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Martina Wernli
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Federführend. Der Gänsekiel im Mittelalter
Der vorliegende Beitrag untersucht die Einführung des Gänsekiels als europäisches Schreibwerkzeug im Mittelalter und seine materielle wie bildsprachliche Bedeutung. Dabei werden Texte aus vier Quellengruppen analysiert: Bestandteile sind Isidors Etymologiae sowie Rätselliteratur zur Feder; darüber hinaus werden Anleitungen zum Schneiden der Federn vorgestellt, und als literarisches Beispiel liegt den Ausführungen eine Passage aus Thomasins Der welsche Gast zugrunde. Der Vergleich zeigt, wie sich die härtere, tierische Schreibfeder einerseits beim Schreiben durchsetzt, andererseits das ältere Schreibrohr (calamus) in der bildlichen Benennung weitergeführt und damit ein Grundstein des metaphorischen Sprechens über das Schreiben gelegt wird.
The paper at hand examines the introduction of the goose quill as a European writing tool in the Middle Ages as well as its material and figurative meaning. In the course of this, four different types of source texts are analyzed: Starting with Isidor’s Etymologiae and literary riddles regarding quills, the paper will further present instructions on how to cut quill pens from feathers and a passage from Thomasin’s Der welsche Gast as a literary example. The comparison of these texts shows how on the one hand the harder animal quill prevails in writing, while on the other hand the older reed pen (calamus) is maintained in figurative language, which together lays a foundation for the metaphorical speaking about writing.
Jake Fraser
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Kleists Geheimnisse. Nachrichtenverkehr in Die Marquise von O....
Previous studies of secrecy in Kleist’s work have concentrated largely upon the theological and epistemological dimensions of the secret. This essay argues instead for a poetics of secrecy in Kleist, by means of which he rethinks the relationship between time, event and information. As proof, the article reconstructs the informational economy and intersubjective calculus of Die Marquise von O.... with an eye toward the temporal distortions and strategic behavior that secrecy both enables and provokes. Of particular significance for this reading of the Marquise von O.... are: a) Kleist’s theory of time axis manipulation, developed in his »Lehrbuch der französischen Journalistik«, b) the medial logic of the Intelligenzblatt, and c) the tactical innovations of the Second Coalition War.
Bisherige Studien zum Geheimnis in Kleists Werken haben sich weitgehend auf theologische und epistemologische Dimensionen des Geheimnisses beschränkt. Dieser Beitrag hingegen zeigt eine Poetik der Geheimhaltung bei Kleist auf, mit der er das Verhältnis von Zeit, Ereignis und Information neu denkt. Der Aufsatz rekonstruiert das intersubjektive Kalkül und die Wissensökonomie der Marquise von O...., um zu beleuchten, wie die Geheimhaltung und die Enthüllung von Geheimnissen zeitliche Verkehrungen ermöglichen und ein strategisches Verhalten der Figuren provozieren. Von besonderer Bedeutung für die im Folgenden entfaltete Lesart der Marquise von O.... sind: a) Kleists im »Lehrbuch der französischen Journalistik« entwickelte Theorie der Zeitachsenmanipulation, b) die mediale Logik des Intelligenzblatts; c) die taktischen Innovationen des zweiten Koalitionskriegs.
Jennifer Jenkins
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Hermann Brochs »Ungedrucktes aus dem Duxer Casanova-Archiv« (1918): Notizen zu einem unbekannten Frühwerk
Das bisher unbekannte literarische Frühwerk Hermann Brochs (alias K. L. Hib), »Ungedrucktes aus dem Duxer Casanova-Archiv« (1918), bricht auf brisante Weise mit den tradierten Mustern herkömmlicher Casanova-Darstellungen des frühen 20. Jahrhunderts. In ihm sind Ideen und Standpunkte in noch embryonischer bzw. skizzenhafter Form vertreten, die in Brochs späteren literarischen und theoretischen Werken zur Ausreifung gelangen. Broch flechtet den Text in mehreren aufschlussreichen Hinsichten in die literarischen, philosophischen und kulturkritischen Diskurse seiner Zeit ein, unter anderem, indem er einen hellsichtigen literarischen Metakommentar zur damaligen »Kino-Debatte« (Kaes) herstellt.
Hermann Broch’s »Ungedrucktes aus dem Duxer Casanova-Archiv [Unpublished Writings from the Casanova Archive at Dux]«, until now an unknown early literary work by the author, was published in 1918 under the pseudonym K. L. Hib. The text breaks in spectacular manner with the characteristic representations of Casanova in the early 20th century and presents ideas and positions in embryonic or skeletal form that were to reach full intellectual maturity in Broch’s later literary and theoretical writings. Broch’s »Casanova« is embedded in multiple meaningful ways in the discourses of literature, philosophy, and cultural criticism of its time, not least in its perceptive literary metacommentary on the contemporary »Kino-Debatte [cinema debate]« (Kaes).
Jennifer Jenkins
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»Ungedrucktes aus dem Duxer Casanova-Archiv« (1918)
Im Jahr 1918 veröffentlichte der damals noch unbekannte Schriftsteller Hermann Broch einen literarischen Kurztext, »Ungedrucktes aus dem Duxer Casanova-Archiv«, unter Pseudonym in der Wiener Wochenzeitschrift Der Friede. Dieses Broch bisher nicht zugeordnete Frühwerk, ein Stück historical fiction, gibt sich als fehlender Teil der Erinnerungen Giacomo Girolamo Casanovas (1725-1798) aus und reiht sich als solches in den extensiven Textkorpus ein, der im frühen 20. Jahrhundert Casanova zum Thema hatte – und stellt dabei gleichzeitig die tradierten Muster herkömmlicher Darstellungen des berühmten Venezianers auf den Kopf. Der Text, der den magischen Realismus vorwegnimmt, gibt das fiktive Gespräch zwischen Casanova und dem Vicomte d’Estignac wieder, in dem über die Vorzüge bzw. Nachteile des neuen »Leinwandtheaters« (d.h. des Stummfilms) als Kunstform gestritten wird.
In 1918, the then-unknown author Hermann Broch published a short literary text, »Ungedrucktes aus dem Duxer Casanova-Archiv [Unpublished Writings from the Casanova Archive at Dux]«, under a pseudonym in the Viennese weekly Der Friede. This text, never previously attributed to Broch, is a work of historical fiction that presents itself as a newly rediscovered episode from Giacomo Girolamo Casanova’s (1725-1798) memoirs and in so doing joins the ranks of the extensive body of work dedicated to Casanova in the early 20th century – while simultaneously subverting the conventions characteristic of previous fictional treatments of the famous Venetian. Broch’s »Casanova« prefigures magical realism and presents a fictitious dialogue between Casanova and the Viscount d’Estignac, in which the advantages and shortcomings of the new »theatre of the screen« (i.e. silent film) are debated.
Waltraud Wiethölter
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»La photo me touche«. Zu Roland Barthes’ Theorie photographischer (Be)Rührung (unter Einschluß einer Reihe theoriegeschichtlicher, von Aristoteles bis Nancy reichender Annotationen)
Wer sich gegenwärtig mit Fragen der Phototheorie befaßt, stößt in einschlägigen Publikationen auf eine Fülle von Kommentaren, die Roland Barthes’ Helle Kammer seit ihrer nunmehