in der Straftat eines Jugendlichen schädliche Neigungen von einem Umfang hervorgetreten sind, dass eine Jugendstrafe erforderlich ist" (§ 27 JGG); der Richter kann dann die Schuld des Jugendlichen feststellen, die Entscheidung über die Verhängung der Jugendstrafe aber für eine von ihm zu bestimmende Zeit zur Bewährung aussetzen.
· Die Vollstreckung einer Jugendstrafe von nicht mehr als zwei Jahren kann bei günstiger Sozialprognose ("wenn zu erwarten ist, dass der Jugendliche sich schon die Verurteilung zur Warnung dienen lassen und auch ohne die Einwirkung des Strafvollzugs unter der erzieherischen Einwirkung in der Bewährungszeit künftig einen rechtschaffenen Lebenswandel führen wird") zur Bewährung ausgesetzt werden (§ 21 JGG).
· Ferner kann die Vollstreckung des Restes der Jugendstrafe zur Bewährung ausgesetzt werden (§ 88 JGG).
· Die durch richterliche Rechtsfortbildung entwickelte sogenannte Vorbewährung im Sinne von § 57 JGG ist schliesslich eine weitere Form einer Bewährungssanktion. Danach zögert das Gericht die endgültige Aussetzungsentscheidung für einige Monate hinaus und unterstellt den Jugendlichen vorläufig der Bewährungshilfe, um im Falle der Bewährung die endgültige Aussetzung nach § 21 JGG zu beschliessen.
· Bei Jugendlichen, also bei zur Tatzeit 14, aber noch nicht 18 Jahre alten Personen, können derzeit die folgenden Massregeln der Besserung und Sicherung im Sinne des allgemeinen Strafrechts angeordnet werden:
· die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, die
· die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt,
· die Führungsaufsicht oder die Entziehung der Fahrerlaubnis.
Der vom Bundeskabinett im Juli 2007 verabschiedete Entwurf eines Gesetzes zur Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung bei Verurteilungen nach Jugendstrafrecht sieht die Möglichkeit einer nachträglichen Sicherungsverwahrung in Fällen schwerster Verbrechen gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit oder die sexuelle Selbstbestimmung sowie in Fällen von Raub- oder Erpressungstaten mit Todesfolge bei Jugendlichen und bei nach Jugendstrafrecht verurteilten Heranwachsenden vor.
· Bei Heranwachsenden, also bei zur Tatzeit 18, aber noch nicht 21 Jahre alten Personen, die nach Jugendstrafrecht verurteilt werden, ist derzeit Sicherungsverwahrung nicht anordenbar; entsprechend dem RegE der Bundesregierung soll künftig die nachträgliche Sicherungsverwahrung möglich sein. Bei nach allgemeinem Strafrecht verurteilten Heranwachsenden ist durch das Gesetz zur Änderung der Vorschriften über die Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung und zur Änderung anderer Vorschriften vom 27.12.2003 (BGBl I, S. 3007) die Möglichkeit eingeführt worden, eine vorbehaltene Sicherungsverwahrung anzuordnen (§ 106 III JGG).
Das in den 1960er Jahren in die kriminalpolitische Diskussion eingeführte Konzept der "Diversion" meint "Ablenkung", "Umleitung" oder "Wegführung" des Straftäters vom System formeller Sozialkontrolle. Verbunden werden damit verschiedene - personenbezogene und systembezogene - Ziele: Vermeidung von Stigmatisierung der Betroffenen durch Abbau formeller Verfahren, schnellere Reaktion, damit der Bezug zwischen Tat und Reaktion erhalten bleibt, flexiblere Problemlösungshilfen für die Betroffenen, Abbau überschiessender formeller Sozialkontrolle, Entlastung der Justiz (vgl. Heinz, Diversion im Jugendstrafverfahren, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft, 1992, S. 591 ff.; Heinz, Diversion im Jugendstrafrecht und im allgemeinen Strafrecht - Teil 1, DVJJ-Journal 1999, 245 ff., Teil 2, DVJJ-Journal 1999, 11 ff., Teil 3, DVJJ-Journal 1999, 131 ff., Teil 4, DVJJ-Journal 1999, 261 ff.; Heinz, Zahlt sich Milde wirklich aus? Diversion und ihre Bedeutung für die Sanktionspraxis, ZJJ 2005,166 ff., 302 ff.).
Innerhalb der durch das Prinzip der Unschuldsvermutung, durch den Schuldgrundsatz und durch das Legalitätsprinzip bestimmten deutschen Rechtsordnung hielt der Gesetzgeber bislang nur solche Diversionsstrategien für zulässig, die entweder auf eine möglichst geringe staatliche Sanktion (z.B. Ersetzung stationärer durch ambulante Sanktionen) oder auf Alternativen zur Anklage oder zur Verurteilung (Ersetzung formeller durch informelle Sanktionen) hinauslaufen. Hierzu wurden die prozessualen Möglichkeiten der Verfahrenseinstellung im staatsanwaltschaftlichen Vorverfahren, im gerichtlichen Zwischen- oder im Hauptverfahren genutzt. Die deutsche Variante von Diversion besteht demnach in Verfahrenseinstellungen, die - bei hinreichendem Tatverdacht und bei Vorliegen der Prozessvoraussetzungen - an die Stelle einer Anklage (staatsanwaltliche Diversion) oder einer Verurteilung (richterliche Diversion) treten.
Bei der ohne Auflagen/Weisungen erfolgenden Einstellung (§§ 153, 153b StPO, §§ 45 I, 47 I Nr.1 JGG) handelt es sich - strafrechtlich gesehen - um einen spezialpräventiv orientierten Sanktionsverzicht. Im sozialwissenschaftlichen Sinne handelt es sich indes um eine informelle Sanktionierung, und zwar schon wegen des durchgeführten Ermittlungsverfahrens, des damit regelmässig verbundenen Bekanntwerdens der Tat in der Familie und im sozialen Umfeld, vor allem wegen der faktisch bestehenden Belastung für den Beschuldigten, weiterhin als hinreichend tatverdächtig zu gelten. Einstellungen unter Auflagen/Weisungen (§ 153a StPO, §§ 45 II, III, 47 I Nr. 2, 3 JGG) sind im strafrechtlichen Sinne ebenfalls keine Strafen, es handelt sich vielmehr um eine einverständliche Sanktionierung, weil der Tatverdächtige die Auflagen oder Weisungen freiwillig erfüllt, so dass deren Verhängung durch Urteil überflüssig wird. Insofern kann nicht nur im sozialwissenschaftlichen, sondern auch im strafrechtlichen Sinne von einer Sanktionierung gesprochen werden.
Erst bei dieser Betrachtung der Funktionen der §§ 153, 153a, 153b StPO, §§ 45, 47 JGG wird deutlich, dass es sich nicht bloss um Verfahrensvorschriften handelt. Sie gehören vielmehr (auch) zur Rechtsfolgenseite. Dementsprechend reicht das (jugend)strafrechtliche Reaktionsspektrum von der - aus justitieller Sicht - folgenlosen Reaktion (§§ 153, 153b StPO, §§ 45 I, 47 I Nr. 1 JGG) bis zur nicht ausgesetzten Freiheits- bzw. Jugendstrafe.
Als Diversionsmöglichkeiten sieht die deutsche Rechtsordnung derzeit vor:
· Diversion durch Staatsanwaltschaft (StA) oder Gericht in Verfahren wegen leichterer und mittlerer Kriminalität (§§ 153 ff. StPO). Praktisch bedeutsam sind vor allem zwei Einstellungsgründe:
· Diversion zu Therapiezwecken in Verfahren gegen Drogenabhängige (§§ 29 V, 31a, 37, 38 II BtMG).
· Diversion in Privatklageverfahren (§§ 374 ff. StPO, § 80 JGG).
· Diversion durch StA oder Gericht in Verfahren gegen Jugendliche oder Heranwachsende (§§ 45, 47, 109 II JGG), wenn die informelle Erledigung zur Erreichung des spezialpräventiven Ziels des Jugendstrafrechts ausreichend und geeignet ist, und zwar - im Unterschied zum allgemeinen Strafrecht - unabhängig von Deliktsart oder -schwere, also auch bei Verbrechen (ausgenommen § 45 I, JGG).
·
Ein
Absehen von
der Verfolgung durch den Staatsanwalt hat - ebenfalls unabhängig von
der
Deliktsschwere, also auch bei Verbrechen - Vorrang vor einer
Einstellung durch
den Richter. Sind - ausserjustitiell - keine "erzieherischen
Massnahmen"
durchgeführt oder eingeleitet, so kann nämlich der Staatsanwalt selbst
die
Voraussetzungen für ein Absehen von der Verfolgung schaffen, z.B.
durch ein
"Ermahnungsgespräch" oder durch die Anregung zu Leistungen, wie sie
auch der Richter nach § 45 III JGG
auferlegen kann.
Erfolgte entweder keine erzieherische Massnahme oder wird diese vom
Staatsanwalt spezialpräventiv für nicht ausreichend erachtet, hält er
andererseits aber die Erhebung der Anklage für nicht geboten, dann regt
er beim
Jugendrichter die Erteilung einer Ermahnung, von enumerativ
aufgeführten
Weisungen (Arbeitsleistung, Täter-Opfer-Ausgleich, Teilnahme an
Verkehrsunterricht)
oder von Auflagen (Schadenswiedergutmachung, persönliche
Entschuldigung,
Erbringung von Arbeitsleistungen, Bezahlung eines Geldbetrags) an, wenn
der
Beschuldigte geständig ist. Entspricht der Jugendrichter der Anregung,
so sieht
der Staatsanwalt von der Verfolgung ab, vorausgesetzt, die Auflagen
oder
Weisungen sind erfüllt.
Entsprechende Befugnisse hat gem. § 47 I Nr. 1-3 JGG auch der
Jugendrichter nach Anklageerhebung (einschliesslich
Antrag auf Entscheidung im vereinfachten Jugendverfahren gem.
§ 76 JGG). Der Jugendrichter
kann schliesslich ein Verfahren
gem. § 47 I Nr. 4 JGG einstellen, wenn der
Angeklagte
mangels Reife strafrechtlich nicht verantwortlich ist.
Den jugendstrafverfahrensrechtlichen Einstellungsvorschriften lag und liegt primär das Ziel zugrunde, aus präventiven Gründen stigmatisierende Effekte und soziale Diskriminierungen sowie eine zur Erreichung des jugendstrafrechtlichen Erziehungsziels - Rückfallvermeidung - nicht erforderliche Belastung der betroffenen jungen Menschen zu vermeiden. Die in den letzten Jahren - nicht nur, aber doch auch - betonten verfahrensökonomischen Aspekte - Entlastung der Strafjustiz und Verfahrensbeschleunigung durch Abbau unnötiger Sozialkontrolle sowie Verzicht auf die Verfolgung von Bagatellfällen - hatten demgegenüber Nachrang. Hierin besteht auch der wesentliche Unterschied zu den Begrenzungen des Legalitätsprinzips im allgemeinen Strafrecht durch §§ 153 ff. StPO, bei denen anfänglich Entlastungs-, Beschleunigungs-, Vereinfachungs- und Verbilligungseffekte im Vordergrund standen und es sich hinsichtlich der Vermeidung von Stigmatisierungen eher um einen (erwünschten) Nebeneffekt handelte. Heute ist freilich auch im allgemeinen Strafrecht die Verfahrenseinstellung in den Dienst der präventiven Aufgaben des Strafrechts gestellt. Dem liegt die Einsicht zugrunde, dass spezialpräventiv häufig bereits der Umstand genügt, dass gegen den Täter wegen einer Straftat ermittelt wird.
Grundlage für die folgende Darstellung der Sanktionierungspraxis von Staatsanwaltschaft und Gericht sind die amtlichen Rechtspflegestatistiken.
Für die Zeit vor Gründung der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1949 kommt als Datenquelle lediglich die 'Kriminalstatistik für das Deutsche Reich' in Betracht, deren Ergebnisse für die Berichtsjahre 1882 bis 1939 veröffentlicht worden sind.
Für die Bundesrepublik Deutschland stehen in Form koordinierter Länderstatistiken zur Verfügung:
·
Die
Statistik
bei den Staats- und Amtsanwaltschaften (Staatsanwaltschaftsstatistik
- StA-Statistik): In ihr wird die
Geschäftserledigung der Staats- und
Amtsanwaltschaften beim LG und OLG gegen bekannte Täter nachgewiesen.
Bei der
StA-Statistik handelt es sich um
eine Verfahrensstatistik,
d.h. nachgewiesen wird die jeweils schwerste Erledigungsart, mit der
das
Verfahren abgeschlossen wurde. Die Zahl der von Ermittlungsverfahren
betroffenen Personen wurde zunächst lediglich für einige
Erledigungsgruppen
mitgeteilt. Seit der Neuordnung der StA-Statistik zum 1.1.1998 wird die
Zahl der Personen für sämtliche
Erledigungsentscheidungen nachgewiesen. Angaben zu den Delikten, die
den
Ermittlungsverfahren zugrunde lagen, wurden zunächst nicht erhoben.
Als
Sondersachgebiete wurden 1986 "Strassenverkehrsstrafsachen" (die
Ergebnisse wurden aber nur für einige Erledigungsarten ausgewiesen),
1987
"Besondere Wirtschaftsstrafsachen", seit 1998 auch
"Betäubungsmittelstrafsachen",
"Umweltstrafsachen" und "Strafsachen gegen die sexuelle
Selbstbestimmung" aufgenommen; zusätzlich wird danach
unterschieden,
ob es sich um eine Straftat der "Organisierten Kriminalität" handelt.
Seit 2004 werden die Ermittlungsverfahren nach Sachgebieten
kategorisiert.
Die bisher ausgewiesenen Sachgebiete werden um weitere, an
Deliktsgruppen
orientierte Gebiete
ergänzt.
Die StA-Statistik wurde seit 1976 nach
und nach in
den Bundesländern eingeführt: (1976 in Bayern, Nordrhein-Westfalen,
Rheinland-Pfalz und im Saarland; 1977 in Bremen und Hamburg; 1979 in
Baden-Württemberg; 1980 in Niedersachsen). Erstmals mit dem
Berichtsjahr 1981
wurden ihre Ergebnisse vom Statistischen Bundesamt veröffentlicht,
jedoch ohne
die Ergebnisse von Berlin-West, Hessen und Schleswig-Holstein, wo
diese
Statistik erst später (1985, 1988 bzw. 1989) eingeführt wurde. Erst
seit 1989
liegen deshalb die Ergebnisse für sämtliche alten Bundesländer vor,
seit 1993
einschliesslich Gesamtberlin. In den neuen Bundesländern wurde die
Führung der StA-Statistik ab 1993 in Sachsen und
Sachsen-Anhalt aufgenommen; ab 1994 in Brandenburg und in Thüringen
und ab
1995 in Mecklenburg-Vorpommern. Seit 1995 liegen demnach auch Daten
für
sämtliche neuen Bundesländer vor.
·
Die
Statistik
über Straf- und Bussgeldverfahren (im Folgenden: Justizgeschäftsstatistik
der Strafgerichte (StP/OWi-Statistik):
In ihr werden der Geschäftsanfall und
die Erledigung von Strafsachen bei den Amts-, Land- und
Oberlandesgerichten
sowie dem Bundesgerichtshof nachgewiesen. Die Justizgeschäftsstatistik
wird mit
dem jetzigen Inhalt seit 1970 bzw. - nach inhaltlicher Erweiterung -
seit 1989
für die alten Bundesländer, seit 1991 einschliesslich Gesamtberlin,
seit 1994
auch einschliesslich der neuen Bundesländer veröffentlicht.
Die Art der Erledigung wird sowohl für Verfahren als auch (seit 1989)
für Personen
nachgewiesen; eine Differenzierung nach Delikten erfolgt nicht.
·
Die Strafverfolgungsstatistik
(StVerfStat): In ihr werden alle
Angeklagten nachgewiesen, gegen
die rechtskräftig Strafbefehle erlassen wurden bzw. Strafverfahren nach
Eröffnung des Hauptverfahrens durch Urteil oder Einstellungsbeschluss
rechtskräftig abgeschlossen worden sind. Nicht erfasst werden
Ordnungswidrigkeiten
sowie Entscheidungen vor Eröffnung des Hauptverfahrens. Deshalb enthält
diese
Statistik z.B. keine Informationen über Verfahrenseinstellungen gem.
§§ 153, 153a, 153b StPO durch die StA. Ausnahmsweise werden
jedoch Entscheidungen gemäss
§ 59 StGB, §§ 27, 45 III JGG erfasst.
Die StVerfStat wird seit 1950 für die
alten
Bundesländer (seit 1961 mit Saarland und einschliesslich Berlin-West),
seit
1995 einschliesslich Gesamtberlin veröffentlicht. Sie wurde in den
neuen
Bundesländern bislang in Brandenburg (1994), in Sachsen (1992), in
Thüringen
(1997) und in Mecklenburg-Vorpommern (2001) eingeführt. Da sie in
Sachsen-Anhalt noch nicht geführt wird, veröffentlicht das Statistische
Bundesamt derzeit, von einigen Eckdaten (seit 1997) abgesehen, die StVerfStat lediglich für die
alten
Bundesländer mit Gesamtberlin.
· Die Bewährungshilfestatistik (BewH-Statistik): In ihr werden - neben den hauptamtlichen Bewährungshelfern - vor allem die diesen zur Betreuung unterstellten Probanden der Bewährungshilfe nachgewiesen. Die BewH-Statistik wird seit 1963 bundeseinheitlich geführt. In den neuen Bundesländern wird sie lediglich von Brandenburg (seit 1993) und in Mecklenburg-Vorpommern (seit 1994) geführt. In Hamburg ist die Aufbereitung seit 1992 ausgesetzt. In Schleswig-Holstein ist die BewH-Statistik seit 2002 ausgesetzt; die aktuellen Bundesergebnisse enthalten deshalb die Jahresergebnisse für Schleswig-Holstein aus 2002. Derzeit werden in Schleswig-Holstein sukzessive die zurückliegenden Berichtsjahre aufbereitet; ihre Ergebnisse werden in den Zeitreihenergebnissen des Statistischen Bundesamtes berücksichtigt, nicht aber in den ausführlichen Jahresergebnissen des Bundes.
· Die Strafvollzugsstatistik (StVollz-Statistik): In ihr wird zum einen zum Stichtag – jeweils zum 31.3. eines Berichtsjahres - die Struktur der Strafgefangenen sowie der Sicherungsverwahrten nachgewiesen (Reihe 4.1), zum anderen der sog. Bestand an Gefangenen und Verwahrten sowie die sog. Gefangenenbewegung (Reihe 4.2). Während die Daten der Reihe 4.1 über Zählkarten erhoben werden, resultiert die Geschäftsstatistik (Reihe 4.2) aus einer in den Ländern jeweils zum Monatsende erfolgenden Bestandsabfrage entweder des Automationsprogramms bzw. des Gefangenenbuchs. Reihe 4.2 wird seit dem Berichtsjahr 2003 nicht mehr geführt. Das Statistische Bundesamt veröffentlicht Ergebnisse dieser Statistik zu drei Stichtagen (zum 31.3., 31.8. und 30.11. eines jeden Jahres) im Internet. Die StVollz-Statistik wird seit 1961 geführt, seit 1992 ist auch Gesamtberlin einbezogen. Ergebnisse für die neuen Bundesländer werden seit 1992 nachgewiesen.
Veröffentlicht werden diese Statistiken auf Bundesebene vom Statistischen Bundesamt, derzeit, nach Einstellung der gedruckten Veröffentlichung der Reihen 2-4 der Fachserie 10, auf dessen Website (https://www-ec.destatis.de).
Bei Abschluss des Manuskripts standen folgende Rechtspflegestatistiken für die Auswertung zur Verfügung:
·
Die Ergebnisse der StA-Statistik für 2006.
1998 war in Hamburg und Schleswig-Holstein die Aufbereitung der
StA-Statistik
ausgesetzt, weshalb vom Statistischen Bundesamt für diese beiden Länder
die
Ergebnisse für 1997 als Näherungswerte zugrunde gelegt wurden. Wegen
Aufbereitungsproblemen lagen in Schleswig-Holstein auch für die
Folgejahre
bis 2003 einschliesslich keine aktuelleren Ergebnisse vor als jene aus
1997;
deswegen wurden jeweils die Ergebnisse für 1997 als Näherungswert für
die
Ermittlung des Bundesergebnisses verwendet. In Sachsen-Anhalt konnten
für das
vollständige Kalenderjahr 1999 keine Geschäftsergebnisse erstellt
werden, die
Ergebnisse für 1999 beziehen sich auf den Zeitraum vom 1.7.1999 bis zum
30.6.2000.
Wegen eines
Datenbankfehlers wurden 2005 in Hamburg Zählkartendatensätze aus
vorangegangenen Jahren in das Jahresergebnis für 2005 einbezogen mit
der
Folge einer unsystematischen Überhöhung bei einzelnen
Merkmalsausprägungen.
·
Die Ergebnisse der StVerfStat
liegen für das Berichtsjahr 2006 vor.
In den Jahren zuvor kam es in einigen Ländern aufgrund
arbeitsorganisatorischer
Massnahmen in Gerichten und Staatsanwaltschaften teilweise zu verspätet
abgegebenen
Meldungen zur StVerfStat mit der Folge, dass
Fälle aus
dem aktuellen Berichtsjahr (Kriterium: Rechtskraft der Entscheidung)
erst im
Folgejahr nachgewiesen werden konnten. Dieser zeitliche
Zuordnungsfehler
verteilt sich nach Kenntnis des Statistischen Bundesamtes auf die
Berichtsjahre 2000, 2001 und 2002. Auf Bundesebene dürften nach
Einschätzung
des Statistischen Bundesamtes die absoluten Zahlen über Abgeurteilte
und Verurteilte
sowie die Veränderungsraten im Wesentlichen zutreffend sein.
Aufbereitungsfehler in Hessen in den Jahren 1999 – 2002 führten zu
fehlerhaften
Zuordnungen, durch die das – im Folgenden dargestellte -
Gesamtergebnis indes
nicht beeinträchtigt worden sein dürfte. 2005 gibt es in Hamburg eine
Übererfassung um rd. ein Fünftel, weil in 2003 und 2004
fälschlicherweise
nicht gemeldete Datensätze in das Ergebnis 2005 einbezogen wurden
(zusammenfassend Villmow, Weltstadt Hamburg – kriminalstatistische
Provinz?,
ZJJ 2007, S. 408 ff.).
· Die Ergebnisse der BewH-Statistik wurden zuletzt für das Berichtsjahr 2006 (seit 1992 ohne Hamburg) veröffentlicht.
· Die StVollz-Statistik lag zum Stichtag 31.3.2007 hinsichtlich des Bestandes der Gefangenen und Verwahrten in den deutschen Justizvollzugsanstalten vor.
In regionaler Hinsicht lagen Ergebnisse aus folgenden Statistikbereichen vor:
· Die StA-Statistik bezieht sich auf die alten und (seit 1995) auf sämtliche neuen Bundesländer; die Ergebnisse werden nach Ländern gegliedert ausgewiesen.
· Die veröffentlichten Ergebnisse der StVerfStat 2006 beziehen sich auf die alten Bundesländer (mit Gesamtberlin); die Ausweise über Art und Höhe der verhängten Sanktionen werden lediglich für das frühere Bundesgebiet (mit Gesamtberlin) mitgeteilt. Die Länderergebnisse werden von den Statistischen Landesämtern veröffentlicht, das Statistische Bundesamt teilt insoweit nur Eckdaten mit.
· Für das Berichtsjahr 2006 beziehen sich die Ergebnisse der BewH-Statistik auf das frühere Bundesgebiet mit Gesamtberlin (seit 1992 ohne Hamburg; für Schleswig-Holstein mit Ergebnissen aus 2003); flächendeckende Angaben für die neuen Länder liegen noch nicht vor; lediglich aus Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern werden Ergebnisse mitgeteilt. Die für die vorliegende Auswertung relevanten Ergebnisse werden nicht nach Ländern aufgeschlüsselt.
· Die Ergebnisse der StVollz-Statistik beziehen sich auf die alten und (seit 1992) auch auf sämtliche neuen Bundesländer; die Angaben werden nach Ländern aufgeschlüsselt.
Den Möglichkeiten der Deskription der Sanktionierungspraxis werden durch diese Informationsinstrumente - die Rechtspflegestatistiken - Grenzen gesetzt. Zum einen sind die statistischen Daten aus den verschiedenen Statistikbereichen nur begrenzt aufeinander beziehbar und untereinander vergleichbar. Zum anderen werden Aussagemöglichkeiten und -grenzen vor allem dadurch bestimmt, welche Daten erhoben und wie diese Daten für Zwecke der Veröffentlichung aufbereitet werden. Speziell für Zeitreihenanalysen ergeben sich weitere Grenzen der Aussagemöglichkeiten aus dem Wechsel von Erhebungs- bzw. Aufbereitungskategorien sowie aus dem - in regionaler und/oder zeitlicher Hinsicht - Fehlen statistischer Daten. Bezogen auf die beiden, der folgenden Darstellung vor allem zugrunde liegenden Statistiken - StA-Statistik, StVerfStat - heisst dies:
· Bis einschliesslich Berichtsjahr 1997 stimmten die Erhebungseinheiten beider Statistiken nicht überein. In der StA-Statistik waren bis dahin Erhebungseinheiten Ermittlungsverfahren, in der StVerfStat dagegen Personen. Die hieraus resultierenden Unterschiede - von einem staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren sind im Schnitt 1,2 Personen (Beschuldigte) betroffen (2006 kamen auf 5.770.785 Beschuldigte 4.876.989 Ermittlungsverfahren ) - können durch entsprechende Umrechnungen nur ungefähr ausgeglichen werden. Wie die erstmals für das Berichtsjahr 1999 auch für die StA-Statistik erhobenen personenbezogenen Daten zeigen (vgl. Anhang, Tabelle A1 und A2), wurde durch das bisher vom Verf. verwendete Umrechnungsverfahren die Zahl der Personen, deren Ermittlungsverfahren gem. § 45 JGG eingestellt worden war, im Schnitt der alten Bundesländer um gut 10% (bezogen auf die Einstellungen gem. § 45 JGG) unterschätzt, die Zahl der nach JGG (informell oder formell) Sanktionierten um rd. 6%. Die Zahl der nach allgemeinen Vorschriften - §§ 153, 153a, 153b StPO - informell Sanktionierten ist in geringerem Masse unterschätzt (rd. 3%). Der in den Schaubildern sichtbare Anstieg der Diversionsraten von 1997 auf 1998 ist deshalb, und zwar sowohl im allgemeinen Strafrecht als auch im Jugendstrafrecht, ein nur scheinbarer; er beruht auf der Umstellung von den bisherigen "umgerechneten" Ergebnissen auf die nunmehr vorliegenden "echten" personenbezogenen Daten (vgl. Anhang, Tabellen A3 und A4). Bei Verwendung des bisherigen Umrechnungsverfahrens wären die Diversionsraten 1998 gegenüber 1997 praktisch unverändert. Entsprechendes gilt dann, wenn die Zahl der zu freiheitsentziehenden Sanktionen Verurteilten bezogen wird auf die Zahl der (informell oder formell) Sanktionierten. Ab 1998 werden der Auswertung die personenbezogenen Daten der StA-Statistik zugrunde gelegt, lediglich für Schleswig-Holstein lagen zwischen 1997 und 2003 nur die verfahrensbezogenen Ergebnisse aus 1997 vor, die, wie bisher, "umgerechnet" werden mussten.
· Die Daten dieser beiden Statistiken werden zu verschiedenen Zeitpunkten erhoben, nämlich mit der jeweiligen Verfahrenserledigung. Bei Bezugnahmen - z.B. Anteil der Verurteilten an allen (informell und formell) Sanktionierten - kann sich deshalb eine - nicht vermeidbare - Verzerrung ergeben, weil die beiden Gruppen aus z.T. unterschiedlichen Grundgesamtheiten stammen.
· Für die StA-Statistik wurden in der Vergangenheit so gut wie keine Angaben zu den dem Verfahren zugrunde liegenden Straftaten und zu den von den Verfahren betroffenen Beschuldigten erhoben. Seit dem Berichtsjahr 2004 werden die erledigten Verfahren nach tief aggregierten Sachgebieten kategorisiert (etwa bei Körperverletzungsdelikten sowie bei Diebstahls- und Betrugsdelikten). Seitdem ist zumindest für diese Sachgebiete die Erledigungsart bestimmbar. Allerdings kann immer noch nicht – da weder die Wahl der Verfahrensordnung (Jugendstrafrecht oder allgemeines Strafrecht) noch das Alter der Beschuldigten ausgewiesen wird – bestimmt werden, bei welchen Tätergruppen in welchem Umfang Verfahrenseinstellungen erfolgen, Insbesondere kann nicht geprüft werden, ob die regional unterschiedlichen Diversionsraten auf Unterschieden im Entscheidungsverhalten beruhen oder lediglich unterschiedliche, von der Praxis vorfindbare Tat- und Täterstrukturen widerspiegeln.
· Bei den nachgewiesenen Erledigungsarten, also auch bei Einstellungen aus Opportunitäts- oder Subsidiaritätsgründen, wird nicht danach differenziert, ob sie unter Anwendung von Jugendstrafrecht oder unter Anwendung von allgemeinem Strafrecht erfolgten. Eine Zuordnung der Einstellungen kann deshalb nur über die jeweilige Einstellungsnorm erfolgen, also z.B. so, dass Einstellungen gem. § 45 JGG dem Jugendstrafrecht, Einstellungen gem. §§ 153 ff. StPO dem allgemeinen Strafrecht zugeordnet werden. Gar nicht zuordenbar sind die Einstellungsentscheidung gem. §§ 31, 37a, 38 BtMG. Dies hat unvermeidbar zur Konsequenz, dass im Jugendstrafverfahren erfolgende Einstellungen gem. §§ 153 ff. StPO fälschlicherweise den Erwachsenen statt den nach Jugendstrafrecht verurteilten Jugendlichen/Heranwachsenden zugeordnet werden müssen (Unterschätzung der Diversionsrate im Jugendstrafrecht bei gleichzeitiger Überschätzung im allgemeinen Strafrecht). Der Untersuchung von Çağlar (Neue ambulante Massnahmen in der Reform, 2005, S. 51 ff.) zufolge wurde 2003 im LG-Bezirk Flensburg ein gutes Drittel aller jugendstrafrechtlichen Diversionsentscheidungen auf §§ 153 ff. StPO gestützt (vgl. unten Tab. 6).
· Hinsichtlich der erzieherischen Massnahmen, die im Rahmen von § 45 JGG durchgeführt, angeregt oder angeordnet werden, enthält die StA-Statistik keinerlei Angaben. Bei § 45 II JGG sind dementsprechend weder Art noch Häufigkeit der "Weisungen" oder "Auflagen" erkennbar. Die nach § 153a I StPO zulässigen Auflagen und Weisungen werden dagegen zahlenmässig erfasst; nicht erfasst werden die Inhalte, also z.B. die Höhe des auferlegten Geldbetrages.
Im Vergleich zur StA-Statistik sind die für die StVerfStat erhobenen Angaben für Zwecke der Beschreibung der Sanktionierungspraxis informativer und differenzierter. Erhoben und nachgewiesen werden Angaben zu Alter, Geschlecht und Staatsangehörigkeit der Abgeurteilten bzw. Verurteilten, zu Art und (teilweise auch zu) Höhe der Sanktion sowie zu dem der Verurteilung zugrunde liegenden schwersten Straftatbestand. Allerdings bestehen auch hier einige bedeutsame Einschränkungen:
· In der StVerfStat wird jeder Verurteilte nur einmal ausgewiesen, und zwar bei dem nach Art und Mass mit der abstrakt schwersten Strafe bedrohten Delikt. Daraus folgt, dass die der Verurteilung zugrunde liegenden Delikte um so ungenauer erfasst sind, je geringer die Strafdrohung eines Deliktes ist.
· Den Strafrahmen beeinflussende Entscheidungen, wie z.B. Versuch/Vollendung, Täterschaft/Teilnahme, Gesamtstrafenbildung, werden nicht im Tabellenprogramm über die Art und Höhe der Strafen ausgewiesen.
· Insbesondere durch Gesamtstrafenbildung bzw. - im Jugendstrafrecht - durch die Einbeziehung noch nicht vollständig verbüsster Sanktionen (§ 31 II JGG) wird das Bild der Sanktionierungspraxis in Richtung auf schwerere Strafen hin verschoben.
· Schliesslich gibt die Orientierung an Straftatbeständen nicht wieder, ob insbesondere wegen unbenannter Strafänderungsgründe Sonderstrafrahmen angewendet wurden.
· Die Höhe bzw. Inhalte der nach allgemeinem Strafrecht verhängten Sanktionen werden nur bei freiheitsentziehenden Strafen relativ differenziert erfasst; die Vollständigkeit und Differenziertheit der Erfassung nimmt jedoch deutlich ab, je eingriffsschwächer die Sanktion ist. Dies heisst im Einzelnen:
Im Unterschied zum allgemeinen Strafrecht wird bei Verurteilungen nach Jugendstrafrecht nicht nur die schwerste Strafe ausgewiesen, sondern bei Erziehungsmassregeln und Zuchtmitteln die insgesamt verhängten, also auch die nebeneinander angeordneten Sanktionen. Ansonsten gilt auch hier, dass die Differenziertheit des Ausweises abnimmt, je eingriffsschwächer die Sanktion ist.
· Bei Einstellungen gem. § 47 JGG wird nur das Ob erfasst, nicht nachgewiesen werden die angeordneten erzieherischen Massnahmen.
· Entsprechendes gilt für den Nachweis der durch Urteil angeordneten Erziehungsmassregeln. Diese werden lediglich der Art nach (Weisung, Erziehungsbeistandschaft, Heimerziehung) erhoben. Weder wird erfasst, ob mehrere Weisungen nebeneinander angeordnet wurden, noch wird die Art der Weisung (z.B. Arbeitsweisung, Betreuungsweisung, sozialer Trainingskurs, Täter-Opfer-Ausgleich usw.), geschweige denn deren Mass (z.B. Stundenzahl der Arbeitsweisung) erfasst.
· Auch die Zuchtmittel werden lediglich der Art und der Häufigkeit ihrer Anordnung nach (Verwarnung, Auflagen, Jugendarrest) erhoben, wobei hier - weitergehend als bei den Erziehungsmassregeln - zwischen den drei Formen des Jugendarrestes (Freizeit-, Kurz- und Dauerarrest) unterschieden und innerhalb der Auflagen jeweils die Auflagenarten, den Schaden wiedergutzumachen, einen Geldbetrag zu zahlen oder sich bei dem Verletzten zu entschuldigen, getrennt ausgewiesen werden, sowie - seit 1991 - die Arbeitsleistung und die Kombination von Arbeitsleistung und Entschuldigung. Nicht ausgewiesen wird aber das verhängte Mass, also die Dauer des Arrestes, die Höhe des zu zahlenden Geldbetrages oder die Zahl der zu leistenden Stunden gemeinnütziger Arbeit.
· Hinsichtlich der Jugendstrafe schliesslich wird - relativ differenziert - die Dauer der verhängten Jugendstrafe in derzeit sieben Kategorien ausgewiesen. Wegen mehrfacher Änderung der Kategorien - seit 1954 blieben lediglich die Kategorien "6 Monate bis einschliesslich 1 Jahr" und "mehr als 1 Jahr" unverändert - sind freilich auch einer zeitlichen Längsschnittanalyse, die bis zum Inkrafttreten des gegenwärtigen JGG im Jahr 1953 zurückgehen will, deutliche Grenzen gesetzt.
·
Hinsichtlich
der
Bewährungsstrafen gilt: Erfasst wird, ob die Verhängung der
Jugendstrafe bzw.
ob die Vollstreckung der Jugendstrafe zur Bewährung ausgesetzt wurde.
Ob
Auflagen oder Weisungen verhängt wurden, wird dagegen – im Unterschied
zu Verurteilungen
nach allgemeinem Strafrecht - ebenso wenig erhoben wie die Art der
Auflagen/Weisungen.
Die mit den informellen
Erledigungsmöglichkeiten verbundenen Auflagen/Weisungen
werden, soweit es sich um Einstellungsentscheidungen des Gerichts
handelt, in
der Justizgeschäftsstatistik in Strafsachen erfasst, ausgenommen bei
den
(allerdings zahlenmässig geringen) Entscheidungen der
Oberlandesgerichte in
der Rechtsmittelinstanz. Grenzen der Aussagemöglichkeiten bestehen,
auch
insoweit weitgehend mit jenen der StA-Statistik
vergleichbar, aufgrund der fehlenden Differenzierung nach Delikt, nach
Alter
und Geschlecht der Beschuldigten.
Aus dem grossen Bereich der
Strafvollstreckung wird lediglich die
bedingte Freiheitsstrafe erfasst, und auch hiervon nur ein Ausschnitt,
nämlich
jener der Unterstellung unter einen hauptamtlichen Bewährungshelfer.
Hinsichtlich der Vollstreckung der weit überwiegenden Zahl der
Sanktionen,
nämlich der ambulanten Sanktionen (Geldstrafe im allgemeinen
Strafrecht; Erziehungsmassregeln,
Verwarnung, Auflagen im Jugendstrafrecht), fehlen dagegen statistische
Angaben. Entsprechendes gilt für die Vollstreckung von Massregeln der
Besserung
und Sicherung. Infolge des Fehlens von strafvollstreckungsstatistischen
Informationen ist z.B. die Rate der eine Geldstrafe in Form einer
Ersatzfreiheitsstrafe verbüssenden Personen nicht genau ermittelbar.
Näherungsweise lässt sich diese Rate allerdings durch Gegenüberstellung
der
Zahl der zu Geldstrafe Verurteilten mit den zur Verbüssung einer
Ersatzfreiheitsstrafe in die Strafvollzugsanstalt aufgenommenen
Personen
bestimmen. Wegen der unterschiedlichen Erfassungszeiträume von
Strafverfolgungs-
und Strafvollzugsstatistik ist eine exakte Bestimmung nicht möglich.
Über die Zahl der
Untersuchungshaftanordnungen, der
Untersuchungsgefangenen und über die Dauer der Untersuchungshaft
fehlen vollständige
statistische Nachweise.
Für die StVerfStat werden zwar seit 1975 die Abgeurteilten mit
Untersuchungshaft erfasst, wobei zugrunde liegende Straftat,
Geschlecht,
Haftgründe, Dauer der Untersuchungshaft, auch im Vergleich zur
erkannten
Strafe, sowie die erkannte schwerste Entscheidung ausgewiesen werden.
Nicht
erfasst ist in der Zahl der Abgeurteilten mit Untersuchungshaft die –
mutmasslich
kleine - Zahl von Untersuchungsgefangenen, die überhaupt nicht
angeklagt
wurden, d.h., es fehlen Nachweise über Untersuchungsgefangene, bei
denen
das Verfahren gem. §§ 170 II, 153 ff. StPO, § 45 JGG vor
Eröffnung
des Hauptverfahrens eingestellt wurde. Nicht erfasst sind ferner
Haftanordnungen,
die nach Rechtskraft der das Verfahren abschliessenden Entscheidung
ergehen,
also insbesondere Fälle des Sicherungsbefehls nach § 453c
StPO.
Die StVollz-Statistik informiert lediglich über die Zahl der am jeweiligen Stichtag inhaftierten Untersuchungsgefangenen. Stichtagszahlen sind aber kein Mass für die Zahl inhaftierter Personen, sondern ein Mass für (auf Personen bezogene) Inhaftierungszeiten, d.h., sie sind eine Funktion der Zahl der Inhaftierten und der Haftdauer. Je kürzer die Inhaftierungszeit ist, desto geringer ist der Ausschnitt der am Stichtag erfassten Zahl der Inhaftierten. Deshalb ist die zum Stichtag erfasste Zahl der inhaftierten Untersuchungsgefangenen wesentlich niedriger als die Zahl der insgesamt in einem Jahr inhaftierten Untersuchungsgefangenen, was wiederum erklärt, weshalb die entsprechenden Zahlen von StVollz-Statistik und StVerfStat erheblich voneinander abweichen. In den ebenfalls in der StVollz-Statistik ausgewiesenen Zahlen über Zugänge sind nicht nur Erstaufnahmen in den Vollzug erfasst, sondern jede Aufnahme. Es kann deshalb, insbesondere bei Verlegungen in andere Anstalten, zu Mehrfachzählungen kommen. In den StVollz-Statistiken fehlen Angaben zu Haftdauer, Haftgrund, zugrunde liegender Straftat.
Über die Gesamtzahl der in einem Jahr Strafhaft verbüssenden Gefangenen informiert die StVollz-Statistik nur unvollständig. Nachgewiesen werden zum einen demographische Daten der zum Stichtag – 31.3. – erfassten Gefangenen, zum anderen Bestands- und Bewegungsdaten, die aber, wie bereits erwähnt, kein brauchbares Mass für die Zahl inhaftierter Personen sind. Die Bewegungsdaten – Zugangs- bzw. Abgangszahlen – sind nicht aussagekräftig für eine Zählung von Personen, weil jede Verlegung von Anstalt zu Anstalt sowie Verlegungen innerhalb einer Anstalt gezählt werden. In welchem Umfang dies erfolgen kann, zeigt eine neuere Untersuchung von Dünkel. Danach standen hinter den im Jahr 2000 in der StVollz-Statistik für Mecklenburg-Vorpommern ausgewiesenen 1.126 Zugängen wegen Ersatzfreiheitsstrafe insgesamt nur 628 eine Ersatzfreiheitsstrafe verbüssende Personen (Dünkel, Frieder; Scheel, Jens: Vermeidung von Ersatzfreiheitsstrafen durch gemeinnützige Arbeit: das Projekt „Ausweg“ in Mecklenburg-Vorpommern, Mönchengladbach 2006, S. 38, Tab. 5.1). Auch die jeweils zum Stichtag ermittelten Bestandszahlen geben die Zahl der insgesamt Inhaftierten nicht korrekt wieder, weil zum einen Gefangene mit einer Vollzugsdauer von unter 12 Monaten unterrepräsentiert sind, zum anderen weil Bestandszahlen „empfindlich“ sind für anstaltsorganisatorische und vollzugliche Massnahmen, wie sie etwa die sog. „Weihnachtsamnestien“, aber auch Lockerungen darstellen.
Die StA-Statistik wird erst seit 1981 auf Bundesebene veröffentlicht, erst seit dem Berichtsjahr 1989 liegt sie für sämtliche alten Bundesländer und erst seit 1995 auch für alle neuen Bundesländer vor. Diese zeitlichen und regionalen Beschränkungen begrenzen die Auswertungsmöglichkeiten, insbesondere hinsichtlich der informellen Sanktionierung. "Bundesergebnisse" der StA-Statistik für die Zeit zwischen 1981 und 1989 sind mit den Unsicherheiten von "Hochrechnungen" behaftet. Da Angaben fehlten für Berlin-West (1981 - 1984), Hessen (1981 - 1987) und Schleswig-Holstein (1981 - 1988), wurden für die folgende Auswertung die Daten über Einstellungen aus Opportunitäts- bzw. Subsidiaritätsgründen vom Verf. auf der Grundlage der Bevölkerungszahlen und entsprechend dem Durchschnittswert der anderen Länder geschätzt und so Zahlen für das Bundesgebiet "hochgerechnet".
Grenzen der Aussagemöglichkeiten ergeben sich des Weiteren daraus, dass sich die veröffentlichten Daten der StVerfStat auf die alten Bundesländer einschliesslich Berlin-West (seit 1995 mit Gesamtberlin) beschränken. Deshalb ist eine auf diese veröffentlichten Daten gestützte Beschreibung der Sanktionierungspraxis nur hinsichtlich der alten Bundesländer möglich.
Wegen der zu unterschiedlichen Zeitpunkten erfolgenden Einbeziehung von Ost-Berlin in die StA-Statistik (1993) und in die StVerfStat (1995) ist für diese Jahre eine geringfügige Überschätzung der informellen Sanktionen unvermeidbar.
Trotz dieser nicht unerheblichen Einschränkung der Aussagemöglichkeiten im Detail besitzen die Rechtspflegestatistiken gegenüber Primärdatenerhebungen oder Aktenanalysen den unbestreitbaren Vorteil, dass sie es erlauben, die langfristige Entwicklung der Sanktionierungspraxis seit 1882 hinsichtlich aller Sanktionsarten (wenngleich nicht immer nach deren Inhalt bzw. Mass) und in regionaler Differenzierung zumindest in groben Zügen beschreiben zu können. Seit 1981 ist es ferner möglich, auch die sog. "informellen Sanktionen" von Staatsanwaltschaft und Gericht in ihren Grössenordnungen im zeitlichen Längsschnitt und im regionalen Querschnitt zu beschreiben und zu analysieren. Primärdatenerhebungen oder Aktenanalysen leiden demgegenüber unter dem regelmässig nicht ausräumbaren Nachteil der zeitlichen oder lokalen Beschränkung, die einer Verallgemeinerung der Befunde entgegenstehen.
Wegen der regional begrenzten Verfügbarkeit der Ergebnisse insbesondere der StVerfStat beziehen sich die im Folgenden mitgeteilten Ergebnisse bis 1960 auf die alten Bundesländer (ohne Saarland und Berlin-West), ab 1961 auf die alten Bundesländer einschliesslich Berlin-West, ab 1995 auf die alten Bundesländer mit Gesamtberlin. Länderspezifische Auswertungen werden nur ausnahmsweise vorgenommen und dargestellt.
Die Strafzumessungspraxis in Deutschland (hinsichtlich der Bundesrepublik Deutschland: alte Bundesländer, weil die Daten der StVerfStat für einen Teil der neuen Länder noch fehlen) lässt sich anhand der vorliegenden statistischen Daten für die letzten 125 Jahre überblicken. Kennzeichnend für die deutsche Strafzumessungspraxis ist danach - bezogen auf Verurteilte wegen Verbrechen und Vergehen - die nachhaltige Zurückdrängung der unbedingt verhängten freiheitsentziehenden Sanktionen (stationäre Sanktionen) zugunsten ambulanter Sanktionen, namentlich der Geldstrafe (Schaubild 3).
Schaubild
3: Entwicklung
der Sanktionierungspraxis, aber ohne informelle Sanktionen
Deutsches Reich bzw. früheres Bundesgebiet mit Westberlin, seit 1995
mit
Gesamtberlin,1882 .. 2006.
Anteile, bezogen auf nach allgemeinem und nach Jugendstrafrecht
Verurteilte
1882, zu Beginn des statistisch überblickbaren Zeitraumes, betrug der Anteil der unbedingt verhängten freiheitsentziehenden Sanktionen 76,8% (Schaubild 3). Lediglich bei 22,2% der Verurteilten war auf Geldstrafe erkannt worden. Der Anteil der auf Todesstrafe lautenden Urteile betrug 0,03%; in der Folgezeit schwankte dieser Anteil zwischen 0,01% und 0,05% (1939) . Die in Schaubild 3 dargestellten sonstigen Sanktionen spiegeln im Wesentlichen die Sanktionierungspraxis gegenüber jungen Menschen (bis 1923) bzw. im Jugendstrafrecht wider. "Das mächtige Überwiegen der Freiheitsstrafe stand", wie Exner (Studien über die Strafzumessungspraxis der deutschen Gerichte, Leipzig 1931, S. 18) zutreffend bemerkte, "nicht nur auf dem Papier, es war lebendes Recht. Sicher ist aber auch, dass sich von da ab das Verhältnis allmählich und in erstaunlicher Gleichförmigkeit verschoben hat ...".
1950, dem ersten Jahr mit statistischen Ergebnissen für die Bundesrepublik Deutschland, betrug der Anteil unbedingt verhängter freiheitsentziehender Sanktionen noch 39,1%; 2006 entfielen hierauf lediglich noch 8,7% aller Verurteilungen. Bezogen auf sämtliche (nach allgemeinem und nach Jugendstrafrecht) Verurteilten waren 2006 69,3% aller Strafen Verurteilungen zu Geldstrafe . Weitere 12,9% der Verurteilten wurden zu einer zur Bewährung ausgesetzten Freiheits- oder Jugendstrafe verurteilt, 9,1% nach Jugendstrafrecht zu ambulanten Erziehungsmassregeln oder Zuchtmitteln . Das volle Ausmass der Zurückdrängung stationärer zugunsten ambulanter Sanktionen zeigt sich indes erst, wenn auch die Einstellungen gem. §§ 153, 153a, 153b StPO, §§ 45, 47 JGG berücksichtigt werden, die ja 1882 (jedenfalls in der Theorie) alle zur Verurteilung führten. Denn dann dürften gegenwärtig (Stand: 2006) lediglich noch 3,6% aller sanktionierbaren Personen zu einer unmittelbar mit Freiheitsentziehung verbundenen Sanktion verurteilt worden sein.
Dem ultima ratio-Prinzip zur Vermeidung einer zu vollstreckenden Freiheitsstrafe ist damit die Praxis in beachtlichem Masse näher gekommen, beachtlich auch deshalb, weil in sämtlichen Straftatbeständen des Besonderen Teils des StGB weiterhin Freiheitsstrafe - zumindest neben Geldstrafe - angedroht ist. Die Praxis folgt also "der Erkenntnis, dass unter generalpräventiven Gesichtspunkten weitgehend auf vollstreckte Freiheitsstrafen verzichtet werden kann und dass diese unter Resozialisierungsaspekten ungünstiger sind als alle anderen Sanktionsalternativen" (Schöch, Empfehlen sich Änderungen und Ergänzungen bei den strafrechtlichen Sanktionen ohne Freiheitsentzug? Gutachten C zum 59. Deutschen Juristentag, München 1992, C 21 f.).
Die Entwicklung des Hauptstrafensystems des StGB ist aber nicht nur gekennzeichnet durch die Zurückdrängung stationärer zugunsten ambulanter Sanktionen, sondern auch durch den zunehmenden Gebrauch der Einstellungsmöglichkeiten aufgrund von Opportunitätsvorschriften, also der deutschen Variante von Diversion in Form verfahrensrechtlicher Entkriminalisierung.
Was das Ausmass angeht, in dem von den Diversionsvorschriften Gebrauch gemacht wird, fehlen im zeitlichen Längsschnitt exakte Angaben. Verfügbar sind lediglich begründete, in den letzten Jahren wegen Vervollständigung der Datenbasis indes zunehmend genauer werdende Näherungswerte. Dass es sich um Näherungswerte handelt, beruht vor allem darauf, dass zum einen sowohl die verfahrensbezogenen Daten der StA-Statistik (personenbezogene Daten liegen erst ab 1998 vor, ausgenommen Schleswig-Holstein, für das derzeit nur die verfahrensbezogenen Daten aus 1997 vorliegen) als auch die der Justizstatistik (bis 1988 einschliesslich) auf Personen "umzurechnen" waren (zum Vergleich "umgerechneter" zu "echter" Personenzählung in der StA-Statistik vgl. die Tabellen im Anhang), dass zum zweiten die bis 1989 für einzelne Bundesländer fehlenden Angaben der StAStat wegen teilweise fehlender Länderergebnisse auf die (alten) Bundesländer "hochgerechnet" werden mussten. Hinzu kommt schliesslich, dass sich die Zahlen über staatsanwaltschaftliche Erledigungen und gerichtliche Verurteilungen nicht auf dieselbe Grundgesamtheit beziehen; die Erfassungszeiträume sind zeitlich versetzt.
Unter dieser Einschränkung lässt sich sagen, dass die Praxis von StA und Gericht die Möglichkeiten, das Verfahren gegen hinreichend tatverdächtige Beschuldigte unter den Voraussetzungen der §§ 153, 153a, 153b StPO, §§ 45, 47 JGG einzustellen, voll angenommen hat, freilich zu Lasten materiellrechtlicher Instrumente, wie Absehen von Strafe (§ 60 StGB) oder Verwarnung mit Strafvorbehalt (§ 59 StGB), die praktisch bedeutungslos geblieben sind. Den Anstieg der Zahl der sanktionierbaren Personen hat die Praxis durch den vermehrten Gebrauch der Einstellungsmöglichkeiten aufgefangen; auf diese Weise konnte die absolute Zahl der Verurteilten in etwa konstant gehalten werden (Schaubild 4). Weniger als die Hälfte aller sanktionierbaren Personen werden derzeit auch verurteilt; der Anteil der nach allgemeinem oder nach Jugendstrafrecht Verurteilten an den sanktionierbaren Personen ging von 63,7% (1981) auf 44,4% (2006; mit Einstellungen gem. §§ 31a, 37, 38 BtMG 42,9%) zurück (Schaubild 5).
Träger dieser Diversionsentscheidungen ist vor allem die Staatsanwaltschaft. Anfang der 1980er Jahre wurden zwei Drittel (67,4%) aller Diversionsentscheidungen durch die StA ausgesprochen; dieser Anteil ist inzwischen auf 85,0% (unter Einschluss auch der BtMG-Entscheidungen: 85,8%) gestiegen. Die quantitative Bedeutung zeigt die Gegenüberstellung der absoluten Zahlen für 2006: Rd. 810.000 Personen , deren Verfahren durch die StA gem. §§ 153, 153a, 153b StPO, § 45 JGG eingestellt worden waren, standen rd. 904.000 Personen gegenüber, die entweder formell sanktioniert wurden (N=760.528) oder deren Verfahren durch das Gericht gem. §§ 153, 153a, 153b StPO, § 47 JGG (N=143.000) eingestellt worden waren. In relativen Zahlen heisst dies, dass 2006 47,3% aller formell oder informell Sanktionierten durch die StA sanktioniert worden waren.
Schaubild
4: Entwicklung
der informellen und formellen Sanktionierungspraxis im allgemeinen
Strafrecht
und im Jugendstrafrecht, 1981 - 2006. Absolute Zahlen (informell
Sanktionierte
gem. StPO, JGG,
BtMG).
Früheres Bundesgebiet mit Westberlin, seit 1995 mit Gesamtberlin
Schaubild
5: Entwicklung
der informellen und formellen Sanktionierungspraxis im allgemeinen
Strafrecht
und im Jugendstrafrecht, 1981 - 2006. Relative Zahlen (informell
Sanktionierte
gem. StPO, JGG, BtMG).
Früheres Bundesgebiet mit Westberlin, seit 1995 mit Gesamtberlin
Gegen diese Verschiebung von Sanktionskompetenz auf die StA werden in der Strafrechtswissenschaft rechtliche und kriminalpolitische Bedenken erhoben. So sehen manche das Gewaltenteilungsprinzip und den Grundsatz der Unschuldsvermutung als verletzt an. Kritik wird ferner an der Unbestimmtheit der Einstellungsvoraussetzungen laut: Aufgabe des Gesetzgebers, nicht aber der Exekutive, sei es, diese Voraussetzungen zu präzisieren. Durch die Opportunitätsvorschriften werde ein "exekutivisches Recht" geschaffen, ein durch Weisungen beeinflusstes Sonderstrafrecht, das flexibel den Bedürfnissen der Strafrechtspflege, kriminalpolitischen Strömungen und politischen Programmen angepasst werden könne. Befürchtet wird ferner, mittels §§ 153 ff. StPO werde auch in Fällen sanktioniert, in denen früher mangels hinreichenden Tatverdachts eingestellt worden sei ("Ausweitung des Netzes sozialer Kontrolle"). Zu den Bedenken gehört schliesslich, durch § 153a StPO würden intellektuell und finanziell höherstehende Beschuldigte bevorzugt ("Freikaufverfahren", "Reichenprivileg"), der "deal" sei nicht mehr aufzuhalten. Jedenfalls die in empirischer Hinsicht vorgetragenen Bedenken, insbesondere das einer Ausweitung des Netzes sozialer Kontrolle, konnten durch die bisherigen Forschungen für den Rechtszustand und für die Sanktionierungspraxis in Deutschland nicht bestätigt werden.
Im Jahr 2006 wurden in den alten Ländern (einschliesslich Gesamtberlin) insgesamt 932.352 Personen abgeurteilt, d. h. ein Hauptverfahren wurde rechtskräftig abgeschlossen, sei es durch Verurteilung, Einstellung, Freispruch oder durch die selbständige Anordnung von Massregeln der Besserung und Sicherung. Von den Abgeurteilten wurden 751.387 Personen (=80,6%) verurteilt (Tabelle 1). 2006 waren von den Verurteilten 57.456 (7,6%) Jugendliche, 75.339 Heranwachsende (10,0%) und 618.592 (82,3%) Erwachsene. Dementsprechend kam weit überwiegend das allgemeine Strafrecht (645.485, 85,9%) zur Anwendung , nämlich bei 618.592 Erwachsenen und bei 26.893 nach allgemeinem Strafrecht verurteilten Heranwachsenden (zur Anwendung von Jugendstrafrecht auf Heranwachsende vgl. unten III., 3.1).
Die weit überwiegende Zahl
der Aburteilungen
(2006: 83,3%)
Wie Tabelle 3 (Spalte 9) zeigt, beruhen
diese
Unterschiede ausschliesslich auf der Zunahme der Einstellungen gem.
§ 47
JGG. Dies entspricht der Konzeption des Gesetzgebers, der in
§ 47 JGG
Möglichkeiten der erzieherisch motivierten, mit Auflagen oder
Weisungen
verbundenen Verfahrenseinstellung geschaffen hat, die über die
Einstellungsmöglichkeiten des allgemeinen Strafverfahrensrechts weit
hinausreichen.
Tabelle
1:
Abgeurteilte und Verurteilte nach
allgemeinem und nach Jugendstrafrecht, 1976 bis 2006; alle Straftaten.
Früheres Bundesgebiet mit Westberlin, seit 1995 mit Gesamtberlin.
Jahr |
Abgeurteilte insg. |
% nach allg. Strafrecht Abgeurteilte an Abgeurteilten insg. |
% nach Jugendstrafrecht Abgeurteilte an Abgeurteilten insg. |
Verurteilte insgesamt |
% Verurteilte an Abgeurteilten insg. |
% nach allg. Strafrecht Verurteilte an Abgeurteilten nach allg. Strafrecht insg. |
% nach Jugendstrafrecht Verurteilte an Abgeurteilten nach Jugendstrafrecht insg. |
|
(1) |
(2) |
(3) |
(4) |
(5) |
(6) |
(7) |
1976 |
839.679 |
83,2 |
16,8 |
699.339 |
83,3 |
84,8 |
76,0 |
1980 |
928.906 |
79,1 |
20,9 |
732.481 |
78,9 |
81,6 |
68,5 |
1985 |
924.912 |
80,2 |
19,8 |
719.924 |
77,8 |
81,0 |
65,1 |
1990 |
878.305 |
86,1 |
13,9 |
692.363 |
78,8 |
81,3 |
63,3 |
1995 |
937.385 |
86,7 |
13,3 |
759.989 |
81,1 |
84,0 |
61,7 |
2000 |
908.261 |
84,0 |
16,0 |
732.733 |
80,7 |
83,7 |
64,7 |
2005 |
964.754 |
83,7 |
16,3 |
780.659 |
80,9 |
83,5 |
67,8 |
2006 |
932.352 |
83,3 |
16,7 |
751.387 |
80,6 |
83,1 |
67,9 |
Die Freispruchsquote liegt sowohl bei Aburteilungen im allgemeinen als auch im Jugendstrafrecht deutlich unter 5% (Tabelle 2, Sp. 10; Tabelle 3, Sp. 11). Die Höhe der Nichtverurteilungsrate beruht dementsprechend vor allem auf der Einstellung des Verfahrens, die vor allem im Jugendstrafrecht deutlich zugenommen hat und dort das 2fache der Einstellungsrate im allgemeinen Strafrecht beträgt. Die weiteren Gründe für eine Nicht-Verurteilung sind quantitativ und bezogen auf alle Straftaten bedeutungslos.
Tabelle 2: Nach allgemeinem Strafrecht Abgeurteilte nach Art der Entscheidung, 1976 bis 2006; alle Straftaten. Früheres Bundesgebiet mit Westberlin, seit 1995 mit Gesamtberlin.
Jahr |
Abgeurteilte insg. |
Verurteilte insg. |
Nicht-Verurteilte insg. |
Selbständig auf Massregeln |
Neben Freispruch auf Massregeln |
von Strafe abgesehen |
Einstellung des Verfahrens ohne Massregeln |
Freispruch ohne Massregeln |
||
N |
N |
in % von (1) |
N |
in %
|
in
% |
in %
|
in % von (1) |
in % von (4) |
in %
|
|
(1) |
(2) |
(3) |
(4) |
(5) |
(6) |
(7) |
(8) |
(9) |
(10) |
|
1976 |
698.703 |
592.154 |
84,8 |
106.549 |
0,03 |
0,02 |
0,13 |
10,6 |
69,5 |
4,5 |
1980 |
735.170 |
599.832 |
81,6 |
135.338 |
0,03 |
0,01 |
0,06 |
14,0 |
75,8 |
4,4 |
1985 |
741.861 |
600.798 |
81,0 |
141.063 |
0,03 |
0,01 |
0,05 |
15,1 |
79,6 |
3,8 |
1990 |
756.285 |
615.089 |
81,3 |
141.196 |
0,04 |
0,01 |
0,07 |
15,2 |
81,7 |
3,3 |
1995 |
813.055 |
683.258 |
84,0 |
129.797 |
0,04 |
0,01 |
0,06 |
13,1 |
81,9 |
2,8 |
2000 |
763.307 |
638.893 |
83,7 |
124.414 |
0,07 |
<0,01 |
0,05 |
13,5 |
82,7 |
2,7 |
2005 |
807.427 |
674.004 |
83,5 |
133.423 |
0,08 |
<0,01 |
0,04 |
13,8 |
83,8 |
2,6 |
2006 |
776.376 |
645.485 |
83,1 |
130.891 |
0,08 |
<0,01 |
0,04 |
14,0 |
83,0 |
2,7 |
Jahr |
Abgeurteilte insg. |
Verurteilte insg. |
Nicht-Verurteilte insg. |
Selbständig auf Massregeln |
Überweisung an den Vormundschaftsrichter |
Einstellung des Verfahrens insg. |
|
Freispruch |
|||
(1) |
(2) |
(3) |
(4) |
(5) |
(6) |
(7) |
(8) |
(9) |
(10) |
(11) |
|
N |
N |
in % von (1) |
N |
in % von (1) |
in % von (1) |
in % von (1) |
in % von (4) |
in % von (1) |
in % von (4) |
in % von (1) |
|
1976 |
140.976 |
107.185 |
76,0 |
33.791 |
0,03 |
0,04 |
20,8 |
86,8 |
15,8 |
66,0 |
3,1 |
1980 |
193.736 |
132.649 |
68,5 |
61.087 |
0,02 |
0,01 |
29,0 |
91,8 |
24,4 |
77,4 |
2,5 |
1985 |
183.051 |
119.126 |
65,1 |
63.925 |
0,01 |
0,02 |
32,6 |
93,4 |
27,1 |
77,6 |
2,3 |
1990 |
122.020 |
77.274 |
63,3 |
44.746 |
0,02 |
0,02 |
34,3 |
93,5 |
28,7 |
78,4 |
2,4 |
1995 |
124.330 |
76.731 |
61,7 |
47.599 |
0,02 |
0,01 |
35,6 |
93,0 |
30,7 |
80,2 |
2,7 |
2000 |
144.954 |
93.840 |
64,7 |
51.114 |
0,02 |
0,02 |
32,7 |
92,8 |
28,6 |
81,0 |
2,5 |
2005 |
157.327 |
106.655 |
67,8 |
50.672 |
0,03 |
0,02 |
29,2 |
90,6 |
24,9 |
77,3 |
3,0 |
2006 |
155.976 |
105.902 |
67,9 |
50.074 |
0,02 |
0,01 |
29,4 |
91,6 |
25,7 |
80,0 |
2,7 |
§§ 153, 153a, 153b StPO sind im allgemeinen Strafverfahrensrecht die Mittel der verfahrensrechtlichen Entkriminalisierung, die sich dadurch auszeichnet, dass nicht die Strafbarkeit, sondern lediglich der Verfolgungszwang eingeschränkt ist. Die Verfahrenseinstellung dient nicht nur den justizökonomischen Zielen der Verfahrensbeschleunigung und der Justizentlastung, sondern sie ist in den Dienst der präventiven Aufgaben des Strafrechts gestellt worden. Dem liegt die Einsicht zugrunde, dass "als persönliche Abschreckung des Täters ... häufig bereits der Umstand genügt, dass gegen ihn wegen einer Straftat ermittelt wurde" (Schäfer, Gerhard: Praxis der Strafzumessung, 3. Aufl., München 2001, S. 3. Rdnr. 5). Während von der Warte der Justiz aus bei der Einstellung gem. § 153a StPO von einer einverständlichen Sanktionierung und bei Einstellung gem. § 153 StPO von "Sanktionsverzicht" gesprochen werden kann, weil auf die Auferlegung eines weiteren Übels verzichtet wird, stellt sich aus der Sicht des Beschuldigten (in sozialwissenschaftlicher Betrachtung) die Problematik von "Sanktion durch Verfahren", weshalb hier - aus sozialwissenschaftlicher Perspektive - Personen, deren Verfahren gem. §§ 153, 153a, 153b StPO eingestellt worden sind, als "informell Sanktionierte" bezeichnet werden.
Informelle Sanktionen sind nicht nur im Jugendstrafrecht, sondern auch im allgemeinem Strafrecht quantitativ bedeutsam. Durch den vermehrten Gebrauch der Einstellungsmöglichkeiten der §§ 153, 153a, 153b StPO ist es der Praxis gelungen, trotz des Anstiegs der Zahl der sanktionierbaren Personen die Zahl der Verurteilten in etwa konstant zu halten (Schaubild 6). Relativ gesehen heisst dies, dass der Anteil der formell Sanktionierten an allen (informell und formell) Sanktionierten deutlich rückläufig ist. 1981 dürften noch 66% formell sanktioniert worden sein, 2006 lediglich noch 47,5% (Schaubild 7), entsprechend ist der Anteil der nach allgemeinem Strafrecht informell Sanktionierten von 34% (1981) auf 52,5% (2006) gestiegen.
Die Zunahme der Opportunitätsentscheidungen beruht weitestgehend auf den Einstellungen ohne Auflage gem. §§ 153, 153b StPO (Schaubild 6). Innerhalb der Opportunitätsentscheidungen ging der Anteil der unter Auflagen eingestellten Verfahren von 57% (1981) auf 36,3% (2006) zurück. Die Einstellung unter Auflagen/Weisungen ist faktisch eine pekuniäre Denkzettelsanktion, denn auf die Geldbussenauflage entfielen 2006 82,9% aller Auflagen / Weisungen.
Träger der Opportunitätsentscheidung ist vor allem und in wachsendem Masse die Staatsanwaltschaft. Von allen Einstellungsentscheidungen gem. §§ 153, 153a, 153b StPO wurden 2006 lediglich 14,3% durch das Gericht getroffen.
Schaubild
6: Nach
allgemeinem Strafrecht informell und formell Sanktionierte, 1981 –
2006.
Früheres Bundesgebiet mit Westberlin, seit 1995 mit Gesamtberlin
Schaubild
7: Nach
allgemeinem Strafrecht informell und formell Sanktionierte, 1981 –
2006.
Anteile, bezogen auf (informell und formell) Sanktionierte insgesamt
(Diversionsraten).
Früheres Bundesgebiet mit Westberlin, seit 1995* mit Gesamtberlin
Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Cannabis-Entscheidung von 1994 die Entscheidung des Gesetzgebers, den Verfolgungszwang prozessual einzuschränken, verfassungsrechtlich nicht beanstandet, vorausgesetzt, das "Prinzip der Gesetzlichkeit der Strafbarkeit" und der "Grundsatz der Bestimmtheit der Strafvorschrift" würden gewahrt (BVerfGE 90, 145 [191]). Deshalb wurden die Länder für verpflichtet erklärt, "für eine im Wesentlichen einheitliche Einstellungspraxis der Staatsanwaltschaften zu sorgen" (BVerfGE 90, 145 [190]). Wie der Zeitreihenvergleich zeigt, werden die zwischen den alten Ländern (der Zeitreihenvergleich ist für die neuen Länder erst ab den 1990er Jahren und auch dann nur teilweise möglich) bestehenden Unterschiede im Gebrauch der Einstellungsmöglichkeiten jedoch nicht geringer, sondern sogar deutlich grösser (Schaubild 8). Die Spannweite der Diversionsraten betrug 1981 11%, 2006 hingegen über 20%. Die Bandbreite der Diversionsrate reichte 2006 von 41,5% (Bayern) bis 61,7% (Hessen) und 63,6% (Schleswig-Holstein). Von 100 nach allgemeinem Strafrecht sanktionierbaren Personen wurde in Bayern bei 42 das Verfahren eingestellt, 58 wurden verurteilt, in Hessen wurden dagegen nur 38 verurteilt, in Schleswig-Holstein sogar nur 36.
Schaubild
8: Nach
allgemeinem Strafrecht informell Sanktionierte, nach
Ländern,1981 – 2006.
Anteile der staatsanwaltschaftlichen und
gerichtlichen Einstellungen gem. §§ 153, 153a, 153b StPO, bezogen auf
nach allg. Strafrecht (informell und
formell) Sanktionierte (Diversionsraten)
Zwischen den Ländern bestehen Unterschiede nicht nur hinsichtlich des "Ob", sondern auch hinsichtlich des "Wie" der Einstellung (Schaubild 9). In Bayern wird relativ selten eingestellt (2006: 41,5%), wird aber eingestellt, dann überwiegend unter Auflagen/Weisungen (2006: 23,0% mit, 18,5% ohne Auflagen – bezogen auf Sanktionierte insg.) erfolgende Einstellungen. Den Gegensatz bildet Schleswig-Holstein, wo nicht nur sehr viel mehr als in Bayern eingestellt wird, sondern die Einstellungen zumeist auch ohne Auflagen/Weisungen (Schleswig-Holstein: Diversionsrate 63,6%, 19,5% mit, 44,1% ohne Auflagen) erfolgen. In Schleswig-Holstein ist der Anteil der folgenlosen Diversion (2006: 44,1%) sogar höher als die gesamte Diversionsrate in Bayern (2006: 41,5%). Die Wahrscheinlichkeit, dass das Strafverfahren folgenlos eingestellt wird, war deshalb in Schleswig-Holstein fast 2,5-mal so hoch wie in Bayern. In den neuen Ländern ist, wie Schaubild 9 zeigt, die Einstellungspraxis homogener.
Schaubild
9: Nach
allgemeinem Strafrecht informell Sanktionierte, nach
Ländern, 2006.
Anteile der staatsanwaltschaftlichen und
gerichtlichen Einstellungen gem. §§ 153, 153a, 153b StPO, bezogen auf
nach allg. Strafrecht (informell und
formell) Sanktionierte (Diversionsraten)
Ob deshalb die Einstellungspraxis der StA als "im Wesentlichen uneinheitlich" anzusehen ist, kann aufgrund der für die StA-Statistik erhobenen Daten nur ungefähr und nicht hinreichend differenziert festgestellt werden. Denn Voraussetzung für die Beantwortung dieser Frage wäre, dass die Tat- und Täterstruktur, insbesondere also Art und Schere Delikte, Alter, Geschlecht und Vorstrafenbelastung, in den entscheidungsrelevanten Merkmalen vergleichbar wären. Hierzu enthält die StA-Statistik aber keine Informationen.
Unter den Auflagen dominierten schon immer die Geldauflagen (Tabelle 4). 2006 entfielen hierauf in der BRD 82,9% aller gem. § 153a StPO durch Staatsanwaltschaft oder Gericht verhängten Auflagen. Trotz der durch § 155a StPO auferlegten Verpflichtung, in jeder Lage des Verfahrens die Möglichkeit eines TOA zu prüfen, kommt dem TOA als Einstellungsgrund im Rahmen von § 153a StPO immer noch eine marginale Bedeutung zu. 2006 entfielen hierauf 3,9% aller Einstellungen gem. § 153a StPO. Mit 5% und mehr wiesen lediglich Brandenburg, Hamburg, Rheinland-Pfalz, das Saarland, Schleswig-Holstein und Sachsen-Anhalt überdurchschnittlich hohe Anteile auf. Selbst wenn TOA und Schadenswiedergutmachung (§ 153a I Nr. 1 StPO) zusammengerechnet werden, entfielen hierauf 2006 in den alten Bundesländern im Schnitt 10,7% aller Einstellungen gem. § 153a StPO.
Tabelle 4: Nach § 153a StPO durch StA oder Gericht informell Sanktionierte nach Art der Auflagen/Weisungen – nach Ländern, 2006
|
§ 153a I StPO. |
§ 153a
Nr. 1 StPO |
§ 153a
Nr. 2 StPO |
§ 153a
Nr. 3 StPO |
§ 153a
Nr. 4 StPO |
§ 153a
Nr. 5 StPO |
§ 153a
Nr. 6 StPO |
§ 153a S. 2. 1 StPO |
Baden-Württemberg |
34.651 |
3,4 |
91,0 |
1,5 |
1,3 |
1,4 |
0,8 |
0,6 |
Bayern |
47.397 |
1,8 |
92,5 |
1,4 |
0,8 |
2,2 |
0,0 |
1,3 |
Berlin |
10.203 |
5,0 |
86,5 |
5,3 |
1,4 |
1,0 |
0,0 |
0,8 |
Brandenburg |
12.189 |
9,1 |
77,9 |
5,1 |
1,0 |
5,9 |
0,0 |
0,9 |
Bremen |
3.715 |
4,5 |
89,9 |
2,0 |
0,3 |
1,4 |
0,4 |
1,5 |
Hamburg |
8.784 |
7,4 |
82,0 |
1,5 |
0,6 |
7,5 |
0,0 |
0,9 |
Hessen |
24.980 |
7,5 |
80,7 |
4,6 |
0,5 |
2,4 |
0,1 |
4,1 |
Mecklb.-Vorpommern |
6.589 |
11,2 |
74,5 |
11,0 |
0,7 |
1,2 |
0,2 |
1,2 |
Niedersachsen |
32.176 |
10,5 |
76,4 |
5,4 |
1,0 |
4,9 |
0,2 |
1,7 |
Nordrhein-Westfalen |
70.411 |
9,0 |
79,0 |
4,1 |
0,9 |
4,2 |
0,1 |
2,7 |
Rheinland-Pfalz |
17.491 |
10,0 |
74,8 |
3,1 |
1,7 |
9,6 |
0,0 |
0,8 |
Saarland |
2.010 |
6,1 |
79,4 |
3,9 |
1,4 |
8,0 |
0,0 |
1,2 |
Sachsen |
18.317 |
3,9 |
85,9 |
4,7 |
1,0 |
3,4 |
0,1 |
1,0 |
Sachsen-Anhalt |
10.689 |
8,5 |
65,8 |
12,8 |
1,9 |
7,3 |
0,0 |
3,7 |
Schleswig-Holstein |
10.146 |
11,6 |
72,3 |
6,1 |
0,6 |
7,9 |
0,6 |
1,1 |
Thüringen |
6.783 |
9,9 |
75,0 |
9,1 |
2,6 |
1,9 |
0,1 |
1,5 |
alte Länder (N) |
261.964 |
6,9 |
82,9 |
3,4 |
1,0 |
3,9 |
0,2 |
1,8 |
neue Länder |
54.567 |
7,6 |
77,5 |
7,7 |
1,3 |
4,3 |
0,1 |
1,6 |
insgesamt |
316.531 |
7,0 |
81,9 |
4,2 |
1,0 |
3,9 |
0,2 |
1,8 |
Statistisch nicht erkennbar ist, in wie vielen Fällen ein TOA im Ermittlungsverfahren zwar angeregt, aber nicht erfolgreich durchgeführt worden ist, oder zwar erfolgreich durchgeführt wurde, aber dennoch nicht nach § 153a StPO eingestellt, sondern z.B. nach § 46a StGB die Strafe lediglich gemildert worden ist.
Im Vergleich zum Ermittlungsverfahren spielt die Zahl der Abgeurteilten, denen nach Anklageerhebung auferlegt wurde, sich um einen Täter-Opfer-Ausgleich zu bemühen, quantitativ keine Rolle. 2005 (derzeit noch keine aktuelleren Zahlen verfügbar) sind für die StVerfStat lediglich 218 Personen mit einer derartigen Entscheidung nach allgemeinem Strafrecht gemeldet. Dies entspricht (bezogen auf die 674.004 nach allgemeinem Strafrecht Verurteilten) einem Anteil von 0,03%.
2006 wurden in den alten Ländern 645.485 Personen nach allgemeinem Strafrecht verurteilt. Bei 124.663 (=19,3%) wurde auf Freiheitsstrafe erkannt, wovon gut zwei Drittel (69,8%) zur Bewährung ausgesetzt (N=87.058) wurden. 99,9% aller Freiheitsstrafen waren zeitige; zu lebenslanger Freiheitsstrafe wurden 94 (0,01% der Verurteilten) Personen verurteilt. Auf Strafarrest nach dem Wehrstrafgesetz lautete das Urteil bei 31 Personen. Zu einer Geldstrafe wurden 520.791 (80,7%) verurteilt. Die am häufigsten verhängte Strafe, also Hauptstrafe der Gegenwart, ist demnach die Geldstrafe.
Ihren Bedeutungsgewinn verdankt die Geldstrafe, nachdem sie erstmals durch die Geldstrafengesetze von 1924 aufgewertet wurde, vor allem dem 1. StRG von 1969, durch das die kurze Freiheitsstrafe zugunsten der Geldstrafe weiter zurückgedrängt wurde (§ 47 StGB). Seit der Strafrechtsreform von 1969 wurden jährlich 80% und mehr der nach allgemeinem Strafrecht Verurteilten lediglich noch zu Geldstrafe verurteilt. Von den 2006 nach allgemeinem Strafrecht Verurteilten (=645.485) waren es 520.791 (80,7%) (Schaubild 10). Beachtlich ist, dass die Geldstrafe seit 1970 diesen hohen Anteil von (zumeist) über 80% halten konnte, und zwar trotz der in den letzten Jahrzehnten erfolgten deutlichen Zunahme der Diversionsentscheidungen. Vor allem bei den Strassenverkehrsdelikten, bei leichteren und mittelschweren Delikten der klassischen Kriminalität, bei Umweltstraftaten und bei Verstössen gegen das Ausländergesetz wird Geldstrafe verhängt.
Schaubild
10: Entwicklung
der Sanktionierungspraxis im allgemeinen Strafrecht, 1950 .. 2006
Absolute Zahlen.
Früheres Bundesgebiet mit Westberlin, seit 1995 mit Gesamtberlin
Die volle quantitative Bedeutung pekuniärer Sanktionen im allgemeinen Strafrecht wird freilich erst dann deutlich, wenn berücksichtigt wird, dass 2006 (in den alten Ländern) zu den knapp 521.000 Verurteilungen zu Geldstrafen noch die rd. 217.000 unter der Auflage der Zahlung eines Geldbetrages gem. § 153a I Nr. 2 StPO erfolgenden Einstellungen von Strafverfahren durch Staatsanwaltschaft und Gericht hinzukommen, ferner die bei Strafaussetzung nach allgemeinem Strafrecht verhängten 55.043 Bewährungsauflagen, die regelmässig ebenfalls die Zahlung eines Geldbetrages beinhalten. Noch deutlicher würde die dominierende Rolle pekuniärer Sanktionen werden, würden auch die in Ordnungswidrigkeitenverfahren verhängten Geldbussen berücksichtigt. Die Gesamtzahl der Geldbussen wurde schon in den 1970er Jahren als rd. fünfmal so hoch geschätzt wie die Zahl der Geldstrafen (vgl. Jescheck, Die Geldstrafe als Mittel moderner Kriminalpolitik in rechtsvergleichender Sicht, in: Festschrift für Würtenberger, Berlin 1977, S. 259). Heute dürfte sie, allein schon wegen der Verkehrsordnungswidrigkeiten, deutlich höher sein.
Trotz dieser Dominanz der Geldstrafe werden die mit ihr gegebenen Möglichkeiten zur Zurückdrängung der kurzen Freiheitsstrafe (§ 47 StGB) auch nicht annähernd ausgeschöpft. Zwar hat die Praxis ihre anfänglich äusserste Zurückhaltung gegenüber 30 Tage übersteigenden Tagessätzen etwas aufgegeben (Schaubild 11), aber immer noch verzichtet sie weitestgehend darauf, die Geldstrafe im oberen Bereich der kurzen (!) Freiheitsstrafe einzusetzen, also zwischen 3 und 6 Monaten. Obwohl als Regelstrafrahmen bei Geldstrafe 5 bis 360 Tagessätze (§ 40 I StGB) zur Verfügung stehen, überstieg die Mehrzahl aller Geldstrafen (1976: 78,2%, 2006: 47,6%) noch nicht einmal 30 Tagessätze, war also überhaupt keine Konkurrenz zur Freiheitsstrafe (Mindeststrafe: 1 Monat - § 38 II StGB). Erstmals 2004 lag etwas mehr als der Hälfte aller verhängten Geldstrafen im Bereich von 30 und mehr Tagessätzen (2006: 52,4%), freilich weitaus überwiegend im Bereich zwischen 31 und 90 Tagessätzen (2006: 46,2%). 93,8% aller Geldstrafen blieben 2006 folglich im unteren Viertel des Strafrahmens; auf mehr als 180 Tagessätze entfielen lediglich 0,6% aller Geldstrafen. Geldstrafen von mehr als 90 Tagessätzen konzentrieren sich auf schwere Formen von Eigentums- und Körperverletzungsdelikten.
Schaubild
11: Nach
allgemeinem Strafrecht zu Geldstrafe Verurteilte nach der Zahl der
Tagessätze,
1975 .. 2006.
Anteile, bezogen auf nach allgemeinem Strafrecht zu Geldstrafe
Verurteilte.
Früheres Bundesgebiet mit Westberlin, seit 1995 mit Gesamtberlin
Unzureichend ausgeschöpft werden aber nicht nur die Möglichkeiten hinsichtlich der Zahl der Tagessätze, sondern auch hinsichtlich der oberen wie der unteren Höhe der Tagessätze. Zwar wurde auch hier die anfängliche Zurückhaltung gegenüber Tagessätzen von mehr als 25 € (1976: 4,9%) etwas aufgegeben (2006: 26,1%) (Schaubild 12). Die Zunahme beschränkt sich indes weitestgehend auf die Kategorie der Geldstrafen von mehr als 25 bis einschliesslich 50 € (1976: 4,6%; 2006: 24,1%). Immer noch werden lediglich 2,0% der zu Geldstrafe Verurteilten zu Tagessätzen von mehr als 50 € verurteilt. Ein monatliches Nettoeinkommen (§ 40 II StGB) von mehr als 1.500 € dürfte aber bei mehr als 2,0% der Verurteilten anzunehmen sein, insbesondere bei solchen der Verkehrs- oder Wirtschaftskriminalität. Das eigentliche Kernproblem der Geldstrafe ist indes die Bemessung der Tagessatzhöhe bei wirtschaftlich schwachen Personen, bei denen regelmässig nur der Mindestsatz von 2 DM (1 €) in Betracht kommen kann. Der Anteil der Entscheidungen mit einer Tagessatzhöhe bis einschliesslich 5 € schwankte seit 1976 zwischen 6,8% (1980) und 14,5% (1993). Erst seit 2004 liegt er unter dem damals niedrigsten Wert von 1968; 2006 betrug er 4,5%. Dieser Anteil müsste höher sein, weil anzunehmen ist, dass etwa ein Drittel der zu Geldstrafe Verurteilten nur über ein Einkommen im Sozialhilfebereich verfügt (vgl. Villmow, Kurze Freiheitsstrafe, Ersatzfreiheitsstrafe und gemeinnützige Arbeit, in: Festschrift für Kaiser, Berlin 1998, S. 1301 m.w.N.).
Schaubild
12: Nach
allgemeinem Strafrecht zu Geldstrafe Verurteilte nach der Höhe der
Tagessätze,
1975 .. 2006.
Anteile, bezogen auf nach allgemeinem Strafrecht zu Geldstrafe bis 360
Tagessätzen Verurteilte.
Früheres Bundesgebiet mit Westberlin, seit 1995 mit Gesamtberlin
Druckmittel für die Zahlung der Geldstrafe war und ist die ersatzweise zu verbüssende Ersatzfreiheitsstrafe (§ 43 StGB). Von der Androhung der Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe geht ein hohes Mass an Druck aus. Seit dem EGStGB 1974 ist es dem Gericht möglich, den Aufschub der Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe anzuordnen, wenn die Vollstreckung ein "unbillige Härte" wäre (§ 459f StPO). Diese Härteklausel erwies sich indes in früheren Untersuchungen als "ohne Bedeutung" (Feuerhelm, Gemeinnützige Arbeit als Alternative in der Geldstrafenvollstreckung, Wiesbaden 1991, S. 70). In der rechtspolitischen Diskussion wird deshalb teilweise empfohlen, de lege ferenda die Möglichkeit der Aussetzung der Ersatzfreiheitsstrafe zur Bewährung vorzusehen (vgl. Dölling, Die Weiterentwicklung der Sanktionen ohne Freiheitsentzug im deutschen Strafrecht, ZStW 1992, S. 276).
Der Anteil der Ersatzfreiheitsstrafe verbüssenden Geldstrafenschuldner ist, auch wenn die Daten der Strafvollzugsstatistik insgesamt nur beschränkt aussagekräftig sind, gegenüber den 1970er Jahren gestiegen, obwohl die Gerichte "ratenzahlungsfreundlich" sind und, empirischen Untersuchungen zufolge, fast ein Drittel der Geldstrafen in Raten bezahlt wird. Gemessen an den Zugangszahlen der westdeutschen Vollzugsanstalten (Tabelle 5) dürften in den 1970er und 1980er Jahren zwischen 5% und 6% der jährlich zu Geldstrafe Verurteilten zumindest einen Teil der Geldstrafe in Form der Ersatzfreiheitsstrafe verbüsst haben, seit 1994 sind es mehr als 7%, seit 1996 sogar mehr als 8%, 1998 wurde erstmals die 9%-Marke erreicht; 1999 belief sich der Anteil - alte Länder - auf 9,5% (2002: 9,3%). Neuere Ergebnisse sind nicht mehr ermittelbar, weil infolge der Umstellung der StVollzStat die Zugänge wegen Ersatzfreiheitsstrafe ab 2003 nicht mehr erfasst werden. Damit ist ein kriminalpolitisch wichtiges Problem ins Dunkelfeld verschoben worden.
Tabelle
5:
Zu
Geldstrafe Verurteilte sowie Zugänge im Strafvollzug wegen
Ersatzfreiheitsstrafe.
Früheres Bundesgebiet mit Westberlin, seit 1995 mit Gesamtberlin
|
Nach allgemeinem Strafrecht Verurteilte |
Zu Geldstrafe Verurteilte |
Zugang zu Ersatzfreiheitsstrafe |
|
N |
Rate, bezogen auf Geldstrafe |
|||
1976 |
592.154 |
492.561 |
27.469 |
5,6 |
1980 |
599.832 |
494.114 |
25.905 |
5,2 |
1985 |
600.798 |
488.414 |
30.765 |
6,3 |
1990 |
615.089 |
512.343 |
29.503 |
5,8 |
1995 |
683.258 |
567.195 |
42.127 |
7,4 |
2000 |
638.893 |
513.336 |
46.250 |
9,0 |
2002 |
618.269 |
493.083 |
45.700 |
9,3 |
Die Gründe für die zunehmende Zahl von Personen, die Ersatzfreiheitsstrafe verbüssen, dürften vornehmlich in einer sich verschlechternden wirtschaftlichen Lage als Folge von Arbeitslosigkeit zu suchen sein. Im Ergebnis gelangen deshalb wohl immer mehr sozial Schwache und/oder Randständige in den Vollzug.
Um bei verstärkter Anwendung der Ersatzfreiheitsstrafe das Reformziel der Zurückdrängung der kurzen Freiheitsstrafe nicht zu gefährden, kann den Verurteilten gestattet werden, die Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe durch "freie Arbeit" abzuwenden (Art. 293 EGStGB in Verbindung mit den von den Ländern erlassenen Rechtsverordnungen). Von dieser Möglichkeit wurde in den letzten Jahren in zunehmendem Masse Gebrauch gemacht, Die in der StA-Statistik seit 1991 nachgewiesene Zahl von Personen, die ganz oder teilweise durch unentgeltliche gemeinnützige Tätigkeit die Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe abgewendet haben, ist in den alten Ländern (ohne Bremen und Hamburg) von 5.645 (1991) auf 35.035 (2006) gestiegen. Auch die Zahl der Tage der Ersatzfreiheitsstrafe, deren Vollstreckung durch unentgeltliche gemeinnützige Tätigkeit abgewendet wurde, nahm deutlich zu, und zwar von 142.688 (1991) auf 1.016.386 (2006). Der Anstieg der zu verbüssenden Ersatzfreiheitsstrafe konnte dadurch freilich nur teilweise aufgefangen worden, denn im Vergleichszeitraum (bis 2002; seitdem werden keine Zugangszahlen mehr ausgewiesen) stiegen (im früheren Bundesgebiet) – wie erwähnt - die in der StVollzStat ausgewiesenen Zugangszahlen wegen Verbüssung einer Ersatzfreiheitsstrafe von rd. 27.000 auf rd. 46.000. Deshalb kommt es darauf an, die Voraussetzungen für die Abwendung von Ersatzfreiheitsstrafe zu verbessern. Dies gelingt vor allem dann, wenn eine ausreichende Betreuung der möglicherweise hiervon Betroffenen erfolgt. Dass mit der Optimierung der Organisation der Vermittlung gemeinnütziger Arbeit und der Intensivierung ihrer Betreuung in erheblichem Ausmass die Vollstreckung von (Ersatz-)Freiheitsstrafen vermieden werden kann, wurde in jüngster Zeit vor allem durch das 1998 in Mecklenburg-Vorpommern flächendeckend eingeführte Projekt „Ausweg“ belegt (vgl. Dünkel, Scheel, Vermeidung von Ersatzfreiheitsstrafen durch gemeinnützige Arbeit: Mönchengladbach 2006). Dieses Projekt zeigte, dass durch intensivierte Bemühungen, Geldstrafenschuldner in freie Arbeit (vor oder selbst nach Antritt einer Ersatzfreiheitsstrafe) zu vermitteln, die Zahl der Ersatzfreiheitsstrafenvollstreckungen und damit die Zahl der Vollzugstage deutlich – und zwar auch im Bundesländervergleich – gesenkt werden kann. Das Projekt hat ferner gezeigt, dass selbst besonders problembelastete Geldstrafenschuldner, seien es Probleme, die unmittelbar mit der Ableistung der Arbeit zusammenhingen, sei es mit solchen allgemeiner Art, die z.B. Hilfe bei Behördengängen, Sucht- oder Schuldnerberatung erforderten, bei geeigneter Auswahl ihrer Einsatzstellen und besonderer Betreuung zur Tilgung ihrer Strafe durch gemeinnützige Arbeit in der Lage sind.
Aber auch diese Alternativen zum Ersatzfreiheitsstrafenvollzug dürften die Probleme nur teilweise lösen. Deshalb wird seit geraumer Zeit über Modifikationen der Ersatzfreiheitsstrafe nachgedacht. Angesichts der Überbelegung von Justizvollzugsanstalten sind verschiedene Länder bereits dazu übergegangen, den üblichen Umrechnungsmassstab von sechs Arbeitsstunden für einen Tag Ersatzfreiheitsstrafe, der wiederum einem Tagessatz Geldstrafe entspricht (§ 43 Satz 2 StGB), durch einen grosszügigeren Umrechnungsmassstab zu ersetzen. Andere Länder haben eine vollzugliche Lösung gewählt und sind dazu übergegangen, auf der Basis des § 455a StPO nach Verbüssung der Hälfte der Ersatzfreiheitsstrafe den Vollzug zu unterbrechen und bei Bewährung des Verurteilten den Strafrest im Wege von Gnadenregelungen zu erlassen. In Baden-Württemberg wurde z.B. durch AV d. JuM vom 3.3.1998 (Die Justiz, S. 144) der bisherige Umrechnungsschlüssel von 6 Stunden gemeinnütziger Arbeit pro Tagessatz auf vier Stunden geändert, ferner wird die Vollstreckung nach Verbüssung der Hälfte der Ersatzfreiheitsstrafe gem. § 455a StPO für ein Jahr unterbrochen, bei Bewährung wird die Reststrafe gnadenweise erlassen. Der von der Bundesregierung in der letzten Legislaturperiode vorgelegte Entwurf eines Gesetzes zur Reform des Sanktionenrechts (BT-Drs. 15/2725) sah in § 43 StGB (neu) u.a. eine Neuregelung der bei Uneinbringlichkeit der Geldstrafe zu vollstreckenden Ersatzstrafen vor. Die primäre Ersatzsanktion sollte die Leistung gemeinnütziger Arbeit sein. Einem Tagessatz sollten künftig drei Stunden gemeinnütziger Arbeit entsprechen. Wird die gemeinnützige Arbeit nicht erbracht, so sollte Freiheitsstrafe an die Stelle der uneinbringlichen Geldstrafe treten. Im Unterschied zum geltenden Recht hätten künftig zwei Tagessätze einem Tag Ersatzfreiheitsstrafe entsprochen. Hierdurch sollte die Attraktivität der Leistung gemeinnütziger Arbeit erhöht und auf die begrenzten Kapazitäten an Einsatzstellen Rücksicht genommen werden. Dieser Entwurf ist wegen der vorzeitigen Auflösung des Bundestages im Jahr 2005 der Diskontinuität zum Opfer gefallen; ein neuer Entwurf liegt noch nicht vor.
Eines der Ziele der Strafrechtsreform von 1969 war die Zurückdrängung der Freiheitsstrafe, insbesondere der kurzen Freiheitsstrafe. Im Schnitt der letzten 5 Jahre vor der Strafrechtsreform (1965-1969) wurden 191.234 Personen (35,3% der Verurteilten) zu einer Freiheitsstrafe verurteilt, davon 122.386 Personen (22,6% der Verurteilten) zu einer unbedingt verhängten Freiheitsstrafe. Im Gefolge der Strafrechtsreform wurden absolute wie relative Zahlen der verhängten Freiheitsstrafen mehr als halbiert (Schaubild 13).
Schaubild 13:
Nach
allgemeinem Strafrecht zu Freiheitsstrafen Verurteilte, mit und ohne
Strafaussetzung zur Bewährung (5-Jahres-Durchschnitte), 1960 - 2006.
Anteile, bezogen auf nach allgemeinem Strafrecht zu Freiheitsstrafe
Verurteilte.
Früheres Bundesgebiet mit Westberlin, seit 1995 mit Gesamtberlin
Seitdem sind – mit Schwankungen – die relativen Zahlen der verhängten Freiheitsstrafen um ein knappes Fünftel (1970-74: 16,5%; 2006: 19,3%) gestiegen (Schaubild 13). Gleichwohl liegen auch weiterhin absolute wie relative Zahlen sowohl der insgesamt verhängten als auch (insbesondere) der unbedingt verhängten Freiheitsstrafen deutlich unter dem Niveau vor der Strafrechtsreform von 1969.
Die seit 1969 beobachtbaren Anstiege der absoluten wie der relativen Zahlen der zu Freiheitsstrafe Verurteilten können nicht ohne weiteres als Verschärfung der Sanktionierungspraxis, als Ausdruck einer zunehmenden Punitivität, interpretiert werden. Denn möglicherweise hat sich die Struktur der verurteilten Fälle bzw. Personen verändert, etwa derart, dass wegen des zunehmenden Gebrauchs der Opportunitätsvorschriften die leichte und mittelschwere Kriminalität in zunehmendem Masse nicht mehr zur Anklage kommt mit der Folge, dass der Anteil der schweren, eher mit Freiheitsstrafe zu sanktionierenden Fälle zunimmt. Ob der zunehmende Gebrauch der Opportunitätsvorschriften gerade dies bedeutet, kann aber anhand der Daten StA-Statistik nicht entschieden werden. Die Zunahme des Anteils der aus Opportunitätsgründen eingestellten Verfahren kann nämlich nicht nur bedeuten, dass die Bewertung als Bagatelle sich geändert hat und nunmehr Verfahren, die früher zu einer Verurteilung geführt hätten, aus Opportunitätsgründen eingestellt werden. Die Zunahme kann auch bedeuten, dass vermehrt Bagatellfälle angezeigt worden sind, die eben deshalb als Bagatelle eingestellt werden. Welche Deutung zutrifft oder ob gar beide Deutungen zutreffend sind, muss offenbleiben, da die wichtigsten strafzumessungsrelevanten Informationen, insbesondere zur Schwere des Delikts und zur Vorstrafenbelastung des Beschuldigten, weder für die StA-Statistik noch für die StVerfStat erhoben werden.
Wenn freilich davon ausgegangen werden könnte, dass sich die Bewertung als Bagatelle geändert haben sollte, leichte Fälle also zunehmend aus dem Bereich der Verurteilungen herausgenommen worden sein, dann würde dies bedeuten, dass – bei unveränderter Sanktionierungspraxis - allein deshalb der Anteil der Freiheitsstrafen an den Verurteilten steigen müsste. Wird deshalb als Bezugsgrösse die jeweilige Zahl der "sanktionierten Personen" gewählt (Schaubild 14), dann zeigt sich ein Rückgang des Anteils der insgesamt verhängten Freiheitsstrafen bis 1993 (1981: 12%, 1993: 8,69%). Lediglich zwischen 1994 und 1999 erhöhten sich die Raten (1999: 9,8%), seitdem sind sie wieder rückläufig (2006: 9,1%).
Schaubild
14: Nach
allgemeinem Strafrecht zu Freiheitsstrafen Verurteilte, mit und ohne
Strafaussetzung zur Bewährung, 1981 - 2006.
Anteile, bezogen auf nach allgemeinem Strafrecht (informell und
formell)
Sanktionierte.
Früheres Bundesgebiet mit Westberlin, seit 1995 mit Gesamtberlin
Allerdings: Die Rate der Freiheitsstrafe verbüssenden Gefangenen - Gefangene pro 100.000 strafmündige Einwohner – ist seit einigen Jahren fast wieder auf dem Niveau, das vor der Strafrechtsreform bestand (vgl. Schaubild 15).
Schaubild
15: Freiheitsstrafe
oder Jugendstrafe verbüssende Gefangene, jeweils am 31. März.
Gefangenenrate (pro 100.000 strafmündige
Einwohner)
Früheres Bundesgebiet mit Westberlin, seit 1992 mit Gesamtberlin
Die zeitige Freiheitsstrafe beträgt seit der Strafrechtsreform von 1969 im Mindestmass einen Monat, im Höchstmass 15 Jahre (§ 38 StGB). Von ihrer Dauer her gesehen, waren von den 2006 im früheren Bundesgebiet einschliesslich Berlin verhängten 124.569 zeitigen Freiheitsstrafen 41.796 unter 6 Monaten (33,6%), 52.100 (41,8%) hatten eine Dauer zwischen 6 und 12 Monaten, 20.498 (16,5%) lauteten auf mehr als 12 Monate bis einschliesslich 24 Monate. Auf die Gruppe der zeitigen Freiheitsstrafen von mehr als 24 Monaten entfielen 10.175 (8,2%). Da die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe bis 24 Monate zur Bewährung ausgesetzt werden kann, waren 2006 91,8% aller zeitigen Freiheitsstrafen aussetzungsfähig. Hiervon wurde in 69,8% aller Freiheitsstrafen (bzw. 76,1% aller aussetzungsfähigen Freiheitsstrafen) Gebrauch gemacht. Unmittelbar zu einer vollstreckbaren zeitigen Freiheitsstrafe verurteilt wurden demnach 2006 37.511 Personen. Einschliesslich der 94 zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe wurde also 2006 gegenüber 37.605 (5,8%) aller nach allgemeinem Strafrecht Verurteilten die Vollstreckung der Freiheitsstrafe bereits im Urteil angeordnet.
Tabelle
6:
Nach
allgemeinem Strafrecht Verurteilte nach der Dauer der Freiheitsstrafe,
2006
Früheres Bundesgebiet mit Gesamtberlin
|
insgesamt |
bedingt |
unbe-dingt |
Anteile, bezogen auf |
|||
Verur-teilte |
Freiheitsstrafen |
||||||
insges. |
bedingt |
unbe-dingt |
|||||
Verurteilte |
645.485 |
|
|
|
|
|
|
Geldstrafe |
520.791 |
|
|
80,7 |
|
|
|
Strafarrest |
31 |
27 |
4 |
0,00 |
|
|
|
Freiheitsstrafe |
124.663 |
87.058 |
37.605 |
19,3 |
100,0 |
100,0 |
100 |
unter 6 Monate |
41.796 |
31.232 |
10.564 |
6,5 |
33,5 |
35,9 |
28,1 |
6 Monate |
17.635 |
14.280 |
3.355 |
2,7 |
14,1 |
16,4 |
8,9 |
mehr als 6 bis einschl. 9 Monate |
18.467 |
14.373 |
4.094 |
2,9 |
14,8 |
16,5 |
10,9 |
mehr als 9 bis einschl. 12 Monate |
15.998 |
12.324 |
3.674 |
2,5 |
12,8 |
14,2 |
9,8 |
mehr als 12 bis einschl. 24 Monate |
20.498 |
14.849 |
5.649 |
3,2 |
16,4 |
17,1 |
15,0 |
mehr als 2 bis einschl. 3 Jahre |
4.845 |
|
4.845 |
0,8 |
3,9 |
|
12,9 |
mehr als 3 bis einschl. 5 Jahre |
3.615 |
|
3.615 |
0,6 |
2,9 |
|
9,6 |
mehr als 5 bis einschl. 10 Jahre |
1.570 |
|
1.570 |
0,2 |
1,3 |
|
4,2 |
mehr als 10 bis einschl. 15 Jahre |
145 |
|
145 |
0,0 |
0,1 |
|
0,4 |
lebenslang |
94 |
|
94 |
0,0 |
0,1 |
|
0,2 |
zeitige Freiheitsstrafen |
124.569 |
|
|
19,3 |
99,9 |
|
|
aussetzungsfähige Freiheitsstrafen |
114.394 |
|
|
17,7 |
91,8 |
|
|
ausgesetzte Freiheitsstrafen |
87.058 |
|
|
13,5 |
69,8 |
|
|
unbedingte zeitige Freiheitsstrafen |
37.511 |
|
|
5,8 |
30,1 |
|
|
Schaubild
16: Nach
allgemeinem Strafrecht zu Freiheitsstrafen Verurteilte nach der Dauer
der
verhängten Freiheitsstrafen, 1975-2006.
5-Jahres-Durchschnitte; Anteile, bezogen auf Verurteilte insgesamt.
Früheres Bundesgebiet mit Westberlin, seit 1995 mit Gesamtberlin
„Kurze“ Freiheitsstrafen sind für den deutschen Gesetzgeber, Freiheitsstrafen unter sechs Monaten (§ 47 StGB). Die Sanktionierungspraxis hinsichtlich der verhängten kurzen Freiheitsstrafen zu beobachten, ist erst für die Zeit ab 1970 möglich. Erst seitdem wird die Kategorie "bis unter 6 Monate" ausgewiesen. Zwischen 1967 und 1969 standen nur Angaben über Strafen "bis einschliesslich 6 Monate" zur Verfügung. Für die Zeit davor waren Zuchthaus- bzw. Gefängnisstrafen nur entweder mit einer Dauer bis 3 Monate oder bis 9 Monate einschliesslich ausgewiesen, die 6-Monats-Grenze war statistisch nicht erfasst worden.
Die Umsetzung der Strafrechtsreform hinsichtlich der Zurückdrängung der kurzen Freiheitsstrafe (bis unter 6 Monate) lässt sich deshalb nur annähernd anhand des Vergleichs der Anteile der Freiheitsstrafen mit einer Dauer bis 6 Monate einschliesslich (bis unter 6 Monate, 6 Monate genau) bestimmen. 1967, vor der Strafrechtsreform, lautete noch jedes dritte Urteil auf eine freiheitsentziehende Sanktion bis sechs Monate einschliesslich, 2006 dagegen nur noch jedes zehnte (9,2%) . Dieser erhebliche Rückgang zugunsten der Geldstrafe ist der bleibende Erfolg der Strafrechtsreform 1969.
Dennoch: Zur erstrebten "Ausnahme" ist die kurze Freiheitsstrafe nicht geworden. Denn 2006 waren 33,5% aller verhängten Freiheitsstrafen kürzer als 6 Monate (Schaubild 16 und Tabelle 6). Es ist eine Frage der Bewertung, ob damit bereits das Ziel des Reformgesetzgebers von 1969 erreicht ist, kurze Freiheitsstrafen zur "ultima ratio" werden zu lassen. Die Geldstrafe bildet aus Sicht der Praxis, wie ihre weitgehende Nicht-Anwendung im Bereich zwischen 91 und 180 Tagessätzen zeigt (2006: 5,7% aller Geldstrafen) , lediglich im unteren Bereich eine Alternative zur kurzen Freiheitsstrafe.
Dass und wie sehr „kurze“ Freiheitsstrafen zurückgegangen sind, zeigt auch die Bezugnahme auf die Zahl der Sanktionierten. 1981 wurden noch 5,5% aller nach allgemeinem Strafrecht Sanktionierten zu einer Freiheitsstrafe bis unter 6 Monate verurteilt, 2006 waren es lediglich noch 3,0% (Schaubild 17).
Schaubild
17: Nach
allgemeinem Strafrecht zu Freiheitsstrafen Verurteilte nach der Dauer
der
insgesamt verhängten Freiheitsstrafen, 1981 –
2006
Anteile, bezogen auf (informell und formell) Sanktionierte insgesamt.
Früheres Bundesgebiet mit Westberlin, seit 1995 mit Gesamtberlin
Ebenfalls nicht zur Ausnahme geworden sind die unbedingt verhängten, d.h. nicht zur Bewährung ausgesetzten, kurzen Freiheitsstrafen (Schaubild 18). Zwar wurden sie auf ein Zehntel ihres Umfanges von 1968 zurückgedrängt, aber immer noch sind (2006) 28,1% aller nicht ausgesetzten Freiheitsstrafen kürzer als 6 Monate. Nicht zur Bewährung ausgesetzte kurze Freiheitsstrafen zählen demnach auch weiterhin zu den von den Gerichten nicht nur ausnahmsweise verhängten freiheitsentziehenden Sanktionen.
Schon gar nicht sind vollstreckte kurze Freiheitsstrafen zur Ausnahme geworden. Ziel der Strafrechtsreform war es ja, aufgrund der Einsicht in die Resozialisierungsfeindlichkeit kurzer Freiheitsstrafen nicht nur deren Verhängung, sondern vor allem deren Vollstreckung einzuschränken. Dies ist nur zum Teil gelungen, weil sich infolge unbeabsichtigter Nebenfolgen bei der Vollstreckung anderer Sanktionen die Zahl von zu vollstreckenden kurzen Freiheitsstrafen deutlich erhöht hat. Derartige Nebenfolgen sind eingetreten durch
Nach einer begründeten Schätzung dürften 1967/1968 rd. 137.700 Strafgefangene mit einer realen Vollzugsdauer von unter sechs Monaten inhaftiert gewesen sein, 1981/1982 dagegen immerhin noch 66.400 (Heinz, Strafrechtliche Sozialkontrolle - Beständigkeit im Wandel? Bewährungshilfe 31, 1984, S. 32), d.h. ein Mehrfaches der gut 10.000 Personen, die derzeit (2006: 10.564) jährlich zu einer unbedingten kurzen Freiheitsstrafe verurteilt werden.
Schaubild
18: Nach
allgemeinem Strafrecht zu unbedingt verhängten Freiheitsstrafen
Verurteilte
nach der Dauer; 1975 – 2006.
5-Jahres-Durchschnitte.Anteile, bezogen auf Verurteilte insgesamt.
Früheres Bundesgebiet mit Westberlin, seit 1995 mit Gesamtberlin
Bezogen auf die nach allgemeinem Strafrecht Sanktionierten heisst dies, dass 1981 4,0% zu einer unbedingten zeitigen Freiheitsstrafe, 2006 hingegen 2,7% zu einer derartigen Strafe verurteilt worden waren (Schaubild 19).
Schaubild
19: Nach
allgemeinem Strafrecht zu unbedingter Freiheitsstrafen Verurteilte nach
der
Dauer; 1975 –
2006.
Anteile, bezogen auf (informell und formell) Sanktionierte
insgesamt.
Früheres Bundesgebiet mit Westberlin, seit 1995 mit Gesamtberlin
Die Zurückdrängung der kurzen Freiheitsstrafe beruhte auf der Einsicht in die Resozialisierungsfeindlichkeit dieser Strafart. Daraus konnte und sollte aber nicht abgeleitet werden, der Gesetzgeber messe den mittel- und langfristigen Freiheitsstrafen besondere, die Resozialisierung begünstigende Wirkungen bei. Erwartbar war vielmehr, dass die "Krise präventiven Strafdenkens" (Jescheck, Die Krise der Kriminalpolitik, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 91, 1979, S. 1037 ff.) hinsichtlich stationärer Sanktionen auch die Sanktionierungspraxis bei den anderen Freiheitsstrafen beeinflussen würde. Diese Erwartungen erfüllten sich nicht. Bezogen auf die nach allgemeinem Strafrecht Verurteilten werden heute sogar mehr mittel- und langfristige Freiheitsstrafen verhängt als noch zu Beginn der 1970er Jahre. Der Ausbau der Strafaussetzung zur Bewährung im Bereich bis zu 2 Jahren Freiheitsstrafe hat im Ergebnis lediglich dazu geführt, dass insgesamt nicht mehr unbedingte Freiheitsstrafen verhängt werden. Der Anteil der bereits im Urteil zur Vollstreckung angeordneten Freiheitsstrafen ist heute - nach dem 1990 erreichten niedrigsten Stand von 1,8% - wieder grösser als vor der Strafrechtsreform: 1960 wurden 2,1% der Verurteilten zu einer nicht ausgesetzten Freiheitsstrafe von mehr als 1 Jahr verurteilt, 2006 waren es 2,5% (mehr als 12 bis einschliesslich 24 Monate: 0,9%; mehr als 24 Monate: 1,6%) (Schaubild 18) .
Die – wegen der Ausweitung der Opportunitätsentscheidungen mögliche Veränderung der Verurteiltenstruktur hin in Richtung auf mehr schwere Fälle – Bezugnahme auf die nach allgemeinem Strafrecht Sanktionierten zeigt (Schaubild 17), dass der Anteil der insgesamt verhängten Freiheitsstrafen bis 1993 leicht zurückgegangen ist (1981: 11,7%, 1993: 8,6%), seitdem steigen die Raten wieder leicht an (2006: 9,1%) . Der Rückgang bis 1993 beruht auf einer deutlichen Abnahme des Anteils der Freiheitsstrafen bis 12 Monate. Der Anteil der Freiheitsstrafen von mehr als 12 Monaten ist bis Ende der 1980er Jahre konstant geblieben, seitdem erfolgt ein leichter Anstieg (Schaubild 17). Die Umstellung von der "umgerechneten" auf die "echte" Personenzählung in der StA-Statistik hat insoweit keine nennenswerten Auswirkungen (Tabelle A4 im Anhang).
Noch vor Jahren wäre dieser Befund positiv aufgenommen worden. Inzwischen ist die Freiheitsstrafe jedoch aus mehreren Richtungen unter verstärkten Legitimationsdruck geraten. Hierzu zählt vor allem der Stand der Forschung zur spezial- und generalpräventiven Effizienz von Sanktionen, der zugespitzt in der These von der "Austauschbarkeit und Alternativität" (vgl. hierzu zuletzt und eingehend Kerner, Erfolgsbeurteilung nach Strafvollzug, in: Kerner/Dolde/Mey [Hrsg.]: Jugendstrafvollzug und Bewährung, Bonn 1996, 3 ff.) der Sanktionen zum Ausdruck kommt. Danach ist im Grundsatz davon auszugehen, dass unterschiedliche Sanktionen keine differenzierende Wirkung auf die Legalbewährung haben, dass die Sanktionen vielmehr weitestgehend austauschbar sind. Als Ergebnis seiner Auswertung der europäischen Rückfalluntersuchungen hat Kerner jüngst zusammengefasst: "Immerhin reicht die Mehrheit der internationalen Befunde für die Schlussfolgerung, dass im Bereich der grossen Zahl verschiedene Sanktionen ähnliche Effekte nach sich ziehen, wenn man sie gegen zumindest angenähert vergleichbare Gruppen von Personen einsetzt, die wegen Straftaten verfolgt werden. Dieses Phänomen der spezialpräventiven Austauschbarkeit von Sanktionen ... wird unterstützt von der Einsicht, dass auch generalpräventiv nicht schon von der Rücknahme schwerer Sanktionen als solcher ein Verlust an Innerer Sicherheit befürchtet werden muss ... Die Devise 'im Zweifel weniger' hat also immerhin viel empirische Evidenz für sich. Daraus folgt schon heute für eine Kriminalpolitik und generalisierte Sanktionspraxis, die dem Anspruch auf Rationalität (jedenfalls mit) genügen wollen, die Pflicht zur offenen Begründung (etwa Schuld, Sühne, Gerechtigkeit), wenn man auf bestimmte Delikte oder Tätergruppen stärker als mit der spezialpräventiv geeigneten Mindestreaktion reagieren will. In der Einzelfallbehandlung käme es auf die genaue Abwägung der Kriterien und eine Begründung dahingehend an, warum ein intensiverer Zugriff entweder unvermeidlich ist oder sogar gerade doch präventiv aussichtsreich erscheint" (Kerner aaO., S. 89). Deshalb wird gegenwärtig die Freiheitsstrafe kriminalpolitisch toleriert "nur noch faute de mieux für die Fälle, in denen (noch) keine anderen geeigneten Sanktionen zur Verfügung stehen. Die Eingriffsschwere der Freiheitsstrafe, verbunden mit ihrer mangelnden rückfallprophylaktischen Effizienz, zwingt geradezu zur kontinuierlichen Suche nach Möglichkeiten zu ihrer Ersetzung durch andere Mittel, die den sozialen Zwecken der Strafe besser dienen können" (Weigend, Sanktionen ohne Freiheitsentzug, Goltdammer's Archiv für Strafrecht 1992, 349). Dieser Legitimationsdruck schlägt auch auf die Praxis durch, von der die Beachtung einer "Beweislastumkehr" angemahnt wird, die sich aus dem Verhältnismässigkeitsgrundsatz ergibt. Das Verfassungsprinzip der Verhältnismässigkeit besagt nämlich, "dass eine Massnahme unter Würdigung aller persönlichen und tatsächlichen Umstände des Einzelfalles zur Erreichung des angestrebten Zwecks geeignet und erforderlich sein muss, das heisst, dass das Ziel nicht auf eine andere, den Einzelnen weniger belastende Weise ebenso gut erreicht werden kann, und dass der mit der Massnahme verbundene Eingriff nicht ausser Verhältnis zur Bedeutung der Sache und zur Stärke des bestehenden Tatverdachts stehen darf" (Hill, Verfassungsrechtliche Gewährleistungen gegenüber der staatlichen Strafgewalt, in: Isensee/Kirchhof [Hrsg.]: Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VI: Freiheitsrechte, Heidelberg 1989, § 156, Rdnr. 22). Unter der Geltung des Verhältnismässigkeitsgrundsatzes ist danach im Urteil zu begründen, weshalb im Einzelfall - in spezialpräventiver Betrachtung - Anhaltspunkte dafür bestehen, dass durch eine in die Freiheit des Verurteilten intensiver eingreifende Sanktion die Rückfallwahrscheinlichkeit günstiger beeinflusst werden kann als durch eine eingriffsschwächere Sanktion. Ferner werfen kriminologische Befunde, wonach ein erheblicher Teil der Gefangenenpopulation eine Freiheitsstrafe verbüsst, obwohl das Gericht eine Verbüssung nicht intendierte, die Frage nach geeigneteren Alternativen auf, die den Urteilsspruch besser zu verwirklichen erlauben. Zu denken ist hierbei insbesondere an Fälle der uneinbringlichen Geldstrafe (Ersatzfreiheitsstrafe) oder wenn die aus sozialpädagogischen Gründen erwünschte Massnahme - Unterstellung unter einen Bewährungshelfer - im gegenwärtigen Sanktionensystem des allgemeinen Strafrechts nur bei Verhängung einer Freiheitsstrafe erreichbar ist, die (im Nicht-Bewährungsfall) den unerwünschten und kontraproduktiven Effekt der Freiheitsstrafenverbüssung nach sich zieht.
Lebenslange Freiheitsstrafe wird fast ausschliesslich bei vollendetem Mord verhängt; im Schnitt lautet bei 75% der zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilten der Schuldspruch auf vollendeten Mord. Gut zwei Drittel der wegen vollendeten Mordes Verurteilten werden auch zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt. Bei versuchtem Mord bzw. bei vorsätzlichen Tötungsdelikten sind die Raten der zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilten dagegen erwartungsgemäss deutlich geringer (Tabelle 7).
Tabelle
7:
Lebenslange
Freiheitsstrafe.
Früheres Bundesgebiet mit Gesamtberlin 2006
|
Verurteilte |
Freiheits-strafe insg. |
lebenslange Freiheitsstrafe |
||
insgesamt |
Anteil an |
||||
Verurteilten |
lebenslanger Freiheitsstrafe |
||||
Straftaten insgesamt |
645.485 |
124.663 |
94 |
0,01 |
100,0 |
vollendeter Mord |
101 |
101 |
71 |
70,3 |
75,5 |
versuchter Mord |
81 |
81 |
14 |
17,3 |
14,9 |
Totschlag |
297 |
297 |
2 |
0,7 |
2,1 |
vorsätzliche Tötungsdelikte |
479 |
479 |
87 |
18,2 |
92,6 |
Lebenslange Freiheitsstrafe ist dementsprechend eine nur ausnahmsweise verhängte Strafe. Die Zahl der zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilten lag in den Jahren 1970 bis 1994 jeweils unter 100, ebenfalls in den Jahren 1999, 2002, 2003, 2005 und 2006.
Über die tatsächliche Verbüssungsdauer bei lebenslanger Freiheitsstrafe informiert keine Statistik. Erhebungen, wie etwa diejenige der KrimZ (zuletzt Kröniger, Lebenslange Freiheitsstrafe, Sicherungsverwahrung und Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, Ergebnisübersicht zur bundesweiten Erhebung für das Jahr 2004. Wiesbaden, 2006) informieren nur über die tatsächlich Entlassenen; nicht jeder zu lebenslanger Freiheitsstrafe wird indes entlassen. Für noch inhaftierte, zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilte fehlen sowohl statistische Angaben über ihre bisherige als auch über die zu erwartende Verbüssungsdauer.
Strafaussetzung zur Bewährung ist in dem spezialpräventiven Konzept des Gesetzgebers der Strafrechtsreform von 1969 nicht mehr die ausnahmsweise zu gewährende, besonders zu rechtfertigende Vollstreckungsmodifikation, sondern hat sich - als Regelfall bei verhängter Freiheitsstrafe - zu einer "besonderen 'ambulanten' Behandlungsart" (BGHSt 24, 40 [43]) fortentwickelt. Dieses Konzept hat die Praxis voll umgesetzt. Der Anteil der Strafaussetzungen gem. § 56 StGB an den Freiheitsstrafen hat sich in den letzten 40 Jahren mehr als verdoppelt (Aussetzungsrate - bezogen auf insgesamt verhängte Freiheitsstrafen - 1954: 30,2%; 2006: 69,8%%) (Schaubild 13).
Der zunehmende Anstieg der Zahl der verhängten Freiheitsstrafe (Schaubild 13) wurde in den letzten Jahren durch eine ebenfalls zunehmend erfolgte Aussetzung der Vollstreckung der Freiheitsstrafen zur Bewährung aufgefangen (ausgenommen die erste Hälfte der 1980er Jahre mit einem überproportionalen Anstieg der verhängten Freiheitsstrafen). Der Zuwachs der Aussetzungsraten, also der Anteil der ausgesetzten an den aussetzungsfähigen Freiheitsstrafen bis 2 Jahre, verlangsamte sich in den 1980er Jahren; bis 2003 gab es keinen Zuwachs mehr, die Aussetzungsraten schwankten um Werte zwischen 73% und 75%. Erst seit 2004 haben die Aussetzungsraten wieder die 76%-Marke erreicht. ) In dem Masse, in dem die Strafaussetzung zur Bewährung stagnierte oder nur noch geringfügige Zuwächse aufwiese, konnte der Anstieg der verhängten Freiheitsstrafen nicht mehr aufgefangen werden. Absolut wie relativ stieg deshalb die Zahl der unbedingt verhängten Freiheitsstrafe seit 1992/93 an. 1992 war mit 32.251 Verurteilten die niedrigste Zahl unbedingt verhängter Freiheitsstrafen seit Führung der StVerfStat erreicht worden. Seitdem nahmen die Verurteilungen zu dieser Sanktion bis 1998 (41.751 zu unbedingter Freiheitsstrafe Verurteilte) fast ausnahmslos von Jahr zu Jahr wieder zu; innerhalb von nur sieben Jahren um knapp 30%. Seit 1998 gehen die absoluten Zahlen wieder leicht zurück (2006: 37.605), die relativen Zahlen – Anteil an Verurteilten – stiegen jedoch wegen des stärkeren Rückgangs der Verurteiltenzahlen weiterhin (bis 2002: 6,2%) an; seitdem ist auch insoweit ein leichter Rückgang festzustellen (2006: 5,8%).
Derzeit werden drei Viertel (2006: 76,1%) der aussetzungsfähigen Strafen, also der Freiheitsstrafen bis einschliesslich zwei Jahren, zur Bewährung ausgesetzt. Die Aussetzungsrate (bezogen auf die jeweils aussetzungsfähigen Freiheitsstrafen) ist umso höher, je kürzer die Freiheitsstrafe ist. Aber auch bei Freiheitsstrafen zwischen einem Jahr und zwei Jahren ist - jedenfalls seit der zweiten Hälfte der 1980er Jahre - die Aussetzung die Regel (2006: 72,4%%) und nicht mehr die Ausnahme (Schaubild 20). Von daher stellt sich die Frage nach der Erweiterung des Anwendungsbereichs der Strafaussetzung zur Bewährung auf Strafen von mehr als zwei Jahren.
Die Entwicklung der Aussetzungsraten zeigt freilich einen unterschiedlichen Verlauf:
· Bei Freiheitsstrafen unter 6 Monaten wurde bereits 1984 der Höhepunkt erreicht, seitdem sind die Aussetzungsraten der Tendenz nach leicht rückläufig. Seit 1997 liegen sie sogar unter dem Ende der 1970er Jahre erreichten Stand.
· Leicht, aber stetig angestiegen sind die Aussetzungsraten bei Freiheitsstrafen zwischen 6 und 12 Monaten. Hier gibt es seit Mitte der 1990er Jahre nur noch ganz leichte Veränderungen. Die Raten liegen seit einigen Jahren über jenen der kurzen Freiheitsstrafen unter 6 Monaten.
· Vor allem in den 1980er Jahren sind die Aussetzungsraten bei Freiheitsstrafen zwischen 12 und 24 Monaten stark angestiegen. Eine Abflachung erfolgte in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre; seit 2002 nehmen die Raten wieder zu.
Schaubild
20: Nach
allgemeinem Strafrecht Verurteilte nach der Dauer der zur Bewährung
ausgesetzten Freiheitsstrafen, 1970 – 2006.
Anteile, bezogen auf die jeweils aussetzungsfähigen Freiheitsstrafen
(Aussetzungsraten).
Früheres Bundesgebiet mit Westberlin, seit 1995 mit Gesamtberlin
Dieser zunehmende Gebrauch der Strafaussetzung zu Bewährung führte zu einer deutlichen Zunahme der - absoluten wie relativen – Zahl der zu einer bedingten Freiheitsstrafe Verurteilten. Im Schnitt der Jahre 1975-1979 wurden knapp 11% (n=64.105) der Verurteilten zu einer bedingten Freiheitsstrafe verurteilt, 2006 waren es über 13% (n=87.058). Hierdurch konnte, wie ausgeführt, die Zunahme der unbedingt verhängten Freiheitsstrafen weitgehend und bis fast in die jüngste Vergangenheit hinein in Grenzen gehalten werden. Dies galt insbesondere für Freiheitsstrafen von mehr als 12 Monaten bis einschliesslich 24 Monate. Dementsprechend kam es innerhalb der ausgesetzten Freiheitsstrafen zu einer deutlichen Verschiebung des Anteils der kurzen hin zu den mittelfristigen Freiheitsstrafen (Schaubild 21).
Schaubild
21: Nach
allgemeinem Strafrecht Verurteilte nach der Dauer der zur Bewährung
ausgesetzten Freiheitsstrafen, 1975-2006.
5-Jahres-Durchschnitte.
Anteile, bezogen auf aussetzungsfähige Freiheitsstrafen bis zwei Jahre
insgesamt
Früheres Bundesgebiet mit Westberlin, seit 1995 mit Gesamtberlin.
Diese absolute wie relative Verschiebung zeigt sich besonders deutlich, wenn die bedingten Freiheitsstrafen auf die Verurteilten (Schaubild 22) oder die nach allgemeinem Strafrecht Sanktionierten (Schaubild 23) bezogen werden. Der Anteil der bedingt verhängten Freiheitsstrafen unter 6 Monaten an den Verurteilten ging von 6,4% (1970-1974) auf 4,8% zurück. Der entsprechende Anteil der bedingten Freiheitsstrafen mit einer Dauer von 6 Monaten bis einschliesslich 12 Monate stieg dagegen von 4,2% auf 6,3%; derjenige der bedingten Freiheitsstrafen von mehr als 12 Monaten bis einschliesslich 24 Monate von 0,2% auf 2,3%.
Schaubild 22: Nach allgemeinem
Strafrecht zu bedingter Freiheitsstrafe
Verurteilte nach der Dauer; 1975 – 2006.
5-Jahres-Durchschnitte.Anteile, bezogen auf Verurteilte insgesamt.
Früheres Bundesgebiet mit Westberlin, seit 1995 mit Gesamtberlin
Schaubild 23: Nach allgemeinem
Strafrecht zu bedingter
Freiheitsstrafe Verurteilte nach der Dauer; 1981 – 2006.
Anteile, bezogen auf (informell und formell) Sanktionierte
insgesamt.
Früheres Bundesgebiet mit Westberlin, seit 1995 mit Gesamtberlin
Flankierend zur Strafaussetzung werden in immer stärkerem Masse auch Auflagen und Weisungen angeordnet. 2006 wurden 63,2% der Strafaussetzungen (bei Freiheitsstrafe und Strafarrest) mit einer Auflage und 60,0% mit einer Weisung verbunden. Insbesondere wird von der fakultativen Möglichkeit, den Verurteilten einem Bewährungshelfer zu unterstellen, vermehrt Gebrauch gemacht. Wegen der nicht in gleichem Masse steigenden Zahl der Bewährungshelfer dürfte in den letzten Jahren die Fallbelastungszahl gestiegen sein. Da letztmals in der Bewährungshilfestatistik für 1961 die Zahl der hauptamtlichen Bewährungshelfer nachgewiesen wurde, ist die Veränderung der Fallbelastungszahl anhand amtlicher Statistiken derzeit aufgrund veröffentlichter Daten nicht bestimmbar. Die jährlichen Gesamtübersichten über die Zahl der Bewährungshelfer und Probanden sowie die sich daraus ergebenden Fallbelastungszahlen werden weiterhin in den Ländern erhoben. Für das Jahr 2004 ergibt sich aus den Mitteilungen aus allen 16 Ländern (schriftliche Mitteilung des BMJ vom 4.7.2007) eine durchschnittliche Belastung (Proband pro Bewährungshelfer) von 78,9 (für 2003, 2005 und 2006 liegen nicht aus allen Ländern Meldungen vor; aufgrund der unvollständigen Meldungen ergibt sich folgende durchschnittliche Belastung: 2003 - 12 Länder - 74,3; 2005 - 13 Länder - 78,0; 2006 - 13 Länder – 82,05; für 2006 schriftliche Mitteilung des BMJ vom 11.1.2008). Die Belastungssituation für die Bewährungshelfer dürfte sich noch weiter dadurch verschärfen, dass die Unterstellung von mehr problembelasteten Probanden einen höheren Betreuungsaufwand erfordert.
Durch die stetige Verlagerung auf informelle Sanktionen und auf Geldstrafen sowie durch die Ausweitung der Strafaussetzung selbst verbleiben für die Strafaussetzung zur Bewährung zunehmend mehr "problematische Fälle". Dies ist ablesbar am Anstieg des Anteils der erheblich vorbelasteten Probanden (Schaubild 24). Unter den einem hauptamtlichen Bewährungshelfer unterstellten Probanden sind deutlich angestiegen sowohl die Zahlen der Probanden, die bereits zuvor schon mindestens einmal verurteilt worden waren, als auch derjenigen, die bereits zuvor unter Bewährungsaufsicht standen.
Schaubild
24: Nach allgemeinem
Strafrecht erfolgte Unterstellungen unter einen hauptamtlichen
Bewährungshelfer
– beendete Unterstellungen nach früherer Verurteilung der Probanden,
1977 -
2005.
Absolute Zahlen.
Früheres Bundesgebiet mit Westberlin, seit 1992 mit Gesamtberlin, ohne
Hamburg
Beachtlich ist deshalb das Mass der "Bewährung der Strafaussetzung zur Bewährung". Die Daten der Bewährungshilfestatistik zeigen, dass das gesetzgeberische Experiment der Anhebung der Obergrenze und das Experiment der Praxis, vermehrt vom Institut der Straf- und der Strafrestaussetzung Gebrauch zu machen, erfolgreich ist, jedenfalls gemessen an der abschliessenden richterlichen Entscheidung über Widerruf oder Straferlass. Die Öffnung der Strafaussetzung für die bisherigen traditionellen Zielgruppen des Strafvollzugs führte nämlich nicht, wie aufgrund der damit verbundenen Zunahme einer nach "klassischen" prognostischen Kriterien "schwierigen" Klientel zu vermuten war, zu einem Anstieg der Widerrufsraten. Die Ausdehnung der Strafaussetzung ging vielmehr einher mit einer deutlichen Erhöhung des Anteils der besonders risikobelasteten Probandengruppe (Schaubild 24) und mit einem deutlichen Anstieg der Straferlassquote, namentlich bei den als besonders risikobelastet geltenden Gruppen (Schaubild 25). Die Strafaussetzung (einschliesslich Strafrestaussetzung) bei gleichzeitiger Unterstellung unter einen Bewährungshelfer wird in weniger als einem Drittel (früheres Bundesgebiet 2006: 29,7%) der nach allgemeinem Strafrecht erfolgten Unterstellungen widerrufen; in den sonstigen, den prognostisch eher günstigeren Fällen - Strafaussetzung ohne Unterstellung unter einen Bewährungshelfer - dürfte die Widerrufsrate sogar noch geringer sein.
Schaubild
25: Nach
allgemeinem Strafrecht erfolgte Unterstellungen unter einen
hauptamtlichen
Bewährungshelfer – beendete Unterstellungen nach früherer Verurteilung
der
Probanden, 1977 - 2005.
Bewährungsraten nach
Vorverurteilung.
Früheres Bundesgebiet mit Westberlin, seit 1992 mit Gesamtberlin, ohne
Hamburg
Ein Widerruf erfolgt nicht bereits dann, wenn der Verurteilte irgendeine neue Straftat begeht, sondern - von groben Auflagen- bzw. Weisungsverstössen abgesehen - dann, wenn er eine "Straftat begeht und dadurch zeigt, dass die Erwartung, die der Strafaussetzung zugrunde lag, sich nicht erfüllt hat" (§ 56f StGB). Die Rückfallrate, gemessen über erneute Verurteilung innerhalb eines Zeitraums von vier Jahren, ist deshalb erwartungsgemäss höher als die Widerrufsrate. Wie die Rückfallstatistik (Bezugsjahr 1994) zeigt, wurden insgesamt 44,7% der Verurteilten mit einer zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe wieder rückfällig (vgl. Jehle, Jörg-Martin; Heinz, Wolfgang; Sutterer, Peter (unter Mitarbeit von Sabine Hohmann, Martin Kirchner und Gerhard Spiess): Legalbewährung nach strafrechtlichen Sanktionen - Eine kommentierte Rückfallstatistik. Mönchengladbach 2003, S. 64 f. <http://www.bmj.de/media/archive/443.pdf>). Die unter Bewährungsaufsicht Stehenden wurden deutlich häufiger erneut straffällig (60,9%) als diejenigen ohne Bewährungshelfer (39,0%). Dies überrascht nicht, denn nach den gesetzlichen Vorgaben erfolgt die im allgemeinen Strafrecht fakultative Unterstellung unter einen Bewährungshelfer bei den Rückfallgefährdeteren.
Die beiden durch die Strafrechtsreform von 1969 eingeführten Rechtsinstitute des Absehens von Strafe und der Verwarnung mit Strafvorbehalt sind quantitativ bedeutungslos geblieben:
Der bereits 1906 erhobene Vorwurf, Untersuchungshaft sei „trübstes Kapitel der deutschen Strafrechtspflege“ (Rosenberg, Die Reform der Untersuchungshaft, ZStW 1906, 339) gilt jedenfalls immer hinsichtlich der statistischen Erfassung der Untersuchungshaftanordnung und Untersuchungsgefangenen (vgl. hierzu Erster Periodischer Sicherheitsbericht, Berlin 2001, 359). Es können derzeit weder zur Zahl der insgesamt inhaftierten Untersuchungsgefangenen noch zur durchschnittlichen Untersuchungshaftdauer Aussagen gemacht werden. Es gibt hierzu keine Statistiken. Aussagekräftige Informationen liegen lediglich in der StVerfStat hinsichtlich jenes Teils der Untersuchungsgefangenen vor, die angeklagt worden sind. Zwar wird damit wohl der überwiegende Teil der Untersuchungsgefangenen erfasst sein, aber unbekannt bleibt weiterhin die Zahl der Personen, bei denen zwar ein Haftbefehl erlassen, aber nicht vollstreckt wurde; ebenfalls nicht erfasst sind ferner die Personen, die zwar in Untersuchungshaft waren, bei denen es aber nicht zur Anklage kam, weil der Tatverdacht hierfür nicht hinreichend war, der Haftgrund nicht aufrecht zu erhalten war oder eine Abschiebung erfolgte.
Untersuchungshaft ist ein Grundrechtseingriff, der legitimiert wird durch Zwecke der Verfahrens- und Vollstreckungssicherung und der durch den Grundsatz der Unschuldsvermutung begrenzt wird. Wegen des Grundrechtseingriffs ist im Einzelfall immer abzuwägen zwischen dem Bedürfnis nach wirksamer Strafverfolgung und dem Freiheitsrecht und -anspruch des Einzelnen. "Den vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlich und zweckmässig erscheinenden Freiheitsbeschränkungen (ist) ständig der Freiheitsanspruch des noch nicht verurteilten Beschuldigten als Korrektiv (entgegenzuhalten). Dies bedeutet: Die Untersuchungshaft muss in Anordnung und Vollzug von dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit beherrscht werden" (BVerfGE 19, 342 [347]). Durch das Gesetz zur Änderung der Strafprozessordnung und des Gerichtsverfassungsgesetzes von 1964 wurde der Verhältnismässigkeitsgrundsatz, der als allgemeiner, aus dem Rechtsstaatsprinzip sich ergebender Rechtsgrundsatz für alle Massnahmen des Staates gegenüber dem Bürger gilt, ausdrücklich für die Untersuchungshaft kodifiziert. Untersuchungshaft darf gem. § 112 I S. 2 StPO "nicht angeordnet werden, wenn sie ... zu der zu erwartenden Strafe ... ausser Verhältnis steht". Sonst würde die angeordnete - und regelmässig auch vollzogene - Untersuchungshaft stärker in das Freiheitsrecht des als unschuldig Geltenden eingreifen als die Reaktion, die aus der Verurteilung des als schuldig Erkannten folgt. Daraus folgt:
· Weniger einschneidende Massnahmen haben Vorrang. Selbst dort, wo Untersuchungshaft sich als geeignet und erforderlich ausweist, ist die Eingriffsintensität der Untersuchungshaft abzuwägen gegenüber dem angestrebten Ziel, den staatlichen Strafanspruch zu verwirklichen.
· Anordnung und Vollzug der Untersuchungshaft müssen im rechten Verhältnis zur Bedeutung der Sache und zu der voraussichtlich zu erwartenden Strafe stehen. Untersuchungshaft ist deshalb bereits dann unverhältnismässig, wenn die zu erwartende Strafe nicht ebenfalls in Freiheitsentzug besteht. Wegen der Problematik einer solchen Prognoseentscheidung in dem Verfahrensstadium der Untersuchungshaftanordnung sollte der Erlass eines Haftbefehls jedenfalls dann ausgeschlossen sein, wenn eine Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr zu erwarten ist, weil Strafen bis zu dieser Höhe in der Regel auszusetzen sind und auch ausgesetzt werden.
· Die Dauer von Untersuchungshaft darf erstens "nicht ausser Verhältnis zu der zu erwartenden Strafe stehen" (BVerfGE 20, 45 [49]). Zweitens kann sich "mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft das Gewicht des Freiheitsanspruchs gegenüber dem Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung vergrössern" (BVerfGE 36, 264 [270]).
Wegen dieser Abhängigkeit der Untersuchungshaftanordnung von der Sanktionsprognose war deshalb an sich zu erwarten, dass im Gefolge der Strafrechtsreform von 1969 sowohl die Untersuchungshaftraten als auch der Anteil der Untersuchungsgefangenen, der lediglich zu ambulanten Sanktionen verurteilt wird, deutlich zurückgehen würden. Eine derartige Erwartung war deshalb begründet, weil sonst durch die Untersuchungshaftpraxis die Wertentscheidung des im materiellen Strafrecht verwirklichten Reformprogramms vereitelt werden würde. Die Überzeugung, dass die kurze Freiheitsstrafe in aller Regel spezialpräventiv mehr schadet als nützt, hat den Gesetzgeber bewogen, die Verhängung und den Vollzug dieser Strafe soweit als möglich auszuschliessen. Diese Entscheidung würde durchkreuzt, würde gleichwohl gegen den Beschuldigten Untersuchungshaft angeordnet werden. Zwar haben Untersuchungshaft und Freiheitsstrafe verschiedene Aufgaben, die Eingriffsintensität und die Folgen sind bei Untersuchungshaft aber nicht selten stärker als bei der Freiheitsstrafe. Diese kennt vielfältige Möglichkeiten der Lockerung, die bei der Untersuchungshaft wegen ihrer Sicherungsfunktion in der Regel gerade nicht bestehen. Untersuchungshaft wirkt infolgedessen nicht selten persönlich destabilisierender und sozial wie beruflich desintegrierender als Freiheitsstrafe.
Die Erwartung, dass die Untersuchungshaftraten, d.h. die Anteile der Untersuchungsgefangenen an den jeweiligen Verurteilten eines Berichtsjahres, parallel zum Rückgang stationärer Sanktionen zurückgehen würden, hat sich nicht erfüllt. Die Untersuchungshaftraten der nach allgemeinem Strafrecht Verurteilten blieben weitgehend konstant; erst Mitte der 1980er Jahre erfolgte, nicht zuletzt unter dem Einfluss von Wissenschaft und Öffentlichkeit, ein deutlicher Rückgang auf zuletzt 3,7%; seit 1990 sind, nicht zuletzt im Zusammenhang mit der Reaktion auf Ausländerkriminalität, die Untersuchungshaftraten wieder deutlich angestiegen (1999: 5,0%), erst in den letzten beiden Jahren erfolgte ein Rückgang (2006: 3,2%) (Schaubild 26).
Da Untersuchungshaft indes bei schweren Delikten häufiger angeordnet wird als bei leichten Delikten, werden bei zunehmendem Gebrauch von Diversion die auf Verurteilte bezogenen Untersuchungshaftraten im zeitlichen Längsschnitt zunehmend überhöht. Denn wegen der Ausfilterung leichter Delikte durch Diversion nimmt der Anteil der schweren Delikte, bei denen Untersuchungshaft wegen des Verhältnismässigkeitsgrundsatzes nur angeordnet werden sollte, unter den Verurteilungen zu. Im Vergleich von allgemeinem und Jugendstrafrecht sind die Untersuchungshaftraten bei jungen Menschen wegen der hier höheren Diversionsrate stärker als die der Erwachsenen verfälscht. Die auf Sanktionierte bezogenen Untersuchungshaftraten der nach JGG Verurteilten liegen deshalb – erwartungsgemäss – deutlich unter den nach allgemeinem Strafrecht Abgeurteilten (Schaubild 27).
Schaubild
26: Untersuchungshaftraten
nach Jugendstrafrecht und nach allgemeinem Strafrecht, 1975 –
2006.
Anteile, bezogen auf Verurteilte insgesamt.
Früheres Bundesgebiet mit Westberlin, seit 1995 mit Gesamtberlin
Schaubild
27: Untersuchungshaftraten
nach Jugendstrafrecht und nach allgemeinem Strafrecht, 1981 –
2006.
Anteile, bezogen auf (informell und formell) Sanktionierte
insgesamt.
Früheres Bundesgebiet mit Westberlin, seit 1995 mit Gesamtberlin
Zwischen den Ländern bestehen erhebliche Unterschiede in der Höhe der Untersuchungshaftraten (Schaubilder 28, 29, 30, 31). Die Spannweite der auf Verurteilte bezogenen U-Haftrate bei den nach JGG verurteilten U-Gefangenen reicht (2006) von 0,9% (Niedersachsen, Schleswig-Holstein) bis zu 7,4% (Hamburg) bzw. 7,6% (Berlin). Nicht ganz so gross sind die Unterschiede bei den nach allgemeinem Strafrecht Verurteilten (2006: 1,6% Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern; 5,1% Hessen bzw. 7,1% Hamburg). Diese zwischen den Ländern bestehenden Unterschiede in den auf Verurteilte bezogenen U-Haftraten können – zumindest teilweise - eine Folge der erheblichen Varianz im Einstellungsverhalten sein, denn je mehr Straftaten der leichten und mittelschweren Kriminalität eingestellt werden, umso höher ist – erwartungsgemäss - die (auf die Zahl der Verurteilten bezogene) Untersuchungshaftrate. Freilich bleiben auch dann Unterschiede bestehen, wenn die Zahl der Abgeurteilten mit vorangegangener Untersuchungshaft bezogen wird auf die Gesamtheit aller (informell oder formell) sanktionierten Personen. Schleswig-Holstein (0,2%) und Niedersachsen (0,3%) weisen weiterhin die niedrigsten U-Haftraten nach JGG auf, Berlin (1,8%) und Hamburg (1,3%) die höchsten. Auch bei den nach allgemeinem Strafrecht Sanktionierten zählen die Länder, die die niedrigsten bzw. die höchsten U-Haftraten – bezogen auf Verurteilte – aufweisen, weiterhin zur entsprechenden Ländergruppe. Dies zeigt, dass hier noch erheblicher Spielraum für Haftvermeidungsmassnahmen und ‑projekte besteht.
Schaubild
28: Untersuchungshaftraten
bei den nach Jugendstrafrecht Verurteilten, nach Ländern,
2006
Anteile, bezogen auf nach JGG Verurteilte insgesamt
Schaubild
29: Untersuchungshaftraten
bei den nach Jugendstrafrecht (formell oder informell) Sanktionierten,
nach
Ländern, 2006
Anteile, bezogen auf nach JGG Sanktionierte insgesamt
Schaubild
30: Untersuchungshaftraten
bei den nach allgemeinem Strafrecht Verurteilten, nach Ländern, 2006
Anteile, bezogen auf nach nach allgemeinem Strafrecht Verurteilte
insgesamt
Schaubild
31: Untersuchungshaftraten
bei den nach allgemeinem Strafrecht (formell oder informell)
Sanktionierten,
nach Ländern, 2006.
Anteile, bezogen auf nach allgemeinem Strafrecht Sanktionierte insgesamt
Haftgrund für die Anordnung von U-Haft ist weitaus überwiegend Flucht oder Fluchtgefahr (Tabelle 8). 2006 wurde dieser Haftgrund in 82,4% aller Haftgrundangaben (Mehrfachnennungen) ausgewiesen; auf Verdunkelungsgefahr entfielen weniger als 5% der Nennungen. Der Vergleich mit früheren Jahren zeigt eine deutliche Verschiebung der Haftgründe. Bis 2003 entfielen auf Flucht/Fluchtgefahr mehr als 90% der Nennungen. Die in den beiden letzten Jahren erfolgte Zurückdrängung dieses Haftgrundes erfolgte zugunsten der Wiederholungsgefahr (§ 112 III und 112a I StPO). 1999 entfielen hierauf lediglich 1,6% der Nennungen (93,1% auf Flucht/Fluchtgefahr), 2006 dagegen 8,2%.
Tabelle
8:
Untersuchungshaftrate
insgesamt und
Haftgründe
Früheres Bundesgebiet mit Westberlin, seit 1995 mit Gesamtberlin
Jahr |
In der StVerfStat erfasste Personen* |
Personen |
Haftgründe (auch mehrere nebeneinander |
|||||
Mehr-fachnen-nungen |
flüchtig
oder Flucht-gefahr |
Verdun-kelungs-gefahr
|
Verbre-chen
wider das Leben |
Wiederholungsgefahr bei Straftat |
||||
gg.
die sex. Selbstbestim. |
gemäss |
|||||||
1976 |
868.821 |
42.105 |
43.492 |
39.664 |
2.099 |
485 |
480 |
764 |
1980 |
967.434 |
37.401 |
38.284 |
35.031 |
1.321 |
420 |
343 |
1.169 |
1985 |
955.698 |
31.036 |
32.062 |
29.579 |
1.514 |
379 |
207 |
383 |
1990 |
893.240 |
27.553 |
28.298 |
26.489 |
1.054 |
218 |
176 |
361 |
1995 |
951.064 |
36.070 |
37.257 |
34.982 |
1.308 |
304 |
294 |
369 |
2000 |
923.760 |
36.683 |
37.899 |
34.949 |
1.604 |
275 |
345 |
726 |
2005 |
980.936 |
27.252 |
30.310 |
25.578 |
1.425 |
795 |
567 |
1.945 |
2006 |
947.837 |
24.352 |
27.493 |
22.666 |
1.446 |
1.124 |
603 |
1.654 |
Anteile, bezogen auf Pers. insg.* |
Anteile, bezogen Haftgründe (Mehrfachnennungen) insgesamt |
|||||||
1976 |
|
4,8 |
100 |
91,2 |
4,8 |
1,1 |
1,1 |
1,8 |
1980 |
|
3,9 |
100 |
91,5 |
3,5 |
1,1 |
0,9 |
3,1 |
1985 |
|
3,2 |
100 |
92,3 |
4,7 |
1,2 |
0,6 |
1,2 |
1990 |
|
3,1 |
100 |
93,6 |
3,7 |
0,8 |
0,6 |
1,3 |
1995 |
|
3,8 |
100 |
93,9 |
3,5 |
0,8 |
0,8 |
1,0 |
2000 |
|
4,0 |
100 |
92,2 |
4,2 |
0,7 |
0,9 |
1,9 |
2005 |
|
2,8 |
100 |
84,4 |
4,7 |
2,6 |
1,9 |
6,4 |
2006 |
|
2,6 |
100 |
82,4 |
5,3 |
4,1 |
2,2 |
6,0 |
* Abgeurteilte sowie Personen mit Entscheidungen gem. § 59 StGB, § 27, 45 III JGG.
Der Untersuchungshaftpraxis der Gerichte wurde und wird vielfach vorgeworfen, es werde zu viel, zu schnell und zu lange verhaftet. Was die Dauer der Untersuchungshaft angeht, so zeigt Tabelle 9, dass bei der Hälfte der in der Strafverfolgungsstatistik erfassten Personen mit Untersuchungshaft die Dauer 3 Monate nicht übersteigt. Die Tabelle zeigt aber auch, dass die Untersuchungshaftdauer in den letzten Jahren zugenommen hat. 1976 dauerte bei 14,9% die Untersuchungshaft länger als 6 Monate, derzeit ist dies aber bei 24,6% der Fall. Freilich ist zu beachten, dass der Anteil der Personen mit Untersuchungshaft – bezogen auf Abgeurteilte – im gleichen Zeitraum deutlich zurückgegangen ist. Dies heisst, dass die Gerichte Untersuchungshaft zunehmend mehr in schwierigeren bzw. schwereren Fällen verhängen. Bei diesen wiederum dauert Untersuchungshaft überdurchschnittlich lange (Schaubild 32)
Jahr |
In der StVerfStat erfasste Personen* |
Personen |
Dauer der Untersuchungshaft |
||||
bis 1 Monat |
mehr als .. bis einschliesslich |
mehr als 1 Jahr |
|||||
1 bis 3 Monate |
3 bis 6 Monate |
6 Monate bis 1 Jahr |
|||||
1975 |
868.821 |
42.105 |
15.317 |
12.066 |
8.458 |
4.735 |
1.529 |
1980 |
967.434 |
37.401 |
15.158 |
9.900 |
6.919 |
4.176 |
1.248 |
1985 |
955.698 |
31.036 |
11.297 |
7.494 |
6.479 |
4.250 |
1.516 |
1990 |
893.240 |
27.553 |
10.410 |
6.828 |
5.386 |
3.588 |
1.341 |
1995 |
951.064 |
36.070 |
10.452 |
9.794 |
8.332 |
5.495 |
1.997 |
2000 |
923.760 |
36.683 |
13.049 |
8.531 |
8.206 |
5.310 |
1.587 |
2005 |
980.936 |
27.252 |
7.247 |
6.717 |
7.214 |
4.587 |
1.487 |
2006 |
947.837 |
24.352 |
6.272 |
5.869 |
6.227 |
4.485 |
1.499 |
Anteile, bezogen auf Personen insg.* |
Anteile, bezogen auf Untersuchungsgefangene |
||||||
1975 |
|
4,8 |
36,4 |
28,7 |
20,1 |
11,2 |
3,6 |
1980 |
|
3,9 |
40,5 |
26,5 |
18,5 |
11,2 |
3,3 |
1985 |
|
3,2 |
36,4 |
24,1 |
20,9 |
13,7 |
4,9 |
1990 |
|
3,1 |
37,8 |
24,8 |
19,5 |
13,0 |
4,9 |
1995 |
|
3,8 |
29,0 |
27,2 |
23,1 |
15,2 |
5,5 |
2000 |
|
4,0 |
35,6 |
23,3 |
22,4 |
14,5 |
4,3 |
2005 |
|
2,8 |
26,6 |
24,6 |
26,5 |
16,8 |
5,5 |
2006 |
|
2,6 |
25,8 |
24,1 |
25,6 |
18,4 |
6,2 |
* Abgeurteilte sowie Personen mit Entscheidungen gem. § 59 StGB, § 27, 45 III JGG.
Schaubild
32: Dauer
der Untersuchungshaft, nach Deliktsgruppen
Früheres Bundesgebiet mit Gesamtberlin, 2006.
Abgeurteilte mit vorangegangener Untersuchungshaft werden fast ausnahmslos verurteilt. 2006 wurden insgesamt 3,0% nicht verurteilt, bei 0,5% wurde auf Massregeln (statt Strafe) erkannt, bei 1,6% erfolgte eine Verfahrenseinstellung, 0,9% wurden freigesprochen. Die Freispruchsquote ist damit – erwartungsgemäss - weit unterdurchschnittlich (2006: 2,7%).
Erwartungswidrig wird ferner nur jeder zweite (2006: 55,7%) nach allgemeinem Strafrecht verurteilte Untersuchungsgefangene zu einer nicht zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe verurteilt (Schaubild 33). Ein ganz erheblicher Teil der Verurteilten erlebt deshalb den Freiheitsentzug nur in seiner resozialisierungsfeindlichsten Form, nämlich in Form der Untersuchungshaft.
Schaubild
33: Nach
allgemeinem Strafrecht Verurteilte mit vorangegangener
Untersuchungshaft, nach
Art der Sanktion, 1975 - 2006.
Früheres Bundesgebiet mit Westberlin, seit 1995 mit Gesamtberlin
Die absolute Zahl der verurteilten Jugendlichen und (der nach allgemeinem oder nach Jugendstrafrecht verurteilten) Heranwachsenden hatte 1982 den bisherigen Höhepunkt mit 194.296 Verurteilten erreicht. Bis 1992 ging die Zahl der Verurteilten auf die Hälfte zurück (1992: 96.451), seitdem steigen die Verurteiltenzahlen wieder an (2006: 132.795) (Schaubild 34). Eine vergleichbare Entwicklung zeigt sich auch, wenn die nach allgemeinem Strafrecht verurteilten Heranwachsenden ausgeklammert werden. 1982 wurden 149.760 Jugendliche und Heranwachsende nach Jugendstrafrecht verurteilt, 1992 lediglich noch 71.839, 2006 waren es 105.902. Diese Entwicklung der Zahl der (formell) Verurteilten ist in hohem Masse durch den zunehmenden Gebrauch der Einstellungsmöglichkeiten beeinflusst. Zwar ist in der ersten Hälfte der 1980er Jahre auch die Zahl der (informell und formell) Sanktionierten zurückgegangen. aber schon seit 1998 ist diese Zahl höher als zu Beginn der 1980er Jahre. Die absoluten Zahlen der nach Jugendstrafrecht Sanktionierten haben seit 1991 deutlich zugenommen (1991: 193.000; 2006: 339.000) (Schaubild 35).
Schaubild
34: Durch
die Jugendgerichte Verurteilte, 1955 - 2006.
Absolute Zahlen der jugendlichen und der heranwachsenden (nach
allgemeinem und
nach Jugendstrafrecht) Verurteilten (abs. Zahlen, in Tausend)
Früheres Bundesgebiet mit Westberlin, seit 1995 mit Gesamtberlin
Schaubild
35: Nach
Jugendstrafrecht informell und formell Sanktionierte, 1981 – 2006.
Absolute Zahlen (in
Tausend).
Früheres Bundesgebiet mit Westberlin, seit 1995 mit Gesamtberlin
Zuständig für die Aburteilung von Heranwachsenden, also von Personen, die zum Zeitpunkt der Tat 18 aber noch nicht 21 Jahre alt sind, ist grundsätzlich das Jugendgericht. Das Jugendgericht kann Jugendstrafrecht anwenden, wenn der Heranwachsende entweder noch einem Jugendlichen gleichsteht oder aber eine typische Jugendverfehlung begangen hat. Diese, 1953 erfolgte partielle Einbeziehung der Heranwachsenden in das Jugendstrafrecht wurde seinerzeit als Ausnahme und als Experiment verstanden: Die Praxis sollte mit der neuen Lösung Erfahrungen sammeln, um beurteilen zu können, ob die gefundene Lösung durch Erweiterung oder Einengung korrigiert werden müsse. Die als Ausnahme gedachte Einbeziehung der Heranwachsenden in das Jugendstrafrecht ist inzwischen die Regel: 1955 wurden lediglich 22,2% aller Heranwachsenden nach Jugendstrafrecht verurteilt (Schaubild 36). Der vorläufige Höhepunkt war 1988 mit 65,0% erreicht, danach gingen die Raten zurück bis auf 57,7% (1994), in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre lagen die Raten zwischen 59 und 60%. In den letzten Jahren sind sie wieder deutlich angestiegen und haben 2003 mit 64,5% fast wieder den Spitzenwert von 1988 erreicht. 2006 war die Rate mit 64,3%% nur geringfügig unter dem Wert von 2003. Dieser Rückgang in der ersten Hälfte der 1990er Jahre ist nur bei vordergründiger Betrachtung Ausdruck einer zurückhaltenderen Anwendung des Jugendstrafrechts auf Heranwachsende. Die genauere Analyse zeigt nämlich, dass Grund hierfür eine seit Ende der 1980er Jahre zu beobachtende zunehmende Anwendung von allgemeinem Strafrecht auf nichtdeutsche Heranwachsende ist. Die Rate der nach Jugendstrafrecht verurteilten deutschen Heranwachsenden stieg dagegen bis 1983 auf etwas mehr als 60%; dieses hohe Niveau blieb seitdem - bei nur minimalen Schwankungen (1988: 64,7%; 1994 61,7%; 2004: 63,7%; 2005: 64,3%; 2006: 65,1%) - erhalten.
Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie, der Jugendsoziologie und der Pädagogik sprechend dafür, dass die Einbeziehung der Heranwachsenden in das Jugendstrafrecht kriminalpolitisch vernünftig ist. Für viele junge Menschen hat sich die Phase des Erwachsenwerdens über das 20. Lebensjahr verlängert. Mit den differenzierteren Mitteln des Jugendstrafrechts ist es eher als mit jenen des allgemeinen Strafrechts möglich, auf die besonderen Lebenslagen und Probleme junger und heranwachsender Menschen einzugehen und damit sowohl eher eine Straftatwiederholung zu vermeiden als auch Opferbelange zu berücksichtigen. Die Anwendung des wenig flexiblen und punitiven allgemeinen Strafrechts erhöht die Gefahr negativer Folgen für die Sozialisation. Deshalb wird in der Wissenschaft und der Jugendkriminalrechtspflege weitaus überwiegend gefordert, „Heranwachsende nicht vermehrt nach Erwachsenen-recht abzuurteilen, sondern vielmehr ... generell in das JGG einzubeziehen“ (DVJJ [Hrsg.], Kinder und Jugendliche als Opfer und Täter, 1999, Forum II, These 14, S. 776), zumindest aber das Heranwachsendenstrafrecht in seinem heutigen Zuschnitt zu erhalten. Der 27. Deutsche Jugendgerichtstag 2007 hat darüber hinaus die alte Forderung der Fachwelt nach einem „einheitlichen Sonderstrafrecht für junge Erwachsene (18-25 Jahre) nach jugendrechtlichen Grundsätzen“ (ZJJ 2007, S. 435, Thesen des AK 8).
Schaubild
36: Die
Einbeziehung der Heranwachsenden in das Jugendstrafrecht, 1955 - 2006
Früheres Bundesgebiet mit Westberlin, seit 1995 mit Gesamtberlin
Die deliktspezifische Analyse zeigt, dass die Einbeziehung der Heranwachsenden in das Jugendstrafrecht tatsächlich nach anderen Kriterien als denen des § 105 JGG erfolgt. Die Anwendung von Jugendstrafrecht nimmt, jedenfalls in der Tendenz, mit der Schwere der Straftat zu. Dies kann in dieser Grössenordnung nicht durch deliktspezifische Ausfilterungseffekte aufgrund eines unterschiedlichen Gebrauchs der Diversionsmöglichkeiten erklärt werden. Denn derartige Effekte sind eher bei leichterer und mittelschwerer Kriminalität zu erwarten. Auf Delikte, die keine schweren Rechtsfolgen nach sich ziehen und in einem summarischen Verfahren behandelt werden können, findet eher allgemeines Strafrecht Anwendung, das – im Unterschied zum Jugendstrafrecht (§§ 79 I i.V.m. § 109 II JGG) - die Verurteilung im Strafbefehlsverfahren erlaubt (§ 109 I JGG). Dies dürfte mit einer der wesentlichen Gründe sein für die überproportional hohe Anwendung des allgemeinen Strafrechts auf Heranwachsende, die wegen Strassenverkehrsdelikten verurteilt werden (Schaubild 37).
Schaubild
37: Die
Einbeziehung der Heranwachsenden in das Jugendstrafrecht, nach
Hauptdeliktsgruppen,
2006.
Anteile der nach Jugendstrafrecht und nach allgemeinem Strafrecht
verurteilten
Heranwachsenden; nach Hauptdeliktsgruppen
Früheres Bundesgebiet mit Gesamtberlin
Zwischen den Ländern bestehen erhebliche Unterschiede in der Anwendung von Jugendstrafrecht auf Heranwachsende (Schaubild 38). Diese Unterschiede bleiben auch dann erhalten, wenn nach Deliktsgruppen – hier: Strassenverkehrsdelikte – differenziert wird (Schaubild 39). Diese Unterschiede sind auch über die Zeit hinweg weitgehend konstant. Tat- oder Tätermerkmale dürften deshalb das Ausmass dieser Unterschiede nicht erklären. Es handelt sich offenbar um regional bedingte Unterschiede.
Schaubild
38: Die
Einbeziehung der Heranwachsenden in das Jugendstrafrecht, Straftaten
insgesamt,
nach Ländern 2006.
Anteile der nach Jugendstrafrecht und nach allgemeinem Strafrecht
verurteilten
Heranwachsenden
Schaubild
39: Die
Einbeziehung der Heranwachsenden in das Jugendstrafrecht, nach Ländern
2006.
Hauptdeliktsgruppe VIII. Straftaten im Strassenverkehr (§§ 142,315b,
315c, 316,
222, 229, 323a StGB i.V. mit Verkehrsunfall, ausserdem nach dem StVG).
Anteile der nach Jugendstrafrecht und nach allgemeinem Strafrecht
verurteilten
Heranwachsenden
Wenn schwerere Straftaten eher nach JGG als nach StGB abgeurteilt werden, dann ist es erwartungsgemäss, dass nach JGG verurteilte Heranwachsende auch wesentlich häufiger zu einer freiheitsentziehenden Sanktion verurteilt werden als nach allgemeinem Strafrecht verurteilte Heranwachsende (Schaubild 40). Dieser Befund zeigt, dass die Anwendung des JGG nicht per se die Anwendung milderer Sanktionen als im allgemeinen Strafrecht bedeutet. Dass vielmehr eher das Gegenteil zutrifft, zeigt ein zweiter Befund, nämlich der Vergleich der Sanktionierungspraxis bei Heranwachsenden und bei Jungerwachsenen (Schaubild 40). Die Jungerwachsenen sind in den strafzumessungsrelevanten Merkmalen – Vorstrafenbelastung und Deliktsstruktur – den Heranwachsenden relativ am nächsten, allerdings weisen sie im Schnitt die höhere Vorstrafenbelastung auf. Vergleicht man die Sanktionen gegen die - nach Jugendstrafrecht oder allgemeinem Strafrecht - verurteilten Heranwachsenden insgesamt mit den gegen die Jungerwachsenen verhängten Strafen, so wird deutlich, dass die Anwendung des JGG auf einen Teil der Heranwachsenden in der Bilanz keineswegs zu einem geringeren Anteil freiheitsentziehender Sanktionen insgesamt und auch nicht zu einem geringeren Anteil unbedingter Freiheits- bzw. Jugendstrafen führt; der höhere Anteil von unbedingten Freiheitsstrafen (trotz geringerer strafrechtlicher Vorbelastung) ist demnach auf die Anwendung des JGG in der Gruppe der Heranwachsenden zurückzuführen.
Schaubild 40: Sanktionierung von Heranwachsenden nach Jugendstrafrecht und allgemeinem Strafrecht im Vergleich (Straftaten ohne Straftaten im Strassenverkehr). Anteile der zu unbedingter, bedingter Jugend-/Freiheitsstrafe oder zu Jugendarrest Verurteilten an den insgesamt Verurteilten. Baden-Württemberg 2005: N=32.953
Entsprechend der Zielsetzung des JGG macht die Praxis von den Einstellungsmöglichkeiten der §§ 45, 47 JGG in noch stärkerem Masse als im allgemeinen Strafrecht Gebrauch. Das "Erste Gesetz zur Änderung des Jugendgerichtsgesetzes (1. JGGÄndG)" vom 30.8.1990 sah als eines seiner wesentlichen Ziele die "Stärkung der informellen Reaktionsmöglichkeiten von Jugendstaatsanwalt und Jugendrichter" vor. Dies wurde unter Hinweis auf jugendkriminologische Erkenntnisse u. a. damit begründet, dass "Kriminalität im Jugendalter meist nicht Indiz für ein erzieherisches Defizit ist, sondern überwiegend als entwicklungsbedingte Auffälligkeit mit dem Eintritt in das Erwachsenenalter abklingt und sich nicht wiederholt. Eine förmliche Verurteilung Jugendlicher ist daher in weitaus weniger Fällen geboten, als es der Gesetzgeber von 1953 noch für erforderlich erachtete. Untersuchungen zu der Frage, inwieweit der Verzicht auf eine formelle Sanktion zugunsten einer informellen Erledigung kriminalpolitisch von Bedeutung ist, haben - jedenfalls für den Bereich der leichten und mittleren Jugenddelinquenz - zu der Erkenntnis geführt, dass informellen Erledigungen als kostengünstigeren, schnelleren und humaneren Möglichkeiten der Bewältigung von Jugenddelinquenz auch kriminalpolitisch im Hinblick auf Prävention und Rückfallvermeidung höhere Effizienz zukommt" (BT-Drs. 11/5829 vom 27.11.1989, S. 1). In ihrem Ersten Periodischen Sicherheitsbericht hat die Bundesregierung diese Auffassung noch einmal bekräftigt: „In geeigneten Fällen können auch erzieherische Massnahmen ausserhalb des förmlichen Verfahrens als angemessene Reaktion genügen (Diversion). Ihnen gebührt bereits insoweit der Vorzug, als sie einerseits auf eine besonders zeitnahe Vermittlung der notwendigen Unrechtseinsicht gerichtet sind, darüber hinaus jedoch geeignet sind, die mit einem Hauptverfahren und einer förmlichen Verurteilung verbundenen Stigmatisierungsrisiken zu vermeiden“ (1. PSB, Berlin 2001, S. 611 <http://www.uni-konstanz.de/rtf/ki/psb-2001.htm>.
Zwischen 1981, dem Jahr aus dem erstmals Nachweise vorliegen, und 2006 dürfte sich die Diversionsrate von 44% auf 68,1% erhöht haben (Schaubild 41). Im Wesentlichen blieb die Diversionsrate in den letzten Jahren stabil bei 68 bis 69%. Demnach ist die Einstellung des Verfahrens die Regel, die Verurteilung ist die Ausnahme. Im Unterschied zum allgemeinen Strafrecht, wo der vermehrte Gebrauch der Einstellungsmöglichkeiten dazu geführt hat, dass die Verurteiltenzahlen trotz des Anstiegs der Zahl der sanktionierbaren Personen in etwa konstant geblieben ist, wurde im Jugendstrafrecht trotz (bis 1991) sinkender Fallzahlen vermehrt eingestellt (Schaubild 35). Diversion dient hier nicht nur, wie vornehmlich im allgemeinen Strafrecht, der Verfahrensentlastung, vielmehr wird das spezialpräventive Konzept des Gesetzgebers, der eine Verfahrenseinstellung kriminalpolitisch für aussichtsreich und verantwortbar hält (vgl. Begründung zum Regierungsentwurf eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Jugendgerichtsgesetzes vom 27.11.1989, BT-Drs. 11/5829, S. 1, 13), von der Praxis umzusetzen versucht.
Schaubild
41: Nach
Jugendstrafrecht informell und formell Sanktionierte, 1981 - 2006.
Anteile, bezogen auf nach Jugendstrafrecht (formell und informell)
Sanktionierte.
Früheres Bundesgebiet mit Westberlin, seit 1995 mit Gesamtberlin
Erwartungsgemäss ist die Diversionsrate im Jugendstrafrecht bei "Ersttätern", definiert über den ersten Eintrag im Bundeszentralregister (BZR), noch höher und dürfte deutlich zugenommen haben: Wie eine Auswertung der Eintragungen im BZR für die beiden Geburtsjahrgänge 1961 und 1967 gezeigt hat, wurden von sämtlichen erstmals im Jugendalter im BZR registrierten männlichen Jugendlichen des Geburtsjahrgangs 1961 53,5% informell sanktioniert; beim Geburtsjahrgang 1967 waren es schon 65,0% (Heinz, Wolfgang/ Spiess, Gerhard/Storz, Renate: Prävalenz und Inzidenz strafrechtlicher Sanktionierung im Jugendalter, in: Kaiser/Kury/Albrecht [Hrsg.]: Kriminologische Forschung in den 80er Jahren, Freiburg i.Br. 1988, S. 655, Tab. 9). Der erste Kontakt mit der Justiz endete also schon in der zweiten Hälfte der 1970er und in der ersten Hälfte der 1980er Jahre für den männlichen jugendlichen "Ersttäter" im Regelfall ohne Verurteilung. Inzwischen dürfte die Einstellungsrate für "Ersttäter" noch höher liegen. Wie eine Auswertung der für die Rückfallstatistik (Bezugsjahr 1994) erhobenen BZR-Daten ergeben hat, war die Diversionsrate bei jugendlichen Ersttätern 1994 erwartungsgemäss höher als Anfang der 1980er Jahre. Bei erstmals registrierten deutschen Jugendlichen betrug die Diversionsrate insgesamt 88%, bei deutschen Ersttätern leichter Eigentumskriminalität (§§ 242, 247, 248a StGB) sogar 94% (Schaubild 43).
Zu diesem Anstieg hat entscheidend die Jugendstaatsanwaltschaft beigetragen (Schaubild 41). Denn es hat, gemessen an relativen, auf alle Sanktionierten bezogenen Zahlen, vor allem das Absehen von der Verfolgung nach § 45 JGG zugenommen, insbesondere die Einstellung ohne Einschaltung des Richters (§ 45 I und II JGG, d.h. § 45 II JGG a.F.; 1981: 13,1%, 2006: 53,0%) . Die Staatsanwälte haben hierbei ihre "Sanktionskompetenz" nicht nur zu Lasten von Anklagen ausgebaut, sondern auch zu Lasten der Beteiligung des Jugendrichters nach § 45 III (§ 45 I a.F.) JGG und § 47 JGG.
Der Anteil der Verurteilten an allen (informell und formell) Sanktionierten ging dementsprechend zwischen 1981 und 2006 um 24,3 Prozentpunkte zurück, was überwiegend auf einem Rückgang der Verhängung von Erziehungsmassregeln und ambulanten Zuchtmitteln (1981 .. 2006: -16,1%) beruhte, aber auch, wenngleich in deutlich geringerem Masse, von Jugendarrest (1981-2006: -5,3%) und Jugendstrafe (1981-2006: -2,9%) (Schaubild 42).
Schaubild
42: Entwicklung
der informellen und formellen Sanktionierungspraxis im
Jugendstrafrecht, 1981 -
2006. Relative Zahlen, bezogen auf nach JGG (formell und informell)
Sanktionierte.
Früheres Bundesgebiet mit Westberlin, seit 1995 mit Gesamtberlin
Über die Art der gem. §§ 45, 47 JGG erteilten Auflagen/Weisungen enthalten die amtlichen Statistiken keine Angaben. Deshalb ist derzeit auch unbekannt, in welchem Umfang etwa ein Täter-Opfer-Ausgleich durchgeführt wird. Im Unterschied zu § 153a StPO wird dieses Merkmal für §§ 45, 47 JGG nicht erhoben.
Zu den rechtsstaatlichen Defiziten zählt, dass die Einstellungsmöglichkeiten des JGG in regional extrem unterschiedlichem Masse genutzt werden. Die Unterschiede im Gebrauch der §§ 45, 47 JGG übersteigen jene beim Gebrauch der Einstellungsmöglichkeiten der §§ 153, 153a, 153b StPO bei weitem (Schaubilder 8 und 44; 9 und 45). Innerhalb der alten Länder reichte 2006 die Bandbreite der Diversionsrate von 56,8% (Saarland) bis zu 87,6% (Bremen) (Schaubild 45). Von den neuen Ländern liegen für Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen und Thüringen Ergebnisse der StA-Statistik und der StVerfStat vor, die eine Berechnung der Diversionsraten erlauben. Die Raten in diesen vier Ländern weisen nicht nur relativ geringe Unterschiede auf (Sachsen: 73,4%; Mecklenburg-Vorpommern: 77,8%), sondern liegen mit (im Schnitt) 75,1% auch deutlich über dem Durchschnitt der alten Länder (68,1%).
Unterschiede bestehen nicht nur hinsichtlich des Ausmasses, in dem von §§ 45, 47 JGG Gebrauch gemacht wird. Höchst unterschiedlich ist vor allem das Mass, in dem der Jugendstaatsanwalt entscheidet bzw. der Jugendrichter eingeschaltet wird. 2006 wurde in Rheinland-Pfalz bei 65,5% aller (informell oder formell) Sanktionierten das Verfahren gem. § 45 I oder 2 JGG eingestellt, in Bayern dagegen lediglich bei 36,2%. Durch den Jugendrichter, also nach Anklageerhebung, wurde in Bayern, das mit 61,5% die zweitniedrigste Diversionsrate hatte, bei 15,4% aller Sanktionierten das Verfahren gem. § 47 JGG eingestellt, in Baden-Württemberg mit einer etwas höheren Diversionsrate (69,5%) entfielen nur 9,5% auf Entscheidungen gem. § 47 JGG; in Rheinland-Pfalz sogar – trotz einer noch höheren Diversionsrate (68,8%) - nur 3,3%. Hierdurch ergibt sich eine ungleiche Belastung, wird doch im Falle des § 47 JGG Anklage erhoben, wo in vergleichbaren Fällen in anderen Ländern das Verfahren ohne Anklage eingestellt wird. Der Kilometerstein des Tatortes entscheidet somit in nicht unerheblichem Masse nicht nur darüber, ob das Verfahren eingestellt oder mit einer Verurteilung abgeschlossen wird, sondern auch darüber, ob in unterschiedlicher Weise belastend (intervenierend) bzw. erst nach Anklageerhebung eingestellt wird. Mit der Erledigung gem. § 47 JGG wird zugleich eines der Ziele von Diversion – Verfahrensbeschleunigung – eher verfehlt als mit einer Entscheidung gem. § 45 JGG.
Diese Diskrepanzen beruhen in diesem Ausmass nicht auf einer unterschiedlichen Kriminalitätsstruktur oder auf Abweichungen in den Merkmalen der Täter in den einzelnen Ländern. Wie Analysen aus der ersten Hälfte der 1980er Jahre zeigten, bestanden die Unterschiede vor allem bei Ersttätern; bei Mehrfachauffälligen wurde in der Mehrzahl der Länder nur ausnahmsweise eingestellt. So konnte z.B. Storz bei ihrer Auswertung der Eintragungen im Bundeszentralregister für die Jugendlichen des Geburtsjahrganges 1961 zeigen, dass bei einer ersten Auffälligkeit wegen "einfachen Diebstahls" (§§ 242, 247, 248a StGB) in den Stadtstaaten Berlin, Bremen und Hamburg über 80% aller Verfahren nach §§ 45, 47 JGG eingestellt worden waren; in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz war dies lediglich bei rd. 43% der Fall. Vergleichbare Unterschiede wurden festgestellt bei einer ersten Auffälligkeit wegen "Fahren ohne Fahrerlaubnis" (§ 21 StVG), einem sog. Taxendelikt, bei dem typischerweise nach objektiven Kriterien routinemässig entschieden wird (vgl. Storz, Renate: Jugendstrafrechtliche Reaktionen und Legalbewährung, in: Heinz/Storz: Diversion im Jugendstrafverfahren der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1992, S. 155 Tab. 11).
Die in den amtlichen Rechtspflegestatistiken vorliegenden Daten lassen nicht erkennen, ob diese regionalen Unterschiede bei allen Taten- und Tätergruppen bestehen oder bei bestimmten Gruppen besonders ausgeprägt sind. Eine Auswertung von Bundeszentralregisterdaten, die eine Differenzierung sowohl der Vorbelastung als auch eine Kontrolle von Alter, Geschlecht, Nationalität und Deliktsart ermöglichen, ergab für das Jahr 1994, dass es nur noch geringfügige regionale Unterschiede bei Ersttätern leichter Eigentumsdelikte (§§ 242, 247, 248a StGB als einziges Delikt) mit deutscher Nationalität gab. In keinem der alten Länder lag die Diversionsrate unter 85%. Die Spannweite reichte von über 99% (Hamburg, Bremen, Berlin) bis 85% (Bayern) (Schaubild 43). Während bei den erstmals Registrierten sich die Praxis in Richtung der Nutzung der Diversion im Regelfall bereits weitgehend vereinheitlicht hat, finden sich nunmehr ganz erhebliche Unterschiede in der Verfahrenspraxis gegenüber den wiederholt in Erscheinung getretenen Jugendlichen. Bei der Reaktion auf die dritte oder weitere erfasste Straffälligkeit eines Jugendlichen lag die Spannweite der Diversionsentscheidungen bei 67 Prozentpunkten (Hamburg: 96%; Bayern: 29%). Insbesondere bei wiederholt Auffälligen sind danach die Risiken einer förmlichen Verurteilung in den Ländern - selbst innerhalb derselben Deliktsgruppe - höchst unterschiedlich. Ob und inwieweit auch gegenwärtig noch derart grosse Unterschiede bestehen – oder sich gar vergrössert haben – lässt sich wegen fehlender Daten nicht klären.
Schaubild
43: Diversionsraten
bei deutschen Jugendlichen wegen leichter Eigentumsdelikte (§ 242,
247,
248a StGB als einziges oder schwerstes Delikt) in Abhängigkeit von der
Vorbelastung, nach Ländern
(1994).
Totalerhebung Eintragungen im Zentral- oder Erziehungsregister
Schaubild
44: Diversionsraten
(Staatsanwaltschaft und Gericht) im Jugendstrafrecht
1981 .. 2006. Anteil der
staatsanwaltschaftlichen und gerichtlichen Einstellungen gem.
§§ 45, 47
JGG, bezogen auf nach Jugendstrafrecht informell und formell
Sanktionierte,
nach Ländern
Schaubild
45: Diversionsraten
im Jugendstrafrecht nach Ländern,
2006
Anteil der staatsanwaltschaftlichen und
gerichtlichen Einstellungen gem. §§ 45, 47 JGG, bezogen auf nach
Jugendstrafrecht informell und formell Sanktionierte
Die amtlichen Statistiken enthalten lediglich Informationen darüber, in wie vielen Fällen ein Verfahren gem. §§ 45, 47 JGG eingestellt worden ist. Dagegen fehlen Informationen sowohl zu den Beschuldigten, zu den Delikten als auch zu den angeregten oder durchgeführten erzieherischen Massnahmen. Aus empirischen Untersuchungen ist bekannt, dass §§ 45, 47 JGG vorwiegend angewendet werden bei jüngeren, nicht erheblich vorbestraften Tätern, die minder schwere Delikte verübt haben. Dies wird durch die bereits erwähnte Auswertung von Bundeszentralregisterdaten bestätigt (Schaubild 39). Danach lag die Diversionsrate bei deutschen jugendlichen Ersttätern leichter Eigentumskriminalität (§§ 242, 247, 248a StGB als einziges Delikt) im Schnitt bei 94%, bei mehrfach Auffälligen war die Diversionsrate deutlich geringer.
Der Gesetzgeber des 1. JGGÄndG von 1990 hatte die Erwartung, dass ein Teil der sog. neuen ambulanten Massnahmen, namentlich der Täter-Opfer-Ausgleich, im Rahmen von §§ 45, 47 JGG zur Anwendung kommen würde. Da zu den angeregten/angeordneten erzieherischem Massnahmen statistische Informationen fehlen, können nur Primärdatenerhebungen Aufschluss geben. Eine neuere Untersuchung (Çağlar, Oktay: Neue ambulante Massnahmen in der Reform, Frankfurt a.M. u.a. 2005) der Sanktionierungspraxis im LG-Bezirk Flensburg (Tabelle 10) kam zum Ergebnis:
1. Von §§ 153 ff. StPO wird im Jugendstrafrecht insgesamt in beachtlichem Masse Gebrauch gemacht. Auf amtliche Statistiken gestützte Berechnungen der Diversionsraten unterschätzen deshalb die Diversionsrate nach JGG und überschätzen die Diversionsrate im allgemeinen Strafrecht (siehe oben II. 2.2,1). Von §§ 153 ff StPO wurde 2003 in deutlich höherem Masse Gebrauch gemacht als noch 1998. Allerdings ist der Untersuchung nicht zu entnehmen, in welchen Verfahren die Einstellung auf §§ 153 ff. StPO gestützt wurde und welche Normen im Einzelnen zur Anwendung kamen.
2. Innerhalb der §§ 45, 47 JGG entfiel auf die Einstellung gem. § 45 I JGG etwas mehr als die Hälfte aller Einstellungen nach Normen des JGG.
3. Innerhalb der sog. intervenierenden Diversion gem. §§ 45 II, III, 47 JGG wurde in der Mehrzahl der Entscheidungen gemeinnützige Arbeit oder die Zahlung eines Geldbetrags angeregt bzw. angeordnet, und zwar mit zunehmender Tendenz. 1998 entfielen hierauf noch 45,6%, 2003 dagegen 66%.
4. Von den neuen ambulanten Massnahmen wurde demgegenüber nicht nur relativ seltener, sondern vor allem in deutlich abnehmendem Masse Gebrauch gemacht. 1998 betrug ihr Anteil an allen intervenierenden Einstellungen 28,6%, 2003 nur noch 12,2%. Wie die genauere Analyse zeigt, wurden 2003 (Angaben in Klammern: 1998) nach einem erzieherischen Gespräch oder einer richterlichen Ermahnung 14,0% (22,4%) der Fälle eingestellt. TOA, sozialer Trainingskurs, Betreuungsweisung, Schadenswiedergutmachung, Entschuldigung oder Drogentherapie war nur in 12,2% (28,6%) der Fälle festzustellen.
Wäre dieser – regional beschränkte - Befund verallgemeinerbar, dann würde dies bedeuten, dass erstens nicht in dem erwarteten Masse von neuen ambulanten Massnahmen Gebrauch gemacht worden ist und dass zweitens in den letzten Jahren die neuen ambulanten Massnahmen zugunsten ahndender Sanktionen im Bereich von §§ 45, 47 JGG zurückgedrängt worden wären.
Tabelle 10: Diversionspraxis im Landgerichtsbezirk Flensburg in Verfahren gegen Jugendliche oder nach JGG abgeurteilte Heranwachsende – 1998 und 2003 im Vergleich
|
1998 |
2003 |
||||
N |
% |
% |
N |
% |
% |
|
Diversion insgesamt |
1.717 |
100 |
|
2.222 |
100 |
|
§§ 153 ff StPO |
421 |
24,5 |
|
837 |
37,7 |
|
§ 45 I JGG |
706 |
41,1 |
|
780 |
35,1 |
|
§§ 45 II, III, 47 JGG, darunter |
590 |
34,4 |
100 |
605 |
27,2 |
100 |
Geld- oder Arbeitsauflage |
269 |
|
45,6 |
399 |
|
66,0 |
neue ambulante Massnahme |
169 |
|
28,6 |
74 |
|
12,2 |
richterliche Ermahnung |
132 |
|
22,4 |
85 |
|
14,0 |
keine erzieherische Massnahme |
20 |
|
3,4 |
47 |
|
7,8 |
Datenquelle: Çağlar, Neue ambulante Massnahmen in der Reform, 2005, S. 51 ff.
Die meisten Erziehungsmassregeln und Zuchtmittel können nebeneinander, Weisungen, Auflagen und Erziehungsbeistandschaft auch neben Jugendstrafe angeordnet werden (§ 8 JGG). Von dieser Möglichkeit macht die Jugendkriminalrechtspflege in hohem Masse Gebrauch. 2006 wurden in der StVerfStat 105.902 nach JGG Verurteilte ausgewiesen mit insgesamt 16.886 Jugendstrafen (10,6% der insgesamt verhängten formellen Sanktionen), 117.410 Zuchtmitteln (73,4%) und 25.740 Erziehungsmassregeln (16,1%). Auf einen nach JGG Verurteilten kamen im Schnitt also 1,5 Sanktionen.
Die Gegenüberstellung der insgesamt verhängten (formellen) Sanktionen und der schwersten Sanktionen ist aufschlussreich (Tabelle 11).
Tabelle
11:
Insgesamt und schwerste nach Jugendstrafrecht verhängte
Sanktionsart.
Früheres Bundesgebiet mit Gesamtberlin 2006
|
insgesamt verhängte Sanktionen |
schwerste verhängte Sanktionen |
||
|
N |
% |
|
|
insgesamt. |
160.036 |
100 |
105.902 |
100 |
unbedingte Jugendstrafe |
6.675 |
4,2 |
6.675 |
6,3 |
Jugendarrest |
20.756 |
13,0 |
20.756 |
19,6 |
bedingte Jugendstrafe |
10.211 |
6,4 |
10.211 |
9,6 |
Hilfen zur Erziehung (Heim) |
38 |
0,0 |
38 |
0,0 |
ambulante Zuchtmittel |
96.654 |
60,4 |
61.477 |
58,1 |
Erziehungsmassregeln |
25.702 |
16,1 |
6.745 |
6,4 |
stationäre Sanktionen |
27.469 |
17,2 |
27.469 |
25,9 |
ambulante Sanktionen |
132.567 |
82,8 |
78.433 |
74,1 |
Sowohl unter den insgesamt verhängten als auch unter den schwersten Sanktionen dominieren die ahndenden und auf die Weckung von Unrechtseinsicht abzielenden Sanktionen, nicht so sehr helfende oder stützende Massnahmen. Auf Erziehungsmassregeln entfielen 2006 16,1% aller verhängten Sanktionen. Wie die Tabelle mit den schwersten Sanktionen zeigt, verschieben sich hier die Gewichte ganz deutlich in Richtung auf ahndende Sanktionen: 25,9% waren 2006 stationäre Sanktionen (unbedingte Jugendstrafe: 6,3%; Jugendarrest: 19,6%); der Anteil der isoliert verhängten Erziehungsmassregeln reduziert sich auf 6,4%. Dies bedeutet, dass fast zwei von drei Erziehungsmassregeln in Kombination mit anderen, schwereren Sanktionen (Zuchtmittel oder Jugendstrafe) verhängt worden sind. Dieses Bild könnte sich ändern, wenn Weisungen, die dazu dienen sollen, die Lebensführung zu regeln und die Erziehung zu fördern, vermehrt im Zusammenhang mit einer Verfahrenseinstellung angeordnet oder durchgeführt werden würden. Hierzu fehlen indes statistische Informationen – der neueren, regional allerdings beschränkten Untersuchung von Çağlar (siehe oben III.3.3.2) zufolge - dominieren allerdings auch bei §§ 45, 47 JGG die ahndenden Reaktionen.
Der Gesetzgeber des 1. JGGÄndG von 1990 ging davon aus, „dass die in der Praxis vielfältig erprobten neuen ambulanten Massnahmen (Betreuungsweisung, sozialer Trainingskurs, Täter-Opfer-Ausgleich) die traditionellen Sanktionen (Geldbusse, Jugendarrest, Jugendstrafe) weitgehend ersetzen können, ohne dass sich damit die Rückfallgefahr erhöht. Schliesslich ist seit langem bekannt, dass die stationären Sanktionen des Jugendstrafrechts (Jugendarrest und Jugendstrafe) sowie die Untersuchungshaft schädliche Nebenwirkungen für die jugendliche Entwicklung haben können." Ob und inwieweit diese Erwartung durch die Praxis erfüllt worden ist, zeigt die Längsschnittanalyse. Danach sind – im Zeitraum seit 1955 – innerhalb der formellen, d.h. der durch Urteil verhängten Sanktionen, die stationären Sanktionen zugunsten solcher ambulanter, also den Freiheitsentzug vermeidender Massnahmen zurückgedrängt worden. 1955 entfielen lediglich 50,4% auf ambulante Sanktionen als schwerste Massnahme, 2006 waren es dagegen 74,1% (Schaubild 46).
Schaubild 46: Nach
Jugendstrafrecht Verurteilte nach der Art
der formellen Sanktionen, 1950 – 2006.
Anteile, bezogen auf nach JGG Verurteilte
insgesamt.
Früheres Bundesgebiet mit Westberlin, seit 1995 mit Gesamtberlin
Unter den ambulanten Sanktionen - als schwerster Massnahme - haben insbesondere die ambulanten Erziehungsmassregeln und die Aussetzung der Jugendstrafe zur Bewährung zunehmend an Bedeutung gewonnen (Schaubild 47). Der vom Gesetzgeber erwartete Schub zu noch mehr ambulanten Sanktionen, insbesondere im Bereich der Erziehungsmassregeln, ist aber, wie Schaubild 31 zeigt, ausgeblieben. Der in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre erfolgte Bedeutungsgewinn der ambulanten Erziehungsmassregeln, genauer: der Weisungen, ging im Gefolge des 1. JGGÄndG sogar wieder verloren zugunsten der ambulanten Zuchtmittel, namentlich zugunsten der 1990 eingeführten Arbeitsauflage. Dementsprechend ist der Anteil der ambulanten Zuchtmittel, und zwar insbesondere in Form von Verwarnung und Auflage, wieder deutlich gestiegen auf zuletzt (2006) 78,4%. aller ambulanten Sanktionen.
Bei dieser Verschiebung zwischen Erziehungsmassregeln und Zuchtmittel dürfte es sich weitgehend um einen Austausch zwischen Arbeitsweisung und Arbeitsauflage gehandelt haben. Der statistisch sichtbare Bedeutungsgewinn der Erziehungsmassregeln in den 1970er und 1980er Jahren dürfte deshalb auch weniger auf der vermehrten Anordnung von Täter-Opfer-Ausgleich, Betreuungsweisungen und sozialen Trainingskursen beruht haben, sondern auf den Arbeitsweisungen.
Schaubild
47: Nach
Jugendstrafrecht zu formellen ambulanten Sanktionen Verurteilte, 1950 -
2006 .
Anteile, bezogen auf ambulante Sanktionen insgesamt.
Früheres Bundesgebiet mit Westberlin, seit 1995 mit Gesamtberlin
Unter den Erziehungsmassregeln dominieren die Weisungen (Schaubild 48). Wie die Fürsorgeerziehung und Erziehungsbeistandschaft nach altem Recht, so sind auch die an deren Stelle getretenen Hilfen zur Erziehung (§ 12 JGG i.V.m. KJGH) quantitativ bedeutungslos.
Schaubild
48: Nach
Jugendstrafrecht zu Erziehungsmassregeln Verurteilte, 1950-2006.
Raten bezogen auf verhängte Erziehungsmassregeln insgesamt
Früheres Bundesgebiet mit Westberlin, seit 1995 mit Gesamtberlin
In der StVerfStat werden die verhängten formellen Sanktionen im Wesentlichen nur der Art nach ausgewiesen. Die Inhalte der Massnahmen, also z.B. die Art der erteilten Weisung, die Höhe der Geldauflage, die Stunden der angeordneten Arbeitsauflage, werden, abgesehen von dem Nachweis der Dauer der bedingten und unbedingten Jugendstrafe, nicht erhoben. Aussagen über die Art der Weisungen sind deshalb anhand der StVerfStat nicht möglich.
Erprobt und institutionalisiert wurden in den letzten Jahrzehnten insbesondere die sog. "neuen ambulanten Massnahmen nach dem JGG", d.h. Betreuungsweisungen, sozialer Trainingskurs, Täter-Opfer-Ausgleich und Arbeitsweisungen. Dem Jugendlichen und Heranwachsenden sollen hierdurch stützende, helfende, chancenverbessernde und integrierende Massnahmen angeboten werden. Dem Jugendstaatsanwalt und dem Jugendrichter werden zusätzliche ambulante sozialpädagogische Alternativen zu stationären Sanktionen eröffnet. Insbesondere von Schadenswiedergutmachung und Täter-Opfer-Ausgleich erwartet der Gesetzgeber positive Wirkungen. Beim jugendlichen Straftäter soll hierdurch die Wahrnehmung von Opferschäden gefördert, soziale Verantwortung aktiviert und die Chance einer privatautonomen Lösung genutzt werden. Über den Umfang, in dem von diesen "neuen ambulanten Massnahmen" Gebrauch gemacht wird, enthalten die amtlichen Rechtspflegestatistiken keine Informationen. Nach Selbstauskunft der befragten Jugendhilfeeinrichtungen gab es danach 1994 (vgl. Dünkel, Geng, Kirstein, Soziale Trainingskurse und andere neue ambulante Massnahmen nach dem JGG in Deutschland, Godesberg 1998, 55, Tab. 3.1)
· ein so gut wie flächendeckendes Angebot zur Durchführungen von Arbeitsweisungen bzw. Arbeitsauflagen (97%);
· ein fast flächendeckendes Angebot an Betreuungsweisungen (87%),
· eine relativ hohe Angebotsquote hinsichtlich Täter-Opfer-Ausgleich (73,9%) und sozialen Trainingskursen (73,6%).
Relativiert wurde diese rein quantitative Betrachtung bei qualitativer Betrachtung. Denn dann zeigte sich, dass Betreuungsweisungen und soziale Trainingskurse „in jeweils grossen Teilen der Jugendamtsbezirke, wenn überhaupt, dann eher nur sporadisch, in wenigen Einzelfällen praktiziert“, Arbeitsleistungen wurden „nur selten“ in ein umfassend sozialpädagogisch betreutes Projekt eingebunden (Dünkel, Geng aaO., S. 275). Insgesamt scheint das Anwendungspotential bei weitem noch nicht ausgereizt zu sein. Neuere Untersuchungen beschränken sich auf die neuen Länder (vgl. Schwerin-Witkowski, Kathleen: Entwicklung der ambulanten Massnahmen nach dem JGG in Mecklenburg-Vorpommern, Mönchengladbach 2003; Steffens, Rainer: Wiedergutmachung und Täter-Opfer-Ausgleich im Jugend- und im Erwachsenenstrafrecht in den neuen Bundesländern, Mönchengladbach 1999). Für die alten Länder fehlen entsprechende flächendeckende Erhebungen. Völlig unbekannt ist die in den letzten Jahren erfolgte Entwicklung, die angesichts eines erheblichen Finanzbedarfs der Kommunen rückläufig sein könnte.
Was speziell den Täter-Opfer-Ausgleich angeht, so dürfte – auch nach Primärdatenerhebungen – die Ausschöpfungsrate der grundsätzlich geeigneten Fälle immer noch relativ gering sein. Schätzungen gehen von einem einstelligen Prozentbereich aus (vgl. Dölling, Henninger, Sonstige empirische Untersuchungen zum TOA, in: Dölling, u.a. (Hrsg.): Täter-Opfer-Ausgleich in Deutschland. Bestandsaufnahme und Perspektiven, Bonn 1998, 356 ff.). Den – mutmasslich unterschätzten – Daten der Strafverfolgungsstatistik zufolge erging 2005 in 777 Fällen im Hauptverfahren die Entscheidung, sich um einen Täter-Opfer-Ausgleich zu bemühen. Dies entspricht einem Anteil von 0,5% aller nach JGG Abgeurteilten. Die - wohl zumeist – in Verbindung mit §§ 45, 47 JGG erfolgenden TOA-Bemühungen werden statistisch nicht erfasst.
Die neueste, allerdings regional auf den LG-Bezirk Flensburg beschränkte Untersuchung von Çağlar (Tabelle 12) ergab, dass im 10-Jahres-Zeitraum zwischen 1993 und 2003 der Anteil der ambulanten Massnahmen nahezu konstant blieb, dass innerhalb der ambulanten Massnahmen die gemeinnützige Arbeit zugunsten von Geldauflage deutlich zunahm. Mit Anteilen von 0,5% (bezogen auf alle 2003 verhängten ambulanten Massnahmen) war der Täter-Opfer-Ausgleich quantitativ völlig bedeutungslos, als schwerste bzw. alleinige Massnahme kam er nicht vor. Auf Betreuungsweisungen entfielen 2003 lediglich 2,2%. Durchgesetzt hatte sich lediglich der soziale Trainingskurs; nur diese Massnahme war zwischen 1993 und 2003 häufiger verhängt worden (1993: 11,9%, 2003: 22,3%). Die genauere Betrachtung zeigt freilich, dass sowohl Betreuungsweisungen als auch soziale Trainingskurse in deutlich zunehmendem Masse in Verbindung mit anderen Sanktionen verhängt worden sind, insbesondere mit gemeinnütziger Arbeit und Jugendarrest. Als isolierte Massnahme ging insbesondere die Bedeutung des sozialen Trainingskurses deutlich zurück, und zwar (bezogen auf die Summe der als schwerste Sanktion verhängten ambulanten Massnahmen) von 9,2% (1993) auf 5,7% (2003). Entgegen der Intention des Gesetzgebers des 1. JGGÄndG, mit Betreuungsweisungen, sozialen Trainingskursen und Täter-Opfer-Ausgleich die Möglichkeiten einer gezielt erzieherisch ausgestalteten Intervention auszubauen, fanden – der regional beschränkten Untersuchung von Çağlar zufolge - vor allem die punitiven Reaktionsalternativen – Arbeitsweisungen/-auflagen - vermehrt Anwendung.
Tabelle 12: Schwerste nach Jugendstrafrecht verhängte Sanktionen – Landgerichtsbezirk Flensburg – 1993 und 2003
|
1993 |
2003 |
||||
|
N |
% |
|
|
|
|
Verurteilte (einschl. § 27 JGG) insgesamt |
539 |
100 |
|
725 |
100 |
|
ambulante Zuchtmittel/Erziehungsmassregeln |
360 |
66,8 |
100 |
457 |
63,0 |
100 |
Jugendstrafe |
56 |
10,4 |
|
105 |
14,5 |
|
Jugendarrest |
123 |
22,8 |
|
163 |
22,5 |
|
Geldauflage |
155 |
28,8 |
43,1 |
111 |
15,3 |
24,3 |
Arbeitsweisung/Arbeitsauflage |
120 |
22,3 |
33,3 |
193 |
26,6 |
42,2 |
Verwarnung |
10 |
1,9 |
2,8 |
7 |
1,0 |
1,5 |
Täter-Opfer-Ausgleich |
0 |
0,0 |
0,0 |
0 |
0,0 |
0,0 |
Schadenswiedergutmachung |
15 |
2,8 |
4,2 |
20 |
2,8 |
4,4 |
sozialer Trainingskurs |
43 |
8,0 |
11,9 |
102 |
14,1 |
22,3 |
Betreuungsweisung |
12 |
2,2 |
3,3 |
10 |
1,4 |
2,2 |
sonstige (Drogentherapie, Fahrerlaubnisentz.) |
5 |
0,9 |
1,4 |
14 |
1,9 |
3,1 |
Datenquelle: Çağlar, Neue ambulante Massnahmen in der Reform, 2005, S. 63 ff.
Innerhalb der Zuchtmittel fand eine Verschiebung statt, und zwar von Jugendarrest zugunsten vor allem von Auflagen (Schaubild 49). Unter den Auflagen dominiert die Auflage, einen Geldbetrag zu zahlen; erst im Gefolge des 1. JGGÄndG hat die Arbeitsauflage - zu Lasten der Erziehungsmassregeln und zu Lasten der Zahlung eines Geldbetrages - deutlich an Bedeutung gewonnen (Schaubild 50). Die weiteren Auflagen sind quantitativ bedeutungslos.
Wie Schaubild 42 (bezogen auf nach JGG Sanktionierte) bzw. Schaubild 46 (bezogen auf nach JGG Verurteilte) zeigen, hat das 1. JGGÄndG von 1990 zu keinem deutlichen Rückgang des Anteils der zu Jugendarrest Verurteilten geführt. In den letzten Jahren sind vielmehr die absoluten wie die relativen Zahlen kontinuierlich und deutlich gestiegen. 1991 wurden 11.557 (15,9% der Verurteilten) Jugendarreste ausgesprochen, 2006 20.756 (19,6% der Verurteilten). Ob dies freilich ein Indiz für eine punitiver werdende Jugendgerichtsbarkeit ist oder aber Folge davon ist, dass vermehrt leichte Fälle nicht mehr zur Verurteilung gelangen, sondern gem. §§ 45, 47 JGG eingestellt werden, lässt sich aufgrund der statistischen Daten nicht beurteilen. Bezogen jedenfalls auf Sanktionierte insgesamt (Schaubild 42) blieben die Anteile der verhängten Jugendarreste weitgehend konstant (1991: 6,0%; 2006: 6,1%).
Schaubild
49: Nach
Jugendstrafrecht zu Zuchtmitteln Verurteilte, 1950 - 2006 .
Raten bezogen auf verhängte Zuchtmittel insgesamt
Früheres Bundesgebiet mit Westberlin, seit 1995 mit Gesamtberlin
Schaubild
50: Nach
Jugendstrafrecht zu Auflagen Verurteilte, 1954 – 2005.
Raten bezogen auf insgesamt verhängte Auflagen (als Zuchtmittel).
Früheres Bundesgebiet mit Westberlin, seit 1995 mit Gesamtberlin
75,6% aller stationären Sanktionen entfallen derzeit (2006) auf durch Urteil verhängten Jugendarrest, und zwar zu etwa gleichen Teilen auf Dauer- und auf Freizeitarrest (Schaubild 51). Kurzarrest war und ist weitgehend bedeutungslos.
Allerdings kommen zu den Arrestmassnahmen aufgrund eines Urteils noch die sog. Ungehorsamsarreste hinzu, die bei schuldhafter Nichterfüllung von Weisungen und Auflagen gem. §§ 11 III, 15 III JGG verhängt werden können. Zur Häufigkeit des Ungehorsamsarrestes fehlen verlässliche statistische Informationen. Nach empirischen Untersuchungen dürften zwischen 20 und 30%, in manchen Regionen - abhängig vom Gebrauch der ambulanten Sanktionen - bis zu 50% der insgesamt vollstreckten Arreste auf Ungehorsamsarrest entfallen (vgl. Ostendorf, Reform des Jugendarrestes. MSchrKrim 1995, 352 ff.).
Schaubild
51: Nach
Jugendstrafrecht zu Jugendarrest Verurteilte, 1950 – 2006.
Raten bezogen auf durch Urteil verhängte Jugendarreste.
Früheres Bundesgebiet mit Westberlin, seit 1995 mit Gesamtberlin
Die - durch das 1. JGGÄndG aufgehobene - Jugendstrafe von (relativ) unbestimmter Dauer hatte schon Ende der 1950er Jahre zugunsten der Jugendstrafen von mehr als einem Jahr kontinuierlich und drastisch an Bedeutung verloren (Schaubild 52).
Schaubild
52: Nach
Jugendstrafrecht zu Jugendstrafe Verurteilte nach der Dauer der
insgesamt
verhängten Jugendstrafen, 1950 - 2006.
Raten bezogen auf verhängte Jugendstrafen.
Früheres Bundesgebiet mit Westberlin, seit 1995 mit Gesamtberlin
Von der Dauer her entfielen 2006 9.073 (53,7%) auf Jugendstrafen bis einschliesslich ein Jahr (Tabelle 13), auf Jugendstrafe von mehr als 12 Monaten bis einschliesslich 24 Monate lautete das Urteil bei 33,9% der verhängten Jugendstrafen, bei 12,3% aller Jugendstrafen (N= 2.081) auf mehr als 24 Monate. Hiervon lagen 2006 91 im Bereich zwischen 5 und 10 Jahren. Wie häufig die Jugendhöchststrafe von genau 10 Jahren verhängt wird, geht aus der StVerfStat nicht hervor. Aus einer Auswertung von Bundeszentralregisterdaten ist bekannt, dass in den zehn Jahren zwischen 1987 und 1996 bundesweit lediglich gegen insgesamt 74 Verurteilte die Höchststrafe verhängt wurde (Schulz, Die Höchststrafe im Jugendstrafrecht (10 Jahre) - eine Urteilsanalyse, MschrKrim 2001, S. 310 ff) - oder gegen 8% aller wegen Mordes/Totschlags (einschliesslich Versuchs) nach JGG Verurteilten.
Tabelle
13: Nach
Jugendstrafrecht Verurteilte nach der Dauer der
Jugendstrafe, 2006
Früheres Bundesgebiet mit Gesamtberlin
|
insge-samt |
bedingt |
unbe-dingt |
Anteile, bezogen auf |
|||
Verur-teilte |
Jugendstrafen |
||||||
insges. |
bedingt |
unbe-dingt |
|||||
Verurteilte |
105.902 |
|
|
100 |
|
|
|
Erziehungsmassregeln (als schwerste Sanktion) |
6.783 |
|
|
6,4 |
|
|
|
ambulante Zuchtmittel als schwerste Sanktion |
61.477 |
|
|
58,1 |
|
|
|
Jugendarrest |
20.756 |
|
|
19,6 |
|
|
|
Jugendstrafe |
16.886 |
10.211 |
6.675 |
15,9 |
100 |
100 |
100 |
6 Monate |
2.631 |
2.144 |
487 |
2,5 |
15,6 |
21,0 |
7,3 |
mehr als 6 bis einschl. 9 Monate |
2.889 |
2.312 |
577 |
2,7 |
17,1 |
22,6 |
8,6 |
mehr als 9 bis einschl. 12 Monate |
3.553 |
2.584 |
969 |
3,4 |
21,0 |
25,3 |
14,5 |
mehr als 12 bis einschl. 24 Monate |
5.732 |
3.171 |
2.561 |
5,4 |
33,9 |
31,1 |
38,4 |
mehr als 2 bis einschl. 3 Jahre |
1.426 |
|
1.426 |
1,3 |
8,4 |
|
21,4 |
mehr als 3 bis einschl. 5 Jahre |
564 |
|
564 |
0,5 |
3,3 |
|
8,4 |
mehr als 5 bis einschl. 10 Jahre |
91 |
|
91 |
0,1 |
0,5 |
|
1,4 |
bis einschl. 12 Monate |
9.073 |
7.040 |
2.033 |
8,6 |
53,7 |
68,9 |
30,5 |
merh als 24 Monate |
2.081 |
|
|
2,0 |
12,3 |
|
|
aussetzungsfähige Jugendstrafen |
14.805 |
|
|
14,0 |
87,7 |
|
|
ausgesetzte Jugendstrafen |
10.211 |
|
|
9,6 |
60,5 |
|
|
unbedingte zeitige Jugendstrafen |
6.675 |
|
|
6,3 |
39,5 |
|
|
Der Anteil der insgesamt zu Jugendstrafe Verurteilten an allen Verurteilten war seit Beginn der 1960er Jahre und bis 1990 (1990: 15,7%) im Wesentlichen konstant (Schaubild 46). In den letzten Jahren stieg diese Rate jedoch deutlich an auf ihren bisherigen Höchststand von 19,5% (1994); 2006 betrug diese Rate 15,9% (Schaubild 53). . Dies geht vor allem zurück auf Anstiege bei mittel- (1 Jahr bis 2 Jahre) und bei langfristigen (über 2 Jahre) Jugendstrafen (Schaubild 54).
Schaubild
53: Nach
Jugendstrafrecht zu Jugendstrafe Verurteilte, mit und ohne
Strafaussetzung zur
Bewährung (5-Jahres-Durchschnitte), 1975-2006.
Anteile, bezogen auf nach JGG Verurteilte insgesamt.
Früheres Bundesgebiet mit Westberlin, seit 1995 mit Gesamtberlin
Schaubild
54: Nach
Jugendstrafrecht zu Jugendstrafe Verurteilte mit und ohne
Strafaussetzung zur
Bewährung, nach der Dauer (5-Jahres-Durchschnitte), 1975-2006
Anteile, bezogen auf nach JGG Verurteilte insgesamt.
Früheres Bundesgebiet mit Westberlin, seit 1995 mit Gesamtberlin
Wegen des hohen und zunehmenden Anteils der gem. §§ 45, 47 JGG eingestellten, also nicht zur Verurteilung führenden Verfahren ist jedoch eine derartige, lediglich auf die Anteile an den Verurteilten abstellende Betrachtungsweise möglicherweise irreführend. Sofern es sich nicht nur um eine Reaktion auf eine Zunahme von Bagatellfällen handelt sollte, sondern auch um eine Bewertungsänderung, dann würde dies bedeuten, dass infolge vermehrter Einstellungen - empirisch gesehen - die leichteren Fälle seltener zur Verurteilung gelangen, weshalb sich unter den Verurteilungen der relative Anteil der "schweren" Fälle erhöht. Für diese wird aber - ebenfalls empirisch betrachtet – eher eine freiheitsentziehende Sanktionen als "erforderlich" erachtet werden. Notwendig ist deshalb eine Bezugnahme auf die "Sanktionierten", d.h. die Gesamtzahl der Personen, die entweder verurteilt worden sind oder bei denen das Verfahren eingestellt worden ist (Schaubild 55). Dabei zeigt sich, jedenfalls für den Zeitraum ab 1981, für den statistische Daten vorliegen, ein leichter Rückgang der insgesamt verhängten Jugendstrafen. Dieser Rückgang beruht auf der Entwicklung bei Jugendstrafen bis 12 Monate. Der Anteil der Jugendstrafen zwischen 12 Monaten und 2 Jahren ist indes auch bei dieser Betrachtung leicht gestiegen.
Schaubild
55: Nach
Jugendstrafrecht zu Jugendstrafe Verurteilte nach der Dauer der
insgesamt
verhängten Jugendstrafen, 1950 - 2006.
Anteile, bezogen auf (informell und formell) Sanktionierte.
Früheres Bundesgebiet mit Westberlin, seit 1995 mit Gesamtberlin
Eindeutig interpretierbar, etwa in dem Sinne, dass die Sanktionierungspraxis nicht härter geworden sei, sind aber auch diese Daten nicht. Denn selbst bei einer punitiveren Praxis würde sich ein derartiges Bild auch dann ergeben, wenn nur die leichten, mit Einstellung erledigten Fälle überproportional zugenommen hätten. Ohne strafzumessungsrelevante Informationen, insbesondere zur Schwere der Taten und zur Vorstrafenbelastung der Beschuldigten, lassen sich keine eindeutigen Aussagen treffen.
Zwischen ausgesetzter und unbedingt verhängter Jugendstrafe fand ein Austausch statt. 2006 wurden 60,5% aller Jugendstrafen zur Bewährung ausgesetzt (68,7% der aussetzungsfähigen Jugendstrafen), 1955 waren es lediglich 32,4%. Die Aussetzungsquoten sind umso höher, je kürzer die verhängten Jugendstrafen sind. Aber selbst bei den gem. 21 II JGG nur dann zur Bewährung aussetzbaren Jugendstrafen zwischen einem Jahr und zwei Jahren, wenn „nicht die Vollstreckung im Hinblick auf die Entwicklung des Jugendlichen geboten ist“, wurden 2006 55,3% der Jugendstrafen zur Bewährung ausgesetzt (Schaubild 56).
Schaubild
56: Nach
Jugendstrafrecht verhängte, aussetzungsfähige Jugendstrafen mit
Strafaussetzung
zur Bewährung, 1960 – 2006.
Anteile, bezogen auf aussetzungsfähige Jugendstrafen der jeweiligen
Kategorie
(Aussetzungsraten).
Früheres Bundesgebiet mit Westberlin, seit 1995 mit Gesamtberlin
Der Vergleich mit den Aussetzungsraten im allgemeinen Strafrecht (Schaubild 20) zeigt, dass im allgemeinen Strafrecht nicht weniger, sondern mehr Freiheitsstrafen zur Bewährung ausgesetzt werden. 2006 betrug die Aussetzungsrate, bezogen auf alle verhängten Freiheitsstrafen, im allgemeinen Strafrecht 69,8%%, im Jugendstrafrecht dagegen, ebenfalls bezogen auf die insgesamt verhängten Jugendstrafen, 60,5% (Tabelle 14). Die Unterschiede bleiben auch dann bestehen, wenn lediglich auf die aussetzungsfähigen Strafen abgestellt wird. Im allgemeinen Strafrecht wurden 2006 76,1% ausgesetzt (Schaubild 20), im Jugendstrafrecht dagegen 69,0%.
Tabelle
14: Nach
allgemeinem und nach Jugendstrafrecht verhängte
Freiheitsstrafen / Jugendstrafen insgesamt und mit Bewährung –
Aussetzungsraten
Früheres Bundesgebiet mit Gesamtberlin 2006
Nach allgemeinem Strafrecht Verurteilte |
Zu
Freiheits- |
Freiheitsstrafe |
|||||||||
unter 6 Monate |
genau 6 Monate |
mehr als .. bis einschl. .. Monate |
|||||||||
6 .. 12 |
12 .. 24 |
||||||||||
insg. |
bed. |
insg. |
bed. |
insg. |
bed. |
insg. |
bed. |
insg. |
bed. |
||
2006 |
645.485 |
124.663 |
87.058 |
41.796 |
31.232 |
17.635 |
14.280 |
34.465 |
26.697 |
20.498 |
14.849 |
Aussetzungsrate |
69,8 |
|
74,7 |
|
81,0 |
|
77,5 |
|
72,4 |
||
2006 |
105.902 |
16.886 |
10.211 |
20.756 |
|
2.631 |
2.144 |
6.442 |
4.896 |
5.732 |
3.171 |
Aussetzungsrate |
60,5 |
|
|
|
81,5 |
|
76,0 |
|
55,3 |
||
Nach Jugend-strafrecht Verurteilte |
insg. |
bed. |
unbed. |
|
insg. |
bed. |
insg. |
bed. |
insg. |
bed. |
|
Zu
Jugend- |
Jugendarrest |
genau 6 Monate |
mehr als .. bis einschl. .. Monate |
||||||||
6 .. 12 |
12 .. 24 |
||||||||||
Jugendstrafe |
Wie im allgemeinen Strafrecht, so wurde auch im Jugendstrafrecht vermehrt eine nach "klassischen" prognostischen Kriterien "schwierige" Klientel in die Strafaussetzung zur Bewährung einbezogen. Wie dort, so ging auch hier die Ausweitung der Strafaussetzung nicht nur einher mit einer deutlichen Erhöhung des Anteils der besonders risikobelasteten Probandengruppe (Schaubild 57), sondern auch mit einem deutlichen Anstieg der Straferlassquote, namentlich bei den als besonders risikobelastet geltenden Gruppen (Schaubild 58); in den letzten Jahren gehen, wie im allgemeinen Strafrecht, die Erlassquoten indes wieder zurück.
Schaubild
57: Nach
Jugendstrafrecht erfolgte Unterstellungen unter einen hauptamtlichen
Bewährungshelfer – beendete Unterstellungen nach früherer Verurteilung
der
Probanden, 1977 - 2005.
Absolute Zahlen.
Früheres Bundesgebiet mit Westberlin, seit 1992 mit Gesamtberlin, ohne
Hamburg
Schaubild
58: Nach
Jugendstrafrecht erfolgte Unterstellungen unter einen hauptamtlichen
Bewährungshelfer – beendete Unterstellungen nach früherer Verurteilung
der
Probanden, 1977 - 2005.
Bewährungsraten nach
Vorverurteilung.
Früheres Bundesgebiet mit Westberlin, seit 1992 mit Gesamtberlin, ohne
Hamburg
Wie der Vergleich der Erlassquoten für unterschiedlich vorbelastete Gruppen zeigt (Schaubild 58), liegen die Bewährungsquoten der vorbelasteten Probanden zwar unter der prognostisch günstigsten Gruppe der erstmals Verurteilten; in der positiven Entwicklung bleiben aber sowohl die Gruppe der bereits zuvor verurteilten als auch die Untergruppe der bereits zuvor unter Bewährungsaufsicht gestellten Probanden nicht hinter derjenigen der erstmals verurteilten Probanden zurück.
Mit der Untersuchungshaft werden sämtliche Nachteile der kurzfristigen Jugendstrafe beibehalten, wenn nicht gar noch verschärft. Von einer erzieherischen Gestaltung und Wirkung des Untersuchungshaftvollzugs kann in der Regel nicht gesprochen werden. Der Gesetzgeber hat deshalb in § 72 JGG die Subsidiarität der Untersuchungshaft festgelegt; durch das 1. JGGÄndG von 1990 wurde dieses Subsidiaritätsgebot verstärkt. Erwartet wurde, dass die in § 72 I S. 2 JGG ausdrücklich vorgesehene Pflicht zur Prüfung des Verhältnismässigkeitsgrundsatzes ebenso wie der Begründungszwang nicht ohne Einfluss auf die Fallzahlen bleiben dürfte. Eingeschränkt werden sollte die Untersuchungshaft ferner durch die Erleichterung der Unterbringung in einem Erziehungsheim, durch Einbeziehung einer Haftentscheidungshilfe sowie durch die Einschränkung der Untersuchungshaft gegen 14- und 15jährige.
Dennoch sind, wie die seit 1975 verfügbaren Daten der StVerfStat zeigen, die (auf Verurteilte bezogenen) Untersuchungshaftraten im Jugendstrafrecht nicht, wie angesichts des jugendstrafrechtlichen Subsidiaritätsgebots zu erwarten war, wesentlich niedriger als im allgemeinen Strafrecht; seit 1988 sind sie sogar deutlich höher und stärker angestiegen (Schaubild 26). In der ersten Hälfte der 1990er Jahre war die U-Haftrate im statistisch überblickbaren Zeitraum höher als je zuvor; erst seit 1994 gehen die Raten deutlich zurück. Dies dürfte mit eine Folge der Entwicklung im Bereich der strafrechtlichen Reaktion auf Ausländerkriminalität sein. Wird freilich die Untersuchungshaftrate auf die (informell und formell) Sanktionierten bezogen, dann ändert sich das Bild (Schaubild 27).
Die altersspezifische Differenzierung ergibt, dass die Untersuchungshaftraten bei den Heranwachsenden deutlich über, die entsprechenden Raten der Jugendlichen dagegen deutlich unter jenen der Erwachsenen liegen. Wie Jehle bei seiner Analyse der Individualdatensätze der StVerfStat (Jehle, Jörg-Martin: Entwicklung der Untersuchungshaft bei Jugendlichen und Heranwachsenden vor und nach der Wiedervereinigung, Bonn 1995, S. 50 ff) zeigen konnte, sind die Haftraten vor allem bei der Gruppe der Nichtdeutschen angestiegen, die weder aus "Gastarbeiterländern" noch aus EU-Ländern stammt. Die Reaktion auf Zuwandererkriminalität führt auch zu Unterschieden in der Haftanordnung: Diese Gruppe wird "überwiegend wegen weniger schwerer Delikte sowie für kürzere Zeit verhaftet und erhält geringere Strafen" (Jehle aaO., S. 66). Aber auch bei Berücksichtigung der Probleme der Zuwandererkriminalität bleibt die Haftpraxis hinter den gesetzlichen Intentionen zurück: "So erscheinen unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismässigkeit die immer noch hohen Anteile von Vermögensdelikten im weiteren Sinne, von kurzer Haftdauer und von ambulanten Sanktionen bei jugendlichen Abgeurteilten mit Untersuchungshaft problematisch. Dass bei der Anordnungspraxis durchaus Spielräume bestehen, darauf weisen die erheblichen regionalen Unterschiede hin. ... Der Befund, dass Jugendliche wegen weniger schwerer Delikte und kürzer inhaftiert sowie seltener mit vollstreckbaren Freiheitsentziehungen sanktioniert werden als Erwachsene, kann auch so gedeutet werden, dass hier neben strafrechtlichen Kriterien die soziale und persönliche Situation der Verhafteten eine verstärkte Rolle spielt. Insoweit werden offenbar die vom Gesetzgeber vorgesehenen Instrumente, insbesondere Einschaltung der Jugendgerichtshilfe und die Bereitstellung alternativer Heimplätze, in der Praxis nicht im intendierten Mass wirksam" (Jehle aaO., S. 9).
Untersuchungshaft darf gem. § 112 I S. 2 StPO "nicht angeordnet werden, wenn sie ... zu der zu erwartenden Strafe ... ausser Verhältnis steht". Sonst würde die angeordnete - und regelmässig auch vollzogene - Untersuchungshaft stärker in das Freiheitsrecht des als unschuldig Geltenden eingreifen als die Reaktion, die aus der Verurteilung des als schuldig Erkannten folgt. Wegen dieser Abhängigkeit der Untersuchungshaftanordnung von der Sanktionsprognose ist deshalb zu erwarten, dass weitaus mehr Untersuchungsgefangene zu stationären als zu ambulanten Sanktionen verurteilt werden. Erwartungswidrig wird aber nur jeder zweite (2006: 53,4%) nach Jugendstrafrecht verurteilte Untersuchungsgefangene zu einer nicht zur Bewährung ausgesetzten Jugendstrafe verurteilt. Wie im allgemeinen Strafrecht, so erlebt auch im Jugendstrafrecht ein ganz erheblicher Teil der Verurteilten deshalb den Freiheitsentzug nur in seiner resozialisierungsfeindlichsten Form, nämlich in Form der Untersuchungshaft (Schaubild 59).
Schaubild
59: Nach
Jugendstrafrecht Verurteilte mit vorangegangener Untersuchungshaft,
nach Art
der Sanktion, 1975 - 2006.
Früheres Bundesgebiet mit Westberlin, seit 1995 mit Gesamtberlin
Wie der Vergleich der freiheitsentziehenden Sanktionen nach allgemeinem und nach Jugendstrafrecht zeigt, werden, und zwar auch bei Berücksichtigung der unterschiedlichen Diversionsraten, im Jugendstrafrecht - wird auch Jugendarrest berücksichtigt - mehr freiheitsentziehende Sanktionen angeordnet als im allgemeinen Strafrecht (Schaubild 60; Schaubild 61).
Schaubild
60: Dauer
der nach allgemeinem Strafrecht und nach Jugendstrafrecht verhängten
Freiheitsstrafen, 2006. Anteile, bezogen auf (informell und formell)
Sanktionierte insgesamt
Früheres Bundesgebiet mit Gesamtberlin
Schaubild
61: Freiheitsentziehende
Strafen nach Jugend- und nach allgemeinem Strafrecht, 1981 –
2006.
Anteile, bezogen auf (informell und formell) Sanktionierte
insgesamt.
Früheres Bundesgebiet mit Westberlin, seit 1995 mit Gesamtberlin
Von der Dauer her gesehen werden im Jugendstrafrecht im statistisch überblickbaren Zeitraum ab 1981, bezogen auf alle Sanktionierten, deutlich mehr freiheitsentziehende Sanktionen mit einer Dauer zwischen 12 und 24 Monaten verhängt (Schaubild 62). Im allgemeinen Strafrecht werden dementsprechend etwas häufiger Strafen zwischen 6 und 12 Monaten sowie von mehr als 24 Monaten verhängt. Die Freiheitsstrafen unter 6 Monaten des allgemeinen Strafrechts haben im Jugendstrafrecht wegen der Mindestdauer der Jugendstrafe von 6 Monaten keine Entsprechung. Auffallend ist indes, dass Jugendarrest weitaus häufiger verhängt wird als die kurze Freiheitsstrafe nach allgemeinem Strafrecht.
Schaubild
62: Dauer
der nach allgemeinem Strafrecht und nach Jugendstrafrecht verhängten
Freiheitsstrafen
ab 6 Monaten, 1981 – 2006.
Anteile, bezogen auf (informell und formell) Sanktionierte insgesamt
Früheres
Bundesgebiet mit Westberlin, seit 1995 mit Gesamtberlin
Offenbar vertrauen Jugendrichter in höherem Masse auf die - empirisch allerdings nicht gestützte - Annahme einer rückfallmindernden Wirkung freiheitsentziehender Sanktionen. Durch Art und Schwere der Kriminalität dürfte dieser Unterschied jedenfalls kaum erklärbar sein, ist doch Jugendkriminalität im Schnitt weniger schwer als die Kriminalität von Erwachsenen.
Die Gefangenenrate, d. h. die Zahl der Vollzugsinsassen (einschliesslich Untersuchungshaft) pro 100.000 der Wohnbevölkerung, ist – seit ihrem Höchststand in der ersten Hälfte der 1980er Jahre – seit den 1990er Jahren wieder gestiegen (Schaubild 15). Insbesondere liegt die Gefangenenrate der Freiheits- oder Jugendstrafe Verbüssenden fast wieder auf dem Niveau, das vor der Strafrechtsreform 1969 bestand. Die Entwicklung der Gefangenenraten dürfte durch folgende Umstände mit beeinflusst worden sein (Vgl. hierzu zuletzt Schott, T.; Suhling, St.; Görgen, Th.; Löbmann, R.; Pfeiffer, Chr., Der Anstieg der Belegung im Justizvollzug Niedersachsen und Schleswig-Holsteins - Folge der Kriminalitätsentwicklung oder gerichtlicher Strafhärte, KFN Hannover 2004):
· Schon früher, aber spätestens seit dem 6. StrRG von 1998 kam es zu einer Verschärfung der Strafrahmen und einer Vermehrung der Qualifikationstatbestände bei den Delikten gegen die Person.
· Die Zahl der zu unbedingter Jugend- oder Freiheitsstrafe (ohne Strafarrest) Verurteilten ist seit Anfang der 1990er Jahren deutlich gestiegen, und zwar vom damaligen, 1992 erreichten Tiefstand mit 37.039 Verurteilten auf 48.093 (1999), also um 30%: Seit 1999 gehen die Zahlen zwar wieder zurück (2006: 44.280), gegenüber 1992 sind sie aber immer noch um 19,5% höher.
· Die Gefangenenrate ist nicht nur von der Zahl der Gefangenen, sondern auch von der Inhaftierungsdauer abhängig. Die Zahl der Freiheitsstrafen von mehr als 24 Monaten Dauer stieg von 5.832 (1990) auf 10.269 (2006), die der Jugendstrafen von entsprechender Dauer von 1.133 auf 2.081. Infolgedessen ist auch ein Anstieg der Gefangenenrate erwartungsgemäss.
· Die Neufassung der für die Strafrestaussetzung massgebenden Prognoseklausel (§ 57 I, S. 1, Nr. 2 StGB) sollte zwar nur eine Klarstellung, aber keine Verschärfung bedeuten. Nicht auszuschliessen ist freilich eine dennoch erfolgende restriktivere Handhabung der Strafrestaussetzung.
· Zugenommen hat ferner die Zahl der zur Bewährung ausgesetzten Jugend- oder Freiheitsstrafen, und zwar von 77.489 (1990) auf 97.269 (2006). Wie viele dieser Strafaussetzungen widerrufen werden, ist unbekannt, weil es keine allgemeine Bewährungsstatistik gibt. In der Literatur wird zumeist von einer Widerrufsrate von 35% ausgegangen. Wäre diese Rate konstant geblieben, dann hätten von den 1990 bedingt Verurteilten rd. 27.000 ihre Strafe im Vollzug verbüssen müssen, von den 2006 Verurteilten wären es jedoch bereits gut 34.000 gewesen.
· Zugenommen hat ferner die Zahl der Ersatzfreiheitsstrafe verbüssenden Gefangenen. Die Zugangszahlen stiegen in den alten Ländern seit Anfang der 1990er Jahre von 27.217 (1991) auf 45.700 (2002); neuere Zahlen fehlen.
· In die Gefangenenrate geht schliesslich auch die Zahl der Untersuchungsgefangenen ein. Der StVerfStat, in der die Abgeurteilten mit Untersuchungshaft gezählt werden, lässt sich entnehmen, dass die Zahl der Untersuchungshaftanordnungen seit Ende der 1980er Jahre ebenfalls deutlich gestiegen ist, und zwar von 26.622 (1988) auf 40.860 (1998) bzw. 24.352 (2006).
Eine hohe Gefangenenzahl hat also durchaus verschiedene Gründe, die in ihrer Summierung zur jetzigen Belegung, teilweise schon zur Überbelegung, geführt hat.
Trotz des an der StVerfStat ablesbaren Befunds der nachhaltigen Zurückdrängung der verhängten, vollstreckbaren Freiheitsstrafe nimmt die Bundesrepublik im europäischen pönologischen Vergleich keinen der vorderen Plätze ein. Dem am häufigsten verwendeten Indikator zufolge, der Gefangenenrate, d.h. der Zahl der Vollzugsinsassen pro 100.000 der jeweiligen Wohnbevölkerung, weist die Bundesrepublik Deutschland eine relativ hohe Gefangenenrate auf (Schaubild 63). Dies ist vor allem eine Folge des Gebrauchs von mittel- und langfristigen Freiheitsstrafen. Im europäischen Vergleich zählt Deutschland zu jenen Ländern, die eher von Strafen mit vergleichsweise langer Dauer Gebrauch machen (hierzu, auch mit Daten zur Entwicklung der Gefangenenraten in Europa seit 1984, s. Dünkel. Frieder: Der deutsche Strafvollzug im internationalen Vergleich <http://www.rsf.uni-greifswald.de/fileadmin/mediapool/lehrstuehle/duenkel/Strafvollzug_BRD.pdf>.
Schaubild
63: Gefangene
in westeuropäischen Staaten – 2006.
Gefangenenraten pro 100.000 der Wohnbevölkerung
Der Anteil der Abgeurteilten, gegen die freiheitsentziehende Massregeln der Besserung und Sicherung (Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, in einer Entziehungsanstalt, in Sicherungsverwahrung) angeordnet wurden, ist insgesamt sehr gering, in den letzten zwei Jahrzehnten jedoch deutlich gestiegen. Noch nie in der Geschichte der (alten Länder der) Bundesrepublik Deutschland wurde bei so vielen Personen strafgerichtlich eine Unterbringung gem. §§ 63, 64 StGB angeordnet wie in den letzten Jahren (Schaubild 64). Dieser Anstieg geht vor allem zurück auf die zunehmend häufiger angeordnete Unterbringung in einer Entziehungsanstalt.
Schaubild
64: Abgeurteilte
mit Anordnung einer Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus, in
einer
Entziehungsanstalt oder in Sicherungsverwahrung, 1955 .. 2006.
Absolute Zahlen.
Früheres Bundesgebiet mit Westberlin, seit 1995 mit Gesamtberlin
Die Zahl der zum Stichtag – 31.3. – Untergebrachten ist infolge der längeren Verweildauer bei den im psychiatrischen Krankenhaus Untergebrachten (Schaubild 65) deutlich stärker angestiegen als bei den in einer Entziehungsanstalt Untergebrachten.
Schaubild
65: Im
psychiatrischen Krankenhaus oder in einer Entziehungsanstalt aufgrund
strafrichterlicher Anordnung Untergebrachte (Stichtagszählung,
Bestandszahlen
jeweils 31.3. eines jeden Jahres)
Früheres Bundesgebiet mit Westberlin, seit 1992 (Sicherungsverwahrte)
bzw. seit
1996 (Massregelvollzug) mit Gesamtberlin
Die Anordnung von freiheitsentziehenden Massregeln der Besserung und Sicherung ist – insgesamt gesehen – eine seltene Ausnahme. Entsprechend den gesetzlichen Vorgaben, nach denen die Anordnung verhältnismässig sein muss, und zwar sowohl hinsichtlich der begangenen als auch der zu erwartenden Taten (§ 62 StGB), ist erwartungsgemäss, dass Formen der schweren Kriminalität dominieren, dass es aber wegen der unterschiedlichen Anordnungsvoraussetzungen deutliche Unterschiede zwischen §§ 63, 64 StGB gibt. Wie die deliktspezifische Analyse zeigt, sind die Anteile der Abgeurteilten, deren Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus oder in einer Entziehungsanstalt angeordnet wurde, am höchsten bei Straftaten gegen das Leben (ohne Straftaten im Strassenverkehr) (Schaubild 66 und 67). 2006 wurden z.B. bei 16,1% der wegen vorsätzlicher Tötungsdelikte (Mord oder Totschlag) Angeklagten eine Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus angeordnet, darunter überwiegend bei Schuldunfähigen. Die Unterbringungsquoten bei Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung sind demgegenüber geringer, liegen aber immer noch deutlich über dem Durchschnitt. Die Schuldunfähigkeit steht bei dieser Deliktskategorie nicht im Vordergrund. Fast zwei Drittel (61,1%) aller Unterbringungsanordnungen gem. § 63 StGB waren 2006 dem Bereich der Sexual-, der vorsätzlichen Tötungs- sowie der vorsätzlichen Körperverletzungsdelikte zuzurechnen, bei einer Anordnung gem. § 64 StGB entfiel hierauf nur ein Viertel (24,2%). Eigentumsdelikte hingegen waren zu 37,2% Anlassdelikt für § 64 StGB, dagegen nur zu 15,3% für § 63 StGB
Schaubild
66: Anordnung
der Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) nach
ausgewählten
Deliktsgruppen, 2006
Anteile pro 1.000 Abgeurteilte.
Früheres Bundesgebiet mit Gesamtberlin
Schaubild
67: Anordnung
der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) nach
ausgewählten
Deliktsgruppen, 2006.
Anteile pro 1.000 Abgeurteilte.
Früheres Bundesgebiet mit Gesamtberlin
Die Unterschiede zwischen §§ 63, 64 StGB zeigen sich vor allem bei Delikten mit einer höheren Beteiligung suchtkranker Täter. 2006 wurde bei 0,6% der wegen Straftaten gegen das BtMG Abgeurteilten eine Anordnung gem. § 64 StGB ausgesprochen, aber nur bei 0,007% eine Anordnung gem. § 63 StGB.
Die in der Massregelvollzugsstatistik ausgewiesenen Unterbringungsgründe bei § 64 StGB – mit und ohne Trunksucht – lassen erkennen, dass die Unterbringung zunehmend wegen Drogensucht erfolgt.
Entsprechend der gesetzlichen Regelung wird bei abgeurteilten Schuldunfähigen überwiegend eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder in einer Entziehungsanstalt angeordnet. 2006 war dies bei vier von fünf Abgeurteilten (81,6%) der Fall (Schaubild 68). In Fällen der Schwerkriminalität ist der Anteil der abgeurteilten Schuldunfähigen, bei denen eine Unterbringung angeordnet wurde, mit 90% oder mehr deutlich höher. Die Unterbringungsraten beliefen sich 2006 – bei allerdings teilweise sehr kleinen Zahlen - bei Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung auf 100%, bei vorsätzlichen Delikten gegen das Leben auf 97,6%, bei Raub, räuberischer Erpressung auf 98,0% und bei vorsätzlichen Delikten gegen die körperliche Unversehrtheit auf 96,3%. Von den Unterbringungsanordnungen gem. § 63 StGB her betrachtet heisst dies, dass im Schnitt fast drei von vier (72,7%) der 2006 gem. § 63 StGB Untergebrachten als schuldunfähig angesehen worden sind (Schaubild 69).
Schaubild
68: Abgeurteilte
Schuldunfähige mit Anordnung der Unterbringung gem. § 63 und § 64 StGB
nach
Deliktsgruppen, 2006. Anteile, bezogen auf die Schuldunfähigen der
jeweiligen
Deliktsgruppe.
Früheres Bundesgebiet mit Gesamtberlin
Schaubild
69: Abgeurteilte
mit Anordnung der Unterbringung gem. § 63 und § 64 StGB nach
Deliktsgruppen und
nach Schuldunfähigkeit, verminderter bzw. voller Schuldfähigkeit,
2006.
Anteile, bezogen auf die Unterbringungsanordnungen der jeweiligen
Deliktsgruppe.
Früheres Bundesgebiet mit Gesamtberlin
Schaubild
70: Verurteilte
mit verminderter Schuldfähigkeit, 2006.
Anordnung der Unterbringung gem. § 63 und § 64 StGB nach Deliktsgruppen
Anteile,
bezogen auf die vermindert Schuldfähigen der jeweiligen Deliktsgruppe.
Früheres Bundesgebiet mit Gesamtberlin 2006
Im Unterschied zur Schuldunfähigkeit führt die Feststellung verminderter Schuldfähigkeit zwar regelmässig zu einer Strafmilderung, nicht aber zu einer Unterbringung, und zwar selbst bei schweren Straftaten (Schaubild 70). 2006 wurden lediglich 4,3% der vermindert Schuldfähigen gem. §§ 63, 64 StGB untergebracht. Grössere Anteile finden sich bei wegen vorsätzlicher Tötungsdelikte Verurteilten, bei denen eine verminderte Schuldfähigkeit festgestellt wurde. Aber selbst hier wurden 2006 67,1% nicht gem. §3 63, 64 StGB untergebracht.
Hinsichtlich der Anordnung von Sicherungsverwahrung wird derzeit nur die unmittelbar mit dem erkennenden Urteil angeordnete Sicherungsverwahrung nachgewiesen. Die Anordnung von vorbehaltener bzw. nachträglicher Sicherungsverwahrung wird in den Strafrechtspflegestatistiken nicht erfasst.
Sicherungsverwahrung wird immer noch relativ zurückhaltend angeordnet, wenngleich mit insgesamt leicht steigender Tendenz. Wie die StVerfStat zeigt, wurden Mitte der 1960er Jahre jährlich über 200 Unterbringungen angeordnet (1968: 268). Als Folge der Reform der Sicherungsverwahrung wurden in den 1970er Jahren die Anordnungen seltener; sie pendelten sich bis Mitte der 1990er Jahre bei jährlich etwas über 30 Fällen ein (Schaubild 64). Seitdem steigen die Zahlen wieder auf, und zwar auf zuletzt 83 Anordnungen (2006). 34,9% der Verurteilten, bei denen 2006 Sicherungsverwahrung angeordnet worden war, waren wegen Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung verurteilt worden, bei 24,1% lag eine Verurteilung wegen Raubes oder räuberischer Erpressung zugrunde.
Wegen der im Vergleich zu den anderen stationären Massregeln aber auch im Vergleich zu den freiheitsentziehenden Strafen längeren Unterbringungsdauer führte die Zunahme der Unterbringungsanordnung in den letzten Jahren zu einem deutlichen Anstieg der in Sicherungsverwahrung Untergebrachten (Schaubild 71).
Schaubild
71: In
Sicherungsverwahrung Untergebrachte (Stichtagszählung, jeweils 31.3.
eines
jeden Jahres), absolute Zahlen
Früheres Bundesgebiet mit Westberlin, 1992 mit Gesamtberlin, seit 1993
Deutschland
Unter den nicht-freiheitsentziehenden Massregeln der Besserung und Sicherung (Führungsaufsicht, Berufsverbot, Entziehung der Fahrerlaubnis) dominiert die Fahrerlaubnisentziehung. Sie wird dann angeordnet, wenn jemand bei oder im Zusammenhang mit dem Führen eines Kraftfahrzeuges oder unter Verletzung der Pflichten eines Kraftfahrzeugführers eine rechtswidrige Tat begangen hat, z.B. eine fahrlässige Körperverletzung im Strassenverkehr oder eine Trunkenheitsfahrt. Mit der Fahrerlaubnisentziehung wird eine Sperre für die Erteilung einer neuen Fahrerlaubnis verbunden. Alternativ kann als Denkzettelstrafe gegen Kraftfahrzeugfahrer neben einer Freiheits- oder Geldstrafe eine Fahrverbot verhängt werden (§ 44 StGB). Im Unterschied zur Fahrerlaubnisentziehung bleibt der Verurteilte bei dieser Nebenstrafe Inhaber der Fahrerlaubnis, er darf von ihr nur für die im Urteil bestimmte Dauer (ein bis drei Monate) keinen Gebrauch machen.
2006 wurde im früheren Bundesgebiet (einschliesslich Berlin) insgesamt 50,9% der wegen Straftaten im Strassenverkehr Abgeurteilten die Fahrerlaubnis entzogen und 14,3% der wegen dieser Straftaten Verurteilten ein Fahrverbot erteilt (Tabelle 15). In den letzten zwei Jahrzehnten wurde von diesen Reaktionsmöglichkeiten zunehmend Gebrauch gemacht. Seit Mitte der 1970er Jahre stieg der Anteil der mit einer Fahrerlaubnisentziehung oder einem Fahrverbot belegten Abgeurteilten von 52% (1976) auf 63,4% (2006) an. Mit einem Anteil zwischen 80% und 89% an allen Fahrerlaubnisentziehungen/Fahrverboten dominiert die Fahrerlaubnisentziehung, wenngleich der Anteil des Fahrverbots relativ zunimmt.
Tabelle 15: Entziehung der Fahrerlaubnis (Sperre) und Fahrverbot wegen Straftaten im Strassenverkehr. Früheres Bundesgebiet mit Westberlin, seit 1994 mit Gesamtberlin.
|
Wegen
Straftaten im Strassenverkehr Abgeur |
Entziehung
der Fahrerlaubnis / Fahrverbot |
Entziehung der Fahrerlaubnis (Sperre) |
Fahrverbot |
|||||||
insgesamt |
in %
|
% / (2) (Entzug und Fahrverbot zus.) |
% / (1) (wg Str.V. Abgeurteilte) |
mehr
als 6 Mon. |
% / (1) (wg Str.V. Verur-teilte) |
1 Monat % / Fahrverbot |
>1 bis 2 Mon. % / Fahrverbot |
>2 bis 3 Mon. % / Fahrverbot |
|||
Jahr |
(1) |
(2) |
(3) |
(4) |
(5) |
(6) |
(7) |
(8) |
(9) |
(10) |
|
1976 |
351.574 |
183 751 |
52,3 |
89,0 |
46,5 |
68,7 |
6,5 |
30,1 |
23,2 |
46,7 |
|
1980 |
392.184 |
215 057 |
54,8 |
86,2 |
47,3 |
71,0 |
9,0 |
27,0 |
19,9 |
53,1 |
|
1985 |
318.797 |
196 082 |
61,5 |
83,0 |
51,1 |
74,7 |
12,4 |
23,3 |
17,8 |
59,0 |
|
1990 |
301.967 |
194 232 |
64,3 |
84,5 |
54,4 |
76,7 |
11,6 |
24,3 |
17,7 |
58,0 |
|
1995 |
298.010 |
192 542 |
64,6 |
86,1 |
55,6 |
76,7 |
10,2 |
25,8 |
16,0 |
58,3 |
|
2000 |
238.454 |
156.717 |
65,7 |
82,6 |
54,3 |
79,3 |
13,0 |
30,9 |
16,6 |
52,6 |
|
2005 |
215.070 |
138.136 |
64,2 |
80,5 |
51,7 |
78,7 |
14,2 |
34,6 |
17,0 |
48,4 |
|
2006 |
200.349 |
127.102 |
63,4 |
80,2 |
50,9 |
78,9 |
14,3 |
35,5 |
18,1 |
46,4 |
|
1. Die Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Bürger und Staat als Folge der Betonung verfassungsrechtlicher und menschenrechtlicher Grenzen des Strafrechts hat nicht nur zu einem Wandel der traditionellen Auffassungen von Strafrecht und Kriminalität geführt, sondern auch zu einer tiefgreifenden Veränderung des Sanktionensystems. Entkriminalisierung, insbesondere auf verfahrensrechtlichem Weg, und der Umbau des klassischen Vergeltungsstrafrechts zu einem präventiv orientierten Strafrecht sind hierfür kennzeichnend.
2. Die Entwicklung der Sanktionierungspraxis in Deutschland ist gekennzeichnet durch die nachhaltige Zurückdrängung der vollstreckbaren, freiheitsentziehenden Sanktionen. 1882 betrug der Anteil der unbedingten freiheitsentziehenden Sanktionen 76,8%, 2006 nur noch 8,7% aller nach Jugend- und Erwachsenenstrafrecht verhängten Sanktionen. Werden auch die Einstellungen gem. §§ 153, 153a, 153b StPO, §§ 45, 47 JGG berücksichtigt, dann dürften 2006 lediglich noch 3,7% aller sanktionierbaren Personen zu einer unmittelbar mit Freiheitsentziehung verbundenen Sanktion verurteilt worden sein.
3. Das kriminalpolitische Konzept der Diversion hat sich durchgesetzt, wie der zunehmende Gebrauch der Einstellungsmöglichkeiten der §§ 153, 153a, 153b StPO, §§ 45, 47 JGG zeigt. Nur noch 45% der Beschuldigten, bei denen Staatsanwaltschaft oder Gericht hinreichenden Tatverdacht bejahen, wird auch tatsächlich verurteilt; bei mehr als jedem zweiten - nach Auffassung von Staatsanwaltschaft oder Gericht hinreichend tatverdächtigem - Beschuldigten wird das Verfahren eingestellt.
Im allgemeinen Strafrecht wird der Anstieg der Fallzahlen vor allem durch vermehrten Gebrauch der folgenlosen Einstellung gem. §§ 153, 153b StPO aufgefangen.
Defizite, wie insbesondere die regional extrem unterschiedliche Handhabung der §§ 153, 153a, 153b StPO, §§ 45, 47 JGG, die sowohl im allgemeinen Strafrecht als auch - und vor allem - im Jugendstrafrecht bestehen, konnten bislang nicht ausgeräumt werden. Es hängt weitgehend vom Wohnort ab, ob das Verfahren eingestellt oder ob angeklagt und verurteilt wird.
4. Innerhalb der formellen Sanktionen ist die Entwicklung gekennzeichnet
· durch den Bedeutungsverlust der stationären Sanktionen,
· durch die Zunahme fachlicher Betreuung durch Bewährungshilfe sowie
· durch die Erprobung und Institutionalisierung "neuer ambulanter Massnahmen" im Jugendstrafrecht.
Gegenüber den weitaus praktikableren Opportunitätsvorschriften, namentlich des § 153a StPO, konnten sich neue Rechtsinstitute, wie die Verwarnung unter Strafvorbehalt, nicht durchsetzen.
Die praktische Bedeutung von Täter-Opfer-Ausgleich und Schadenswiedergutmachung entspricht nicht der straftheoretischen Bedeutung dieser Institute. Soweit die verfügbaren Informationen dies erkennen lassen, ist die quantitative Bedeutung immer noch (zu) gering.
5. Die Geldstrafe ist die Hauptstrafe der Gegenwart. Etwas mehr als 80% aller Verurteilungen nach allgemeinem Strafrecht lauten auf Geldstrafe. Diesen hohen Anteil konnte die Geldstrafe halten trotz des zunehmenden Gebrauchs der §§ 153 ff. StPO.
Die gesetzlichen Möglichkeiten der Geldstrafe werden von der Praxis nur unzulänglich ausgeschöpft; die Mehrzahl aller verhängten Geldstrafen übersteigt 30 Tagessätze nicht. Entsprechendes gilt für die Höhe der Tagessätze, und zwar sowohl für die obere wie die untere Grenze. Der hohe und in den letzten Jahren steigende Anteil der Ersatzfreiheitsstrafe sowie die hinter den Erwartungen zurückbleibende Entlastungswirkung der gemeinnützigen Arbeit signalisieren, dass hier eines der ungelösten Probleme liegt.
6. Die kurze Freiheitsstrafe wurde zwar deutlich zurückgedrängt, zur seltenen "Ausnahme" ist sie indes immer noch nicht geworden. 33,5% aller verhängten Freiheitsstrafen waren 2006 kürzer als 6 Monate. Ebenfalls nicht zur Ausnahme geworden sind die unbedingt verhängten kurzen Freiheitsstrafen; mehr als jede vierte (28,1%) nicht ausgesetzte Freiheitsstrafe war 2006 kürzer als 6 Monate. Erst recht nicht zur Ausnahme geworden sind vollstreckte kurze Freiheitsstrafen. Zu den unbedingt verhängten kurzen Freiheitsstrafen kommen noch Ersatzfreiheitsstrafen hinzu, widerrufene ausgesetzte kurze Freiheitsstrafen sowie Freiheitsstrafen, deren Vollstreckungsdauer wegen bedingter Entlassung oder Anrechnung von Untersuchungshaft verkürzt ist.
Die "Krise präventiven Strafdenkens" hat zu keiner Reduzierung der mittel- und langfristigen Freiheitsstrafen geführt. Der Anteil der Freiheitsstrafen von 12 Monaten und mehr ist, auch bei Bezugnahme auf alle (informell oder formell) Sanktionierten, in den letzten Jahren leicht gestiegen.
7. Neben der Geldstrafe ist die Strafaussetzung zur Bewährung zur bedeutsamen Alternative zur vollstreckten Freiheitsstrafe geworden. Der Anteil der Strafaussetzungen gem. § 56 StGB an den Freiheitsstrafen hat sich in den letzten 40 Jahren mehr als verdoppelt. Die Aussetzung ist bei Freiheitsstrafen bis zwei Jahre die Regel; die Praxis macht nicht nur bei Freiheitsstrafen bis 12 Monate, sondern zunehmend auch bei Strafen zwischen 12 und 24 Monaten von der Strafaussetzung zur Bewährung Gebrauch.
Das gesetzgeberische Experiment der Anhebung der Obergrenze der aussetzungsfähigen Freiheitsstrafe und das Experiment der Praxis, vermehrt vom Institut der Straf- und der Strafrestaussetzung Gebrauch zu machen, ist erfolgreich. Die Ausdehnung der Strafaussetzung ging einher mit einer deutlichen Erhöhung des Anteils der besonders risikobelasteten Probandengruppe und mit einem deutlichen Anstieg der Straferlassquote, namentlich bei den als besonders risikobelastet geltenden Gruppen.
8. Wie das allgemeine Strafrecht, so ist auch das Jugendstrafrecht gekennzeichnet durch einen Bedeutungsgewinn ambulanter Massnahmen, insbesondere der Weisungen bzw. der Auflagen. Allerdings weist die Zahl der erzieherischen Massnahmen seit Anfang der 1990er Jahre eine deutlich rückläufige Entwicklung auf zugunsten punitiver Reaktionen, insbesondere zugunsten der Arbeitsauflagen. Auch wenn es sich hierbei um einen Austausch zwischen Arbeitsweisungen und Arbeitsauflagen handeln dürfte, so bleibt die Tatsache, dass sowohl Weisungen, namentlich Betreuungsweisungen, soziale Trainingskurse und Täter-Opfer-Ausgleich, als auch die Auflage der Schadenswiedergutmachung innerhalb der verhängten Sanktionen die seltene Ausnahme sind.
9. Der Rückgang stationärer Sanktionen im Jugendstrafrecht beruht vor allem auf dem nachhaltigen Rückgang des durch Urteil verhängten Jugendarrestes, ferner auf der vermehrten Strafaussetzung zur Bewährung. Der Anteil der zu Jugendstrafe insgesamt Verurteilten ging, bezogen auf die (informell oder formell) Sanktionierten, leicht zurück, allerdings nur im Bereich der Jugendstrafe unter 12 Monaten. Der Anteil der Jugendstrafen zwischen 12 Monaten und 2 Jahren ist indes leicht gestiegen.
Im Jugendstrafrecht werden - auch bei Berücksichtigung der höheren Diversionsrate im Jugendstrafrecht als im allgemeinen Strafrecht - häufiger freiheitsentziehende Sanktionen verhängt als im allgemeinen Strafrecht. Offenbar vertrauen Jugendrichter in höherem Masse auf die - empirisch allerdings nicht gestützte - Annahme einer rückfallmindernden Wirkung freiheitsentziehender Sanktionen. Durch Art und Schwere der Kriminalität dürfte dieser Unterschied jedenfalls kaum erklärbar sein, ist doch Jugendkriminalität im Schnitt weniger schwer als die Kriminalität von Erwachsenen.
10. Die Untersuchungshaftpraxis ist dysfunktional zu den spezialpräventiven Konzeptionen des Reformgesetzgebers. Dies betrifft sowohl die Häufigkeit der Anordnung von Untersuchungshaft als auch die Anordnung in Verfahren, die mit Verurteilung zu einer ambulanten Sanktion abgeschlossen werden. Jeder zweite nach allgemeinem Strafrecht verurteilte Untersuchungsgefangene erlebt den Freiheitsentzug nur in seiner resozialisierungsfeindlichsten Form, nämlich als Untersuchungshaft.
11. Im europäischen Vergleich nimmt Deutschland bezüglich der Gefangenenraten nur einen Mittelplatz ein. Das eigentliche Ziel der Strafrechtsreform, die nachhaltige Entlastung des Strafvollzugs, ist demnach nicht erreicht worden. Dies beruht auf einem Anstieg der registrierten Kriminalität. Dies beruht ferner darauf, dass die Erwartung, auch die Verhängung mittel- und langfristiger Freiheitsstrafen würde zurückgehen, sich nicht erfüllt hat: Deutschland zählt im europäischen Vergleich zu den Ländern, die eher von Strafen mit langer Dauer Gebrauch machen. Die hohe Gefangenenrate in Deutschland beruht schliesslich auf einem "Vollzug durch die Hintertür": Ein erheblicher, allerdings nicht exakt quantifizierbarer Teil des Freiheitsentzugs erfolgt nicht aufgrund der Verurteilung zu unbedingter Freiheitsstrafe, sondern in Form der Untersuchungshaft, von Ersatzfreiheitsstrafen wegen uneinbringlicher Geldstrafen oder nach Widerruf von Straf- oder Strafrestaussetzung.
Dementsprechend steht im Mittelpunkt der wissenschaftlichen und kriminalpolitischen – und zwar sowohl der internationalen als auch der deutschen - Diskussion die Fortentwicklung des strafrechtlichen Sanktionensystems, insbesondere der weitere Ausbau von Alternativen zu stationären Sanktionen. Grund dafür sind nicht zuletzt die hohen Rückfallraten, wie sie zuletzt durch die Rückfallstatistik (Jehle, Jörg-Martin; Heinz, Wolfgang; Sutterer, Peter (unter Mitarbeit von Sabine Hohmann, Martin Kirchner und Gerhard Spiess): Legalbewährung nach strafrechtlichen Sanktionen - Eine kommentierte Rückfallstatistik. Mönchengladbach 2003 <http://www.bmj.de/media/archive/443.pdf>) auch für Deutschland erneut belegt worden sind. "Das Nachdenken über die Alternativen zur Freiheitsstrafe beherrscht auch deshalb in verstärktem Masse die internationale Diskussion, weil der Strafvollzug die in ihn gesetzten Erwartungen offenbar nicht erfüllt. Rückfallquoten von mehr als 60 Prozent bescheinigen ihm Versagen; Haftschäden und Stigmatisierungswirkungen lassen ihn im Hinblick auf das Ziel der Resozialisierung geradezu als kontraindiziert erscheinen. Kosten-Nutzen-Analysen belegen das krasse Missverhältnis von Aufwand und Erfolg. Selbst der Behandlungsvollzug lässt sich mit dem Anspruch, derartige Mängel zu vermeiden, nur selten verwirklichen und schon gar nicht breitenwirksam anwenden. Es bestehen deshalb Zweifel, ob der Strafvollzug den an ihn gerichteten Anspruch überhaupt erfüllen kann. Ansätze, welche die Institution des Gefängnisses in Frage stellen, haben dort ihren Ausgangspunkt" (Kaiser, Günther: Kriminologie - ein Lehrbuch, 3. Aufl., Heidelberg 1996, S. 1032.)
12. Eine rationale Kriminalpolitik muss die tatsächlichen Grundlagen, die Wirkungen und die (etwaigen) Zielabweichungen rechtlicher Regelungen beobachten. Sie ist deshalb auf statistische Daten als Grundlage folgenorientierten Handelns angewiesen. Dem genügen, wie der Beitrag gezeigt hat, die gegenwärtigen Rechtspflegestatistiken nur begrenzt. Sie erlauben lediglich, die ungefähren Grössenordnungen und die Grobstrukturen der Sanktionierungspraxis von Staatsanwaltschaft und Gericht zu beschreiben. Über die Umsetzung moderner kriminalpolitischer Strömungen, wie Täter-Opfer-Ausgleich (TOA) oder Diversion, lassen sich den Rechtspflegestatistiken entweder nur die Grössenordnungen (Diversion) oder, wie hinsichtlich des TOA, noch nicht einmal diese entnehmen. Die Täter- bzw. Tatengruppen, auf die diese Sanktionen angewendet werden, bleiben zur Gänze in einem statistischen Dunkelfeld.
Differenzierte Aussagen zur Sanktionsschwere sind im zeitlichen Längsschnitt nur hinsichtlich der Freiheitsstrafe und der Geldstrafe (seit 1975) möglich. In der StA-Statistik wird bei § 153a StPO nur die Art der Auflage, nicht aber deren Inhalt ausgewiesen, bei § 45 JGG fehlt jeglicher inhaltliche Nachweis. In der StVerfStat wird nur das Ob der Bewährungsauflage oder -weisung nachgewiesen. Derzeit verbleibt - vorsichtig formuliert - der grösste Teil der Sanktionierungspraxis in einem statistischen Graufeld.
Dringend geboten ist deshalb der Ausbau und die Verfeinerung des Systems der Rechtspflegestatistiken als Planungs- und Kontrollinstrument. Dazu gehört vorrangig der Ausbau solcher Statistiken, in denen die tatsächliche Entscheidungstätigkeit der Staatsanwaltschaft sowie die zahlenmässig dominierenden "informellen" Sanktionen nachgewiesen werden sowie der Auf- und Ausbau von Vollstreckungs- und Vollzugsstatistiken.
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Ambulante Erziehungsmassregeln (Jugendstrafrecht): Weisung, Erziehungsbeistandschaft bzw. (seit 1990) ambulante Hilfe zur Erziehung i.S. von § 12 Nr. 1 JGG.
Ambulante Massnahmen bzw. Sanktion (Jugendstrafrecht): ambulante Erziehungsmassregeln (Weisung, Erziehungsbeistandschaft bzw. [seit 1990] ambulante Hilfe zur Erziehung i.S. von § 12 Nr. 1 JGG), ambulante Zuchtmittel (Verwarnung, Auflage), zur Bewährung ausgesetzte Jugendstrafe.
Ambulante Zuchtmittel (Jugendstrafrecht): Verwarnung und Auflagen.
Ambulante
Sanktionen (insgesamt): 1923 bis 1936:
Aussetzung der Vollstreckung der Freiheitsstrafe
gegenüber Jugendlichen gem. § 10 JGG 1923.
1937 bis
1939 wurde in der amtlichen Statistik die Aussetzung der
Freiheitsstrafe bei
Jugendlichen (§ 10 JGG 1923) nicht mehr
ausgewiesen.
Der Anteil der unbedingten Freiheitsstrafen ist deshalb um bis zu 2
Prozentpunkte überschätzt.
Ab 1954: Bei Verurteilungen nach allgemeinem Strafrecht: Geldstrafe
sowie Aussetzungen
zur Bewährung bei Gefängnis und Haft.
Die gem. § 23 I StGB a.F. mögliche Strafaussetzung bei Einschliessungsstrafe
von nicht
mehr als 9 Monaten wurde in der amtlichen Statistik überhaupt nicht,
die
Aussetzung von Strafarrest zur Bewährung
(§ 14
Wehrstrafgesetz - WStG) bis 1974 nicht nachgewiesen. Quantitativ sind
die nicht
nachgewiesenen Aussetzungen bei Einschliessung und Strafarrest
bedeutungslos. Seit 1970 Strafaussetzung
zur
Bewährung bei Freiheitsstrafe sowie - seit 1975 - bei Strafarrest.
Bei Verurteilungen nach Jugendstrafrecht ab 1954: ambulante
Erziehungsmassregeln
(Weisung, Erziehungsbeistandschaft bzw. [seit 1990] ambulante Hilfe zur
Erziehung i.S. von § 12 Nr. 1 JGG), ambulante Zuchtmittel (Verwarnung,
Auflage),
zur Bewährung ausgesetzte Jugendstrafe. Durch Art. 11 Nr. 6 des 1. StrRG 1969 wurde zum 1.4.1970 die Strafaussetzung zur Bewährung auch bei
Jugendstrafen von mehr als einem bis einschliesslich zwei Jahren
eingeführt. In
der amtlichen Statistik wurden diese "unter besonderen Umständen"
möglichen Aussetzungen erst seit 1975 ausgewiesen.
Aussetzungsrate: Anteil der zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafen (nach allgemeinem Strafrecht) bzw. Jugendstrafen (nach Jugendstrafrecht) an den jeweils aussetzungsfähigen Freiheits- bzw. Jugendstrafen.
Beendete
Bewährungsaufsichten nach früherer Verurteilung: Im jeweiligen
Berichtsjahr
beendete Unterstellungen nach allgemeinem Strafrecht bzw. nach
Jugendstrafrecht
(Aussetzung der Freiheitsstrafe bzw. der Jugendstrafe, des
Strafrestes bei
Freiheitsstrafe bzw. der Jugendstrafe, und zwar auch, soweit im Wege
der Gnade)
unter einen hauptamtlichen Bewährungshelfer.
Hinsichtlich der Probanden wird nachgewiesen, ob sie im Zeitpunkt der
zur
Unterstellung führenden Straftat
- bereits früher verurteilt waren,
- bereits früher unter
Bewährungs-
oder Führungsaufsicht standen.
Bei den Probanden "ohne frühere Verurteilung" handelt es sich um die
rechnerisch ermittelte Differenz zwischen der Zahl der Probanden, deren
Unterstellung beendet worden ist, und der Zahl der Probanden, die
bereits
früher verurteilt worden ist.
Bedingte Jugendstrafe: Zur Bewährung ausgesetzte Jugendstrafe.
Durch Bewährung beendete Bewährungsaufsichten: Nicht durch Widerruf, sondern durch Straferlass beendete Unterstellungen unter einen hauptamtlichen Bewährungshelfer, einschliesslich Aufhebungen der Unterstellungen und Erledigung des Berufsverbots.
Deutschland: 1882 bis 1939: Die
Angaben
beziehen sich auf das jeweiliges Reichsgebiet;
ab 1950 bis 1960: Die Angaben beziehen sich auf das Bundesgebiet ohne
Saarland
und Berlin-West;
ab 1961: Die Angaben beziehen sich auf die Bundesrepublik Deutschland
nach dem
Gebietsstand vor dem 3.10.1990, sie schliessen Berlin-West ein. Die
Ergebnisse schliessen
Gesamtberlin mit ein ab 1991 in der Justizgeschäftsstatistik, 1992 in
der StVollz-Statistik, ab 1993 in der StA-Statistik
und ab 1995 in der StVerfStat.
Diversion: Als kriminalpolitisches Konzept wird mit Diversion "Ablenkung", "Umleitung" oder "Wegführung" vom System formeller Sozialkontrolle bezeichnet. In Deutschland wird hierunter die Einstellung des Strafverfahrens - bei Vorliegen der Prozessvoraussetzungen und bei hinreichendem Tatverdacht (sonst: Einstellung gem. § 170 II StPO) - durch die Staatsanwaltschaft (staatsanwaltschaftliche Diversion) zur Vermeidung der Anklage oder durch das Gericht (gerichtliche Diversion) zur Vermeidung der Verurteilung verstanden. Die rechtlichen Grundlagen hierfür bilden die §§ 153, 153a, 153b StPO, §§ 45, 47 JGG, §§ 31a, 37, 38 II BtMG.
Diversionsrate (allgemeines Strafrecht): Anteil der Personen, bei denen das Verfahren nach §§ 153, 153a, 153b StPO eingestellt worden ist (nach allgemeinem Strafrecht informell Sanktionierte) an allen nach allgemeinem Strafrecht (formell und informell) sanktionierten Personen (nach allgemeinem Strafrecht Verurteilte sowie Personen mit Entscheidungen gem. §§ 59, 60 StGB [= formell Sanktionierte] und nach allgemeinem Strafrecht informell Sanktionierte).
Diversionsrate (insgesamt): Anteil der Personen, bei denen das Verfahren nach §§ 153, 153a, 153b StPO, §§ 45, 47 JGG eingestellt worden ist (informell Sanktionierte insges.) an allen sanktionierten Personen (nach allgemeinem Strafrecht oder nach Jugendstrafrecht Verurteilte sowie Personen mit Entscheidungen gem. §§ 59, 60 StGB, § 27 JGG [= formell Sanktionierte] und informell Sanktionierte insges.).
Diversionsrate
(Jugendstrafrecht): Anteil der Personen,
bei denen das Verfahren nach
§§ 45, 47 JGG eingestellt worden ist (nach
Jugendstrafrecht informell Sanktionierte) an
allen
nach Jugendstrafrecht sanktionierten Personen (nach Jugendstrafrecht Verurteilte sowie Personen mit Entscheidungen
gem.
§ 27 JGG [= formell
Sanktionierte] und nach Jugendstrafrecht informell
Sanktionierte).
§§ 45, 47 JGG hatten bis zum Inkrafttreten des
1. JGGÄndG von 1990 folgenden
Wortlaut:
§ 45. Absehen von der Verfolgung.
(1) Ist der Beschuldigte geständig und hält der Staatsanwalt eine
Ahndung durch
Urteil für entbehrlich, so kann er bei dem Jugendrichter anregen, dem
Jugendlichen Auflagen zu machen, ihm aufzugeben, Arbeitsleistungen zu
erbringen, seine Teilnahme an einem Verkehrsunterricht anzuordnen oder
ihm
eine Ermahnung auszusprechen ... Entspricht der Jugendrichter der
Anregung, so
hat der Staatsanwalt von der Verfolgung abzusehen.
(2) Der Staatsanwalt kann ohne Zustimmung des Richters von der
Verfolgung
absehen, wenn 1. eine erzieherische Massnahme, die eine Ahndung durch
den
Richter entbehrlich macht, bereits angeordnet ist oder 2. die
Voraussetzungen
des § 153 der Strafprozessordnung vorliegen.
§ 47.
Einstellung des Verfahrens durch den Richter.
(1) Ist die Anklage eingereicht, so kann der Richter das Verfahren
einstellen,
wenn
1. er eine Ahndung für entbehrlich hält und gegen den geständigen
Angeklagten
eine in § 45 I bezeichnete Massnahme anordnet,
2. die Voraussetzungen des § 45 II vorliegen oder
3. der Angeklagte mangels Reife strafrechtlich nicht verantwortlich
ist.
(2) Die Einstellung bedarf der Zustimmung des Staatsanwalts ...
(3) Wegen derselben Tat kann nur auf Grund neuer Tatsachen oder
Beweismittel
von neuem Anklage erhoben werden.
Einschliessung: Einschliessung trat 1953 an die Stelle von Festungshaft. Aufgehoben durch das 1. StrRG vom 25.6.1969.
Einstellungen durch die Staatsanwaltschaft ohne Auflagen: Einstellungen gem. §§ 153 I, 153b I StPO, § 45 I JGG (bzw. § 45 II JGG a.F.) durch die Staatsanwaltschaft.
Einstellungen durch die Staatsanwaltschaft mit Auflagen: Einstellungen gem. § 153a I StPO, §§ 45 II, 3 JGG (bzw. § 45 I JGG a.F.) durch die Staatsanwaltschaft.
Einstellungen durch das Gericht: Einstellungen gem. §§ 153 II, 153b Abs 2 StPO durch das Gericht; seit 1989 auch Einstellungen gem. §§ 153c III, 153d II, 153e II, 154e II, 383 II sowie 390 V i.V. m. 383 II StPO, ferner Einstellungen gem. § 47 JGG.
Festungshaft: Im RStGB 1871 eine nicht entehrende Strafe ("custodia honesta") ohne Arbeitszwang. Festungshaft ersetzte sowohl Zuchthaus als auch Gefängnis und wurde wahlweise mit diesen beiden Strafen bei einer Reihe politischer Straftaten sowie bei Zweikampf angedroht. Seit dem 3. StrÄG vom 4.8.1953 durch Einschliessung ersetzt.
Formell Sanktionierte (allgemeines Strafrecht): Alle nach allgemeinen Strafrecht Verurteilten (einschliesslich der Personen mit Entscheidungen gem. §§ 59, 60 StGB).
Formell Sanktionierte (insgesamt): Alle nach allgemeinen Strafrecht und nach Jugendstrafrecht Verurteilten (einschliesslich der Personen mit Entscheidungen gem. §§ 59, 60 StGB, 27 JGG).
Formell Sanktionierte (Jugendstrafrecht): Alle nach Jugendstrafrecht Verurteilten (einschliesslich der Personen mit Entscheidungen gem. § 27 JGG).
Freiheitsentziehende
Sanktionen zur Bewährung
(Schaubild 3): 1923 bis 1936:
Aussetzung der Vollstreckung der
Freiheitsstrafe gegenüber Jugendlichen gem. § 10 JGG
1923. 1937 bis 1939 wurde in der amtlichen Statistik die Aussetzung
der Freiheitsstrafe
bei Jugendlichen (§ 10 JGG 1923) nicht mehr
ausgewiesen.
Der Anteil der unbedingten Freiheitsstrafen ist deshalb um bis zu 2
Prozentpunkte überschätzt.
Ab 1954: Bei Verurteilungen nach allgemeinem Strafrecht: Aussetzungen
zur
Bewährung bei Gefängnis und Haft.
Die gem. § 23 I StGB a.F. mögliche Strafaussetzung bei Einschliessungsstrafe
von nicht
mehr als 9 Monaten wurde in der amtlichen Statistik überhaupt nicht,
die
Aussetzung von Strafarrest zur Bewährung
(§ 14
Wehrstrafgesetz - WStG) bis 1974 nicht nachgewiesen. Quantitativ sind
die nicht
nachgewiesenen Aussetzungen bei Einschliessung und Strafarrest
bedeutungslos. Seit 1970 Strafaussetzung
zur
Bewährung bei Freiheitsstrafe sowie - seit 1975 - bei Strafarrest.
Bei Verurteilungen nach Jugendstrafrecht: Strafaussetzung
zur Bewährung bei Jugendstrafe bis einschliesslich 1 Jahr. Durch
Art. 11
Nr. 6 des 1. StrRG 1969 wurde zum 1.4.1970 die Strafaussetzung zur Bewährung auch bei
Jugendstrafen von mehr als einem bis einschliesslich zwei Jahren
eingeführt. In
der amtlichen Statistik wurden diese "unter besonderen Umständen"
möglichen Aussetzungen erst seit 1975 ausgewiesen.
Freiheitsentziehende
Sanktionen unbedingt (Schaubild 3,
10):
1882 bis 1939 Zuchthaus,
Gefängnis (soweit nicht zur Bewährung
ausgesetzt), Festungshaft und Haft. 1921 bis
1933 einschliesslich Arrest. 1937 bis 1939 sind die Quoten um bis zu 2
Prozentpunkte überschätzt, weil die Strafaussetzung
zur Bewährung bei Jugendlichen (§ 10 JGG
1923) in
der amtlichen Statistik nicht mehr ausgewiesen wurde.
Ab 1950: Bei Verurteilungen nach allgemeinem Strafrecht: Zuchthaus,
nicht zur Bewährung ausgesetzte Gefängnisstrafe und Haft.
Seit dem 3. StrÄG vom 4.8.1953 auch
Einschliessung. Seit
1957 auch der durch das Wehrstrafgesetz vom 30.3.1957 eingeführte Strafarrest (insgesamt). Seit dem 1.
Strafrechtsreformgesetz vom 25.6.1969 nicht zur Bewährung ausgesetzte
Freiheitsstrafe
und (seit 1975) unbedingter Strafarrest.
Bei Verurteilungen nach Jugendstrafrecht: Bis 1953 Jugendgefängnis,
Jugendarrest und Fürsorgeerziehung, ab 1954 nicht zur Bewährung
ausgesetzte
Jugendstrafe, Jugendarrest und Fürsorgeerziehung (ab 1991:
Heimerziehung).
Gefängnis: Im RStGB 1871 die zweitschwerste, an sich nicht ehrmindernde Strafe mit Arbeitszwang. Gefängnis war vorgesehen für Vergehen. Aufgehoben durch das 1. StrRG vom 25.6.1969.
Haft: Im RStGB 1871 eine leichte, nicht entehrende Strafe, bei der regelmässig Arbeitszwang nicht bestand. Haft war vorgesehen bei Übertretungen. Aufgehoben durch das 1. StrRG vom 25.6.1969.
Hauptdeliktsgruppen (Schaubild 24):
I: Straftaten gegen den Staat, die öffentliche Ordnung (ohne Straftaten im Strassenverkehr) und im Amt (§§ 80-168, 331-357, ohne 142 StGB).
II: Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung (§§ 174-184b StGB).
III: Andere Straftaten gegen die Person (o.V.) (§§ 169-173, 185-189, 201-204, 211-222, 223-231, 234-241a StGB).
16: Straftaten gegen das Leben (§§ 211-222 StGB).
17: Körperverletzung (§§ 223-231 StGB).
IV: Diebstahl und Unterschlagung (§§ 242-248c StGB).
V: Raub und Erpressung, räuberischer Angriff auf Kraftfahrer (§§ 249-255, 316a StGB).
VI: Andere Vermögensdelikte (§§ 257-261, 263-266b, 267-281, 283-305a StGB).
VII: Gemeingefährliche einschl. Umweltstraftaten (§§ 306-323c, ohne 316a StGB).
VIII: Straftaten im Strassenverkehr nach dem StGB und dem StVG.
IX: Straftaten nach anderen Bundes- und Landesgesetzen (ausser StGB und StVG).
- Straftaten insgesamt
- Straftaten ohne Straftaten im Strassenverkehr
Informell Sanktionierte (allgemeines Strafrecht): Personen, bei denen das Strafverfahren gem. §§ 153, 153a, 153b StPO eingestellt worden ist. Bei den Einstellungen durch das Gericht zählen zu den (informell) sanktionierten Personen seit 1989 auch die - quantitativ bedeutungslosen - Fälle der Einstellungen nach §§ 153c III, 153d II, 153e II, 154e II, 383 II sowie 390 V i.V. m. 383 II StPO.
Informell Sanktionierte
(Berechnung): Hinsichtlich der Zahlen
der informell
sanktionierten Personen handelt es sich um Näherungswerte.
1. Durch die StA informell Sanktionierte:
Informationen
hierüber enthält lediglich die StA-Statistik.
Um
Näherungswerte handelt es sich deshalb, weil die verfahrensbezogenen
Zahlen
der StA-Statistik hinsichtlich der Einstellungen durch die
Staatsanwaltschaften
von Verfahren auf Personen umgerechnet und zweitens - bis 1988
einschliesslich
- die Zahlen der StA-Statistik auf das
Bundesgebiet
hochgerechnet werden mussten.
Die Zahlen der StA-Statistik wurden umgerechnet
(von
Verfahren auf Personen), und zwar entsprechend dem jeweiligen
Verhältnis der
mit Auflagen gem. § 153a StPO und § 45 I
JGG (a.F.) - bzw. ab 1991 einschliesslich gem.
§ 37 I BtMG
- eingestellten Verfahren zur Zahl der Personen, bei denen die
Verfahrenseinstellung mit Auflagen die schwerste Erledigungsart war.
Die
erstmals für 1998 vorliegenden personenbezogenen Daten der
StA-Statistik
erlauben es, für 1998 die Grössenordnung der Abweichung von
umgerechneten zu
"echten" Personenzahlen zu bestimmen (vgl. Anhang).
Zahlen über Einstellungen
nach
§ 45 JGG durch die Staatsanwaltschaft liegen
für das
gesamte Gebiet der Bundesrepublik Deutschland
nach
dem Gebietsstand vor dem 3.10.1990 erst seit 1989 vor. Es fehlten
1981-1984
Berlin, Hessen und Schleswig-Holstein; 1985-1987 Hessen und
Schleswig-Holstein;
1988 Schleswig-Holstein. Die für diese Länder fehlenden Werte wurden
auf der
Grundlage der Bevölkerungszahlen und entsprechend dem
Durchschnittswert der
anderen Länder geschätzt und zu Zahlen für das Bundesgebiet
hochgerechnet.
Für 1990 konnte in Hamburg die StA-Statistik
nicht
aufbereitet werden. Vom Statistischen Bundesamt wurde zur Schätzung der
Verfahrensergebnisse der einfache Durchschnitt aus den Hamburger
Ergebnissen
für 1989 und für 1991 gebildet. 1997 lagen für Hamburg noch keine
aktuellen
Zahlen vor, weshalb die Ergebnisse für 1996 eingesetzt wurden. Für
Schleswig-Holstein liegen seit 1997 keine aktuellen Daten vor.
Die Daten der StA-Statistik (hinsichtlich der Einstellungen gem. § 45 JGG durch die Staatsanwaltschaft) beziehen sich in den
Jahren
1981-1992 auf Berlin-West, seit 1993 auf Berlin insgesamt. Die StVerfStat bezieht sich nur auf Berlin-West; erst
ab 1995
ist auch Gesamtberlin mit eingeschlossen. Infolgedessen sind die
Diversionsraten 1993-1994 durch die partielle Einbeziehung von
Gesamtberlin
geringfügig überschätzt. Werden zur Bestimmung der Fehlergrösse die
Werte von
1992 für Berlin-West zugrunde gelegt, ergibt sich eine Überschätzung
von 0,5
Prozentpunkten.
2. Durch das Gericht informell Sanktionierte: Zahlen über Einstellungen gem. § 47 JGG
werden sowohl in der Justizstatistik in Strafsachen (verfahrens- und
[seit
1989] personenbezogen) als auch in der StVerfStat
(personenbezogen) ausgewiesen. Die Angaben der
Justizgeschäftsstatistik in
Strafsachen zu § 47 JGG sind zwischen 10 und
20
Prozentpunkte höher als die entsprechenden Zahlen der StVerfStat.
Im Sinne einer konservativen Berechnung werden die niedrigeren Angaben
der StVerfStat zugrunde gelegt.
Bis 1988 einschliesslich wurden die verfahrensbezogenen Zahlen der
Justizgeschäftsstatistik über Einstellungen
auf Personen umgerechnet, und zwar nach demselben Schlüssel wie für die
StA-Statistik. Ab 1989 sind die
personenbezogenen Daten der
Justizgeschäftsstatistik zugrunde gelegt.
Informell Sanktionierte (insgesamt): Personen, bei denen das Strafverfahren gem. §§ 153, 153a, 153b StPO, §§ 45, 47 JGG eingestellt worden ist. Bei den Einstellungen durch das Gericht zählen zu den (informell) sanktionierten Personen seit 1989 auch die - quantitativ bedeutungslosen - Fälle der Einstellungen nach §§ 153c III, 153d II, 153e II, 154e II, 383 II sowie 390 V i.V. m. 383 II StPO.
Informell Sanktionierte (Jugendstrafrecht): Personen, bei denen das Strafverfahren gem. §§ 45, 47 JGG eingestellt worden ist.
Internierungsrate (Schaubild 30): Anteil der nach Jugendstrafrecht zu freiheitsentziehenden Sanktionen Verurteilten (unbedingte Jugendstrafe, Jugendarrest, Fürsorgeerziehung bzw. Hilfe zur Erziehung gem. § 12 Nr. 2 JGG) an allen Verurteilten
Sanktionierbare Personen: Nach allgemeinem oder nach Jugendstrafrecht Verurteilte (einschliesslich der Personen mit Entscheidungen gem. §§ 59, 60 StGB, 27 JGG) und alle Personen, deren Strafverfahren gem. §§ 153, 153a, 153b StPO, 45, 47 JGG eingestellt worden ist. Eine Verfahrenseinstellung nach diesen Vorschriften setzt voraus, dass die Staatsanwaltschaft hinreichenden Tatverdacht bejaht hat; bei einer Einstellung durch das Gericht wurde zuvor von der Staatsanwaltschaft Anklage erhoben.
Sanktionierte (formell oder informell Sanktionierte): Alle (nach allgemeinen oder nach Jugendstrafrecht) Verurteilten (einschliesslich der Personen mit Entscheidungen gem. §§ 59, 60 StGB, 27 JGG) und alle Personen, deren Verfahren gem. §§ 153, 153a, 153b StPO, §§ 45, 47 JGG eingestellt worden ist.
Sonstige Sanktionen (Schaubild 3): 1882 bis 1924; Verweis
(gegenüber Jugendlichen); 1923 bis 1939: Absehen von Strafe gem.
§ 6 JGG 1923 zugunsten von
Erziehungsmassregeln und gem. § 9
IV JGG 1923 in besonders leichten Fällen.
Ab 1950: Ambulante Erziehungsmassregeln und ambulante
Zuchtmittel (jeweils als schwerste Sanktion) nach Jugendstrafrecht
(Erziehungsmassregeln,
jedoch ohne Fürsorgeerziehung bzw. Heimerziehung; Zuchtmittel [bis
1953:
Auferlegung besonderer Pflichten gem. § 9 JGG
a.F.],
jedoch ohne Jugendarrest).
Stationäre Sanktionen (allgemeines Strafrecht): Nicht zur Bewährung ausgesetzte Freiheitsstrafe, nicht zur Bewährung ausgesetzter Strafarrest.
Stationäre Sanktionen (Jugendstrafrecht): unbedingte Jugendstrafe, Jugendarrest, Fürsorgeerziehung bzw. Heimerziehung gem. § 12 JGG.
Strafarrest: Militärische Freiheitsstrafe eigener Art nach Wehrstrafgesetz vom 30.3.1957, die ausschliesslich gegen Soldaten und militärische Vorgesetzte, die nicht Soldaten sind, verhängt werden kann.
Strafaussetzung zur
Bewährung
(allgemeines Strafrecht): Als Fortentwicklung
der bisher nur gnadenweise gewährten
Strafaussetzung durch das 3. StrÄG vom 4.8.1953
bei Gefängnis- und Einschliessungsstrafe
von nicht mehr als 9
Monaten sowie bei Haftstrafe eingeführt. Die Aussetzung wurde hierbei
an die Erwartung
geknüpft, der Verurteilte werde "in Zukunft
ein
gesetzmässiges und geordnetes Leben führen". Fakultativ konnte der Verurteilte einem Bewährungshelfer
unterstellt werden.
Durch das 1. StrRG vom 25.6.1969 wurde der
Anwendungsbereich der Strafaussetzung zur Bewährung erweitert auf
Freiheitsstrafe von nicht mehr als einem Jahr bei gleichzeitiger
Erweiterung
der Aussetzungsvoraussetzungen. Ausnahmsweise ("besondere Umstände in
der
Tat und in der Persönlichkeit des Verurteilten")
konnte auch eine Freiheitsstrafe, die zwei Jahre nicht übersteigt,
ausgesetzt
werden.
Durch das 23. StrÄndG vom 13.4.1986 wurden die
Aussetzungsvoraussetzungen bei
Freiheitsstrafen zwischen 1 Jahr und 2 Jahren erweitert ("wenn nach der
Gesamtwürdigung von Tat und Persönlichkeit des Verurteilten
besondere Umstände vorliegen").
Strafaussetzung zur
Bewährung (Jugendstrafrecht): Gem. § 20 JGG
1953 konnte eine bestimmte Jugendstrafe "von nicht mehr als einem
Jahr" zur Bewährung ausgesetzt werden. Die Aussetzungsvoraussetzungen
wurden durch das 1. StrRG vom 25.6.1969 neu
gefasst
(§ 21 I JGG) und der Anwendungsbereich der
Strafaussetzung zur Bewährung erweitert auf Jugendstrafe, die 2 Jahre
nicht
übersteigt.
Durch das EGStGB vom 2.3.1974 wurde aus der
"Kann"-Bestimmung hinsichtlich der Aussetzung bei Jugendstrafen, die
ein Jahr nicht übersteigen, eine "Ist"-Bestimmung.
Durch das 1. JGGÄndG vom 30.8.1990 erhielten die
Aussetzungsvoraussetzungen für Jugendstrafen zwischen einem Jahr und
zwei
Jahren ihre gegenwärtige Fassung.
Todesstrafe: Todesstrafe war im RStGB 1871 nur bei vollendetem Mord sowie bei Mordversuch am Kaiser und eigenem Landesherrn angedroht. In der Folgezeit wurde die Todesstrafe auch bei zahlreichen anderen Delikten angedroht. Aufgehoben wurde sie durch Art. 102 des GG vom 23.5.1949.
Unbedingt
verhängte freiheitsentziehende Sanktionen (stationäre Sanktionen): 1882 bis 1939 Zuchthaus,
Gefängnis (soweit nicht - bei Jugendlichen -
zur
Bewährung ausgesetzt), Festungshaft und Haft. 1921 bis 1933 einschliesslich Arrest. 1937 bis
1939 sind
die Quoten um bis zu 2 Prozentpunkte überschätzt, weil die Strafaussetzung zur Bewährung bei
Jugendlichen
(§ 10 JGG 1923) in der amtlichen Statistik
nicht mehr
ausgewiesen wurde.
Ab 1950: Bei Verurteilungen nach allgemeinem Strafrecht: Zuchthaus,
nicht zur Bewährung ausgesetzte Gefängnisstrafe und Haft.
Seit dem 3. StrÄG vom 4.8.1953 auch
Einschliessung. Seit
1957 auch der durch das Wehrstrafgesetz vom 30.3.1957 eingeführte Strafarrest (insgesamt). Seit dem 1.
Strafrechtsreformgesetz vom 25.6.1969 nicht zur Bewährung ausgesetzte
Freiheitsstrafe und (seit 1975) unbedingter Strafarrest.
Bei Verurteilungen nach Jugendstrafrecht: Bis 1953 Jugendgefängnis,
Jugendarrest
und Fürsorgeerziehung, ab 1954 nicht zur Bewährung ausgesetzte
Jugendstrafe,
Jugendarrest und Fürsorgeerziehung (ab 1991: Heimerziehung).
Untersuchungshaftraten: Anteil der Verurteilten, die zuvor in Untersuchungshaft waren, an allen Verurteilten eines Berichtsjahres.
Verhängungsrate: Anteil der zu Freiheitsstrafe (nach allgemeinem Strafrecht) bzw. zu Jugendstrafe (nach Jugendstrafrecht) Verurteilten an allen nach allgemeinem Strafrecht (bzw. Jugendstrafrecht) informell und formell Sanktionierten.
Verurteilte (nach allgemeinem
Strafrecht und nach
Jugendstrafrecht): Formell verurteilte Personen (ohne Entscheidungen
gem.
§§ 59, 60 StGB, 27 JGG).
Die Verurteilungen wegen Verbrechen und Vergehen nach allgemeinem
Strafrecht
und nach Jugendstrafrecht bezogen sich bis 26.2.1923 auf Personen, die
zur Zeit
der Tat 12 Jahre und älter waren, ab 27.3.1924 auf Personen von 14
Jahren und
älter.
Gegenstand der
Verurteilung:
1882 bis 1936: Hauptstrafen (bei Doppelstrafen nur die jeweils
schwerste
Strafe) wegen Verbrechen und Vergehen (1937 bis 1939 insgesamt
verhängte Hauptstrafen
einschliesslich Doppelstrafen). Von 1882 bis 1918 ohne die wegen
Wehrpflichtverletzung
Verurteilten, von 1914 bis 1936 ohne die Verurteilten wegen Verbrechen
und
Vergehen gegen die aus Anlass des Krieges oder der Übergangszeit
erlassenen
Strafvorschriften, von 1921 ab ohne die wegen Verstössen gegen das
Militärstrafgesetzbuch
Verurteilten. Von 1934 ab auch ohne die Verurteilungen wegen
Verbrechen und
Vergehen gegen Reichsgesetze, die zur Zuständigkeit des
Volksgerichtshofs
gehörten. Von 1937 bis 1939 Verbrechen und Vergehen überhaupt, aber
ohne
Verstösse gegen das Militärstrafgesetzbuch.
Ab 1950: Verbrechen und Vergehen gegen Bundes- und Landesgesetze.
Verweis: Ein Verweis konnte Jugendlichen vor Inkrafttreten des JGG 1923 erteilt werden in besonders leichten Fällen eines Vergehens oder einer Übertretung (§ 57 I S. 1 Nr. 4 RStGB).
Zuchthaus: Im RStGB 1871 die schwerste, ehrmindernde Freiheitsstrafe mit Arbeitszwang. Zuchthaus war vorgesehen für Verbrechen, ferner bei Vergehen, wenn wegen Rückfalls die Schuld erhöht war oder der Täter als besonders gefährlich angesehen wurde (sog. gefährlicher Gewohnheitsverbrecher). Aufgehoben durch das 1. StrRG vom 25.6.1969.
Zur Bewährung ausgesetzte
freiheitsentziehende Sanktionen: 1923 bis 1936:
Aussetzung der
Vollstreckung der Freiheitsstrafe gegenüber Jugendlichen gem. § 10
JGG 1923. 1937 bis 1939 wurde in der amtlichen
Statistik die
Aussetzung der Freiheitsstrafe bei Jugendlichen (§ 10 JGG
1923) nicht mehr ausgewiesen. Der Anteil der unbedingten
Freiheitsstrafen ist
deshalb um bis zu 2 Prozentpunkte überschätzt.
Ab 1954: Bei Verurteilungen nach allgemeinem Strafrecht: Aussetzungen
zur
Bewährung bei Gefängnis und Haft.
Die gem. § 23 I StGB a.F. mögliche Strafaussetzung bei Einschliessungsstrafe
von nicht
mehr als 9 Monaten wurde in der amtlichen Statistik überhaupt nicht,
die
Aussetzung von Strafarrest zur Bewährung
(§ 14
Wehrstrafgesetz - WStG) bis 1974 nicht nachgewiesen. Quantitativ sind
die nicht
nachgewiesenen Aussetzungen bei Einschliessung und Strafarrest
bedeutungslos. Seit 1970 Strafaussetzung
zur
Bewährung bei Freiheitsstrafe sowie - seit 1975 - bei Strafarrest.
Bei Verurteilungen nach Jugendstrafrecht: Strafaussetzung
zur Bewährung bei Jugendstrafe bis einschliesslich 1 Jahr. Durch
Art. 11
Nr. 6 des 1. StrRG 1969 wurde zum 1.4.1970 die Strafaussetzung zur Bewährung auch bei
Jugendstrafen von mehr als einem bis einschliesslich zwei Jahren
eingeführt. In
der amtlichen Statistik wurden diese "unter besonderen Umständen"
möglichen Aussetzungen erst seit 1975 ausgewiesen.
* * *
Erstes Gesetz zur Änderung des Jugendgerichtsgesetzes vom 30.8.1990 |
|
Erstes Gesetz zur Reform des Strafrechts vom 25.6.1969 |
|
Zweites Gesetz zur Reform des Strafrechts vom 4.7.1969 |
|
3. StrÄG |
Drittes Strafrechtsänderungsgesetz vom 4.8.1953 |
Sechstes Gesetz zur Reform des Strafrechts vom 26.1.1998 |
|
Zwanzigstes Strafrechtsänderungsgesetz vom 8.12.1981 |
|
Dreiundzwanzigstes Strafrechtsänderungsgesetz - Strafaussetzung zur Bewährung - vom 13.4.1986 |
|
a.F. |
alte Fassung |
aaO |
am angegebenen Ort |
ABL |
alte Bundesländer |
abzgl. |
abzüglich |
AL |
alte Länder |
allg. |
allgemein* |
Aufl. |
Auflage |
b.u. |
bis unter |
BB |
Brandenburg |
BE |
Berlin |
Bewährungshilfestatistik |
|
BGBl |
Bundesgesetzblatt |
Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen (zitiert nach Band und Seite) |
|
BMI |
Bundesministerium des Innern |
BMJ |
Bundesministerium der Justiz |
Drucksache des Deutschen Bundesrates |
|
Drucksache des Deutschen Bundestages (zitiert nach Wahlperiode und Nummer) |
|
BVerfG |
Bundesverfassungsgericht |
Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (zitiert nach Band und Seite) |
|
BW |
Baden-Württemberg |
BY |
Bayern |
BZR |
Bundeszentralregister |
Deutsche Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen |
|
Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch |
|
Gesetz zur Änderung des Einführungsgesetzes zum Strafgesetzbuch |
|
einschl. |
einschliesslich |
ggf. |
gegebenenfalls |
HB |
Bremen |
HE |
Hessen |
HH |
Hamburg |
insg. |
insgesamt |
Jugendgerichtsgesetz |
|
JGGÄndG |
Gesetz zur Änderung des Jugendgerichtsgesetzes |
m |
männlich |
MV |
Mecklenburg-Vorpommern |
NI |
Niedersachsen |
NW |
Nordrhein-Westfalen |
Opferschutzgesetz |
Erstes Gesetz zur Verbesserung der Stellung des Verletzten im Strafverfahren (Opferschutzgesetz) vom 18.12.1986 |
Gesetz zur Verbesserung der Bekämpfung der Organisierten Kriminalität vom 4.5.1998 |
|
Gesetz über Ordnungswidrigkeiten |
|
Rdnr. |
Randnummer |
RP |
Rheinland-Pfalz |
Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich |
|
S. |
Seite |
SH |
Schleswig-Holstein |
SL |
Saarland |
SN |
Sachsen |
ST |
Sachsen-Anhalt |
Staatsanwaltschaft |
|
Staatsanwaltschaftsstatistik |
|
Strafgesetzbuch |
|
StP/OWi-Statistik |
Justizgeschäftsstatistik der Strafgerichte |
Strafprozessordnung |
|
StrÄndG |
Strafrechtsänderungsgesetz |
StrRG |
Strafrechtsreformgesetz |
StVerfStat |
Strafverfolgungsstatistik |
Strafvollzugsstatistik |
|
TH |
Thüringen |
Täter-Opfer-Ausgleich |
|
u.U. |
unter Umständen |
Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb |
|
Verbrechens- |
Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches, der Strafprozessordnung und anderer Gesetze (Verbrechensbekämpfungsgesetz) vom 28.10.1994 |
w |
weiblich |
Zeitschrift für Jugendkriminalrecht und Jugendhilfe |
Erhebungseinheit der StA-Statistik sind Ermittlungsverfahren, in der Strafverfolgungsstatistik sind es dagegen Personen. Die jeweiligen Ergebnisse beider Statistiken sind für eine ganze Reihe von Berechnungen - z.B. Ermittlung des Anteils der Personen, bei denen das Ermittlungsverfahren gem. §§ 45, 47 JGG, §§ 153, 153a, 153b StPO eingestellt worden ist, oder des Anteils der zu freiheitsentziehenden Sanktionen Verurteilten an der Gesamtzahl aller (informell oder formell) Sanktionierten - aufeinander zu beziehen. Dies setzt einen vergleichbaren Massstab voraus. Da von einem Ermittlungsverfahren im Schnitt 1,2 Personen betroffen sind (1998 kamen lt. StA-Statistik auf 5.437.241 Beschuldigte 4.583.228 Ermittlungsverfahren), würde die unkorrigierte Gegenüberstellung von Ermittlungsverfahren und Verurteilten zu einer Unterschätzung des Ergebnisses führen. Zur genaueren Bestimmung der Grössenordnung der von den jeweiligen Einstellungen betroffenen Personen konnte der StA-Statistik bis 1997 als Anhaltspunkt lediglich entnommen werden: die Zahl der Personen, bei denen die Verfahrenseinstellung mit Auflagen die schwerste Erledigungsart war. Die Relation der Zahl der mit Auflagen gem. § 153a StPO und § 45 I JGG (a.F.) - bzw. ab 1991 einschliesslich gem. § 37 I BtMG - eingestellten Ermittlungsverfahren zur hiervon betroffenen Zahl der Personen ergab einen ungefähren Umrechnungsfaktor zur Bestimmung der Grössenordnung en des Verhältnisses Ermittlungsverfahren : Person bei Verfahrenseinstellungen. Die unter Verwendung dieses Faktors errechnete Zahl war die beste Schätzmöglichkeit für die (in der StA-Statistik bis 1997 nicht erhobene) Zahl der Personen, deren Ermittlungsverfahren gem. § 45 JGG bzw. §§ 153, 153b, 153a StPO eingestellt worden war.
Erstmals für das Berichtsjahr 1999 wird für die StA-Statistik die Zahl der Personen für die jeweilige Abschlussentscheidung der StA erhoben. Die in den vorläufigen Ergebnissen der StA-Statistik 1998 mitgeteilten Ergebnisse für die alten Länder Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Bremen, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz - für Hamburg und für Hessen, Niedersachsen, das Saarland und Schleswig-Holstein lagen bei Abschluss des Manuskriptes noch keine Ergebnisse für 1998 vor , das Statistische Bundesamt hat deshalb die Ergebnisse aus 1997 verwendet - erlauben es, etwaige, bei dem bisher verwendeten Umrechnungsverfahren aufgetretene, Über-/Unterschätzungen zu bestimmen. Die Ergebnisse sind in Tabelle A1 für die Einstellungen gem. § 45 JGG und in Tabelle A2 für Einstellungen gem. §§ 153, 153a, 153b StPO dargestellt.
Tabelle
A1: Informell
oder formell Sanktionierte im JGG.
Gegenüberstellung der Ergebnisse von "umgerechneter" auf
"echte" Personenzählung in der StA-Statistik.
Bundesrepublik Deutschland (alte Länder mit Berlin), 1998
Informell Sanktionierte § 45 JGG |
Angaben
StA-Statistik zu Verfahren, |
Angaben StA-Statistik 1998 zu Personen |
Relative Über-/Unterschätzung (Schätzfehler) |
Baden-Württemberg |
20398 |
22285 |
-8,5% |
Bayern |
19877 |
22271 |
-10,7% |
Berlin |
9469 |
11206 |
-15,5% |
Bremen |
2324 |
2641 |
-12,0% |
Hessen |
11 414 |
12 684 |
-10,0% |
Niedersachsen |
16 160 |
18 713 |
-13,6% |
Nordrhein-Westfalen |
39204 |
45010 |
-12,9% |
Rheinland-Pfalz |
8940 |
9695 |
-7,8% |
Saarland |
2 159 |
2 438 |
-11,4% |
Summe (umgerechnet) |
129 943 |
146 943 |
-11,6% |
|
|||
Umrechnung und Anpassung bei |
Umrechnung |
Anpassung wg. Schätzfehler |
|
Hamburg |
9814 |
11 110 |
|
Schleswig-Holstein |
7172 |
8 079 |
|
Summe (umgerechnet) |
16 986 |
19 188 |
|
Summe Sanktionierte § 45 JGG |
146 929 |
166 131 |
-11,6% |
|
|||
|
Personen |
Personen |
|
Sanktionierte § 47 JGG |
43211 |
43211 |
|
Formell Sanktionierte (Verurt. + § 27 JGG) |
93791 |
93791 |
|
Informell und formell Sanktionierte 1998 |
283 931 |
303 133 |
-6,3% |
Wie Tabelle A1 zeigt, wurde durch das bisher vom Verf. verwendete Umrechnungsverfahren die Zahl der Personen, deren Ermittlungsverfahren gem. § 45 JGG eingestellt worden war, im Schnitt von 9 der 11 alten Bundesländer, für die inzwischen Ergebnisse vorliegen, um gut 11% (bezogen auf die Einstellungen gem. § 45 JGG) unterschätzt.
Um zu (vorläufigen) flächendeckenden Angaben für das Bundesgebiet zu kommen, wurden die verfahrensbezogenen Ergebnisse für die zwei (alten) Länder, für die noch keine Ergebnisse aus 1998 vorliegen, wie bisher „umgerechnet“ und sodann aufgrund des durchschnittlichen Schätzfehlers (für die anderen Länder) korrigiert.
Die Zahl der insgesamt (informell oder formell) Sanktionierten dürfte aufgrund des bisherigen Umrechnungsverfahrens damit um rd. 6% unterschätzt sein.
Tabelle
A2: Informell
oder formell Sanktionierte im
allgemeinen
Strafrecht.
Gegenüberstellung der Ergebnisse von "umgerechneter" auf
"echte" Personenzählung in der StA-Statistik. Bundesrepublik
Deutschland (alte Länder mit Berlin), 1998
Informell
Sanktionierte |
Angaben StA-Statistik zu Verfahren, auf Personen umgerechnet |
Angaben StA-Statistik 1998 zu Personen |
Relative
Über-/ |
Baden-Württemberg |
63427 |
64660 |
-1,9% |
Bayern |
74030 |
75717 |
-2,2% |
Berlin |
38449 |
41025 |
-6,3% |
Bremen |
8193 |
8433 |
-2,8% |
Hessen |
52 215 |
53 203 |
-1,9% |
Niedersachsen |
63 833 |
67 138 |
-4,9% |
Nordrhein-Westfalen |
148256 |
154744 |
-4,2% |
Rheinland-Pfalz |
31938 |
32836 |
-2,7% |
Saarland |
9 110 |
9 355 |
-2,6% |
Summe (umgerechnet) |
489 450 |
507 111 |
-3,5% |
|
|||
Umrechnung und Anpassung bei |
Umrechnung |
Anpassung wg. Schätzfehler |
|
Hamburg |
19316 |
20 296 |
|
Schleswig-Holstein |
28106 |
29 352 |
|
Summe (umgerechnet) |
47 422 |
49 648 |
|
Summe Sanktionierte (StA) §§ 153, 153a, 153b StPO |
536 872 |
556 759 |
-3,6% |
|
|||
|
Personen |
Personen
|
|
Sanktionierte (Gericht) |
95784 |
95784 |
|
Formell
Sanktionierte |
705006 |
705006 |
|
Informell und formell Sanktionierte 1998 |
1 337 662 |
1 357 549 |
-1,5% |
Wie Tabelle A2 zeigt, wurde durch das bisher vom Verf. verwendete Umrechnungsverfahren die Zahl der Personen, deren Ermittlungsverfahren gem. §§ 153, 153a, 153b StPO durch die StA eingestellt worden war, im Schnitt von 9 der 11 alten Bundesländer, für die inzwischen Ergebnisse vorliegen, um 3,5% (bezogen auf die Einstellungen gem. §§ 153, 153a, 153b StPO) unterschätzt. Die Abweichungen liegen ausschliesslich im Bereich von §§ 153, 153b StPO, wo die Unterschätzung 5,8% beträgt. Bei § 153a StPO sind die Ergebnisse durch das Umrechnungsverfahren dagegen geringfügig überschätzt (0,5%).
Um zu (vorläufigen) flächendeckenden Angaben für das Bundesgebiet zu kommen, wurden die verfahrensbezogenen Ergebnisse für die zwei (alten) Länder, für die noch keine Ergebnisse aus 1998 vorliegen, wie bisher „umgerechnet“ und – bezüglich §§ 153, 153b StPO - sodann aufgrund des durchschnittlichen Schätzfehlers (für die anderen Länder) korrigiert.
Die Gesamtzahl der insgesamt (informell oder formell) Sanktionierten dürfte aufgrund des bisherigen Umrechnungsverfahrens damit um rd. 1,5% unterschätzt sein.
Wenn, wie aus Tabellen A1 und A2 ersichtlich ist, in der Vergangenheit die Zahl der informell Sanktionierten unterschätzt wurde, dann führt die Verwendung der aufgrund der „echten“ Personenzählung errechneten Zahl der informell Sanktionierten zu einer Veränderung im Vergleich von 1997 versus 1998, die allein statistisch bedingt ist. Um das Ausmass dieser Veränderung abzuschätzen, werden in Tabellen A3 und A4 Vergleichsberechnungen für einige Bezugsgrössen durchgeführt, die es erlauben, das Mass der rein statistisch bedingten Veränderung zu beurteilen.
Tabelle A3: Berechnungen zur Auswirkung der Umstellung von "umgerechneter" auf "echte" Personenzählung hinsichtlich der Ergebnisse zur Sanktionierungspraxis im Jugendstrafrecht. Bundesrepublik Deutschland (alte Länder mit Berlin), 1998
|
Angaben
der
|
Angaben
StA-Statistik zu Verfahren, |
Angaben in StA-Statistik 1998 zu Personen |
Relation: |
(1) |
(2) |
(3) |
(4) |
|
Einstellungen gem. §45 I, II JGG |
|
135 263 |
153 144 |
88,32% |
Einstellungen gem. §45 III JGG |
|
11 597 |
12 988 |
89,29% |
Informell Sanktionierte gem. §45 JGG |
|
146 860 |
166 131 |
88,40% |
Einstellungen gem. §47 JGG |
43211 |
|
||
Informell Sanktionierte gesamt |
|
190 071 |
209 342 |
90,79% |
Formell Sanktionierte |
93791 |
|
||
Informell + Formell Sanktionierte insges. |
|
283 862 |
303 133 |
93,64% |
Auswirkung auf Berechnung der Diversionsrate: |
||||
Diversionsrate 1998 |
|
66,96% |
69,06% |
|
Unterschied (%punkte) wg. Änderung der Berechnungsart |
|
Scheinbarer
Anstieg: |
||
zum Vergleich: Diversionsrate 1997 |
|
67,10% |
|
|
Unterschied (%punkte) 1998 vs. 1997 |
|
-0,14 |
|
|
|
||||
Auswirkung auf Berechnung der Anteile der zu freiheitsentziehenden Sanktionen (einschliesslich Jugendstrafe zur Bewährung) Verurteilten an Sanktionierten (formell + informell) insgesamt: |
||||
Jugendstrafe zur Bewährung ausges. |
10977 |
3,9% |
3,6% |
|
Jugendstrafe unbedingt |
6243 |
2,2% |
2,1% |
|
Summe: Jugendstrafe insges. |
17220 |
6,1% |
5,7% |
|
Jugendarrest |
16985 |
6,0% |
5,6% |
Scheinbarer
Rückgang |
Summe: Jugendstrafe + Jugendarrest 1998 |
34205 |
12,0% |
11,3% |
|
Unterschied (%punkte) wg. Änderung der Berechnungsart |
|
Scheinbarer
Rückgang |
||
zum Vergleich: Rate 1997 |
|
11,9% |
|
|
Unterschied (%punkte) 1998 vs. 1997 |
|
+0,17 |
-0,6 |
|
Tabelle A3 zeigt, dass der Anstieg der Diversionsrate im Jugendstrafverfahren 1998 vs. 1997 ein nur scheinbarer ist, d.h. ein rein statistisch durch die Umstellung des Berechnungsverfahrens bedingter Tatsächlich dürften die Diversionsraten weitgehend unverändert geblieben sein; die Veränderung um -0,1%-Punkte ist angesichts der weiterhin bestehenden Unsicherheiten hinsichtlich der zwei Länder, für die personenbezogene Ergebnisse aus 1998 fehlen, nicht interpretierbar. Hinsichtlich der freiheitsentziehenden Sanktion zeigt sich, dass der Rückgang des Anteils freiheitsentziehender Sanktion an den insgesamt Sanktionierten ebenfalls ein nur scheinbarer ist. Die Anteile liegen 1998 auf praktisch demselben Niveau wie 1997; geringfügige Unterschiede sind wegen der Ungenauigkeiten, die mit dem derzeit noch notwendigen Anpassungsverfahren verbunden sind, nicht interpretierbar.
Tabelle A4: Berechnungen zur Auswirkung der Umstellung von "umgerechneter" auf "echte" Personenzählung hinsichtlich der Ergebnisse zur Sanktionierungspraxis im allgemeinen Strafrecht. Bundesrepublik Deutschland (alte Länder mit Berlin), 1998
|
Angaben
der |
Angaben
StA-Statistik zu Verfahren,
|
Angaben in StA-Statistik 1998 zu Personen |
Relation: |
(1) |
(2) |
(3) |
(4) |
|
Einstellungen gem. §153,153b StPO |
|
338 147 |
359 104 |
94,16% |
Einstellungen gem.
|
|
198 725 |
197 655 |
100,54% |
Informell Sanktionierte gem. §§ 153, 153a, 153b StPO |
|
536 872 |
556 759 |
96,43% |
Einstellungen gem.
|
95784 |
|
||
Informell Sanktionierte gesamt |
|
632 656 |
652 543 |
96,95% |
Formell Sanktionierte
(Verurteilte zzgl. Personen mit
Entscheidungen gem. |
705006 |
|
||
Informell + Formell Sanktionierte insgesamt |
|
1 337 662 |
1 357 549 |
98,54% |
|
||||
Auswirkung auf Berechnung der Diversionsrate: |
||||
Diversionsrate 1998 |
|
47,30% |
48,07% |
|
Unterschied (%punkte) wg. Änderung der Berechnungsart |
|
Scheinbarer
Anstieg |
||
zum Vergleich: Diversionsrate 1997 |
|
47,67% |
|
|
Unterschied (%punkte) 1998 vs. 1997 |
|
-0,37 |
|
|
|
||||
Auswirkung auf Berechnung der Anteile der zu bedingter oder unbedingter Freiheitsstrafe Verurteilten an Sanktionierten (formell + informell) insgesamt: |
||||
Freiheitsstrafe zur Bewährung ausges. |
88271 |
6,6% |
6,5% |
|
Freiheitsstrafe unbedingt |
41751 |
3,1% |
3,1% |
|
Summe: |
130022 |
9,7% |
9,6% |
|
Unterschied (%punkte) wg. Änderung der Berechnungsart |
|
Scheinbarer
Rückgang |
||
Zum Vergleich: Rate Freiheitsstr. 1997 |
|
9,5% |
|
|
Unterschied (%punkte) 1998 vs. 1997 |
|
+0,2 |
+0,1 |
|
Tabelle A4 zeigt, dass auch der Anstieg der Diversionsrate im allgemeinen Strafrecht 1998 vs. 1997 ein nur scheinbarer ist, d.h. ein rein statistisch durch die Umstellung des Berechnungsverfahrens bedingter. Tatsächlich dürften die Diversionsraten weitgehend unverändert geblieben sein; der Rückgang (bei Verwendung des bisherigen Umrechnungsverfahrens) 1998 versus 1997 um -0,4%-Punkte ist angesichts der weiterhin bestehenden Unsicherheiten hinsichtlich der zwei Länder, für die personenbezogene Ergebnisse aus 1998 fehlen, nicht interpretierbar. Hinsichtlich der freiheitsentziehenden Sanktionen zeigt sich, dass der Anstieg des Anteils freiheitsentziehender Sanktion an den insgesamt Sanktionierten möglicherweise geringfügig unterschätzt ist. Aber auch hier sind die minimalen Unterschiede nicht interpretierbar.
* * *
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Heinz, Wolfgang: Ambulante Sanktionen im
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<www.uni-konstanz.de/rtf/kis/Sanktionierungspraxis-in-Deutschland-Stand-2006.pdf>
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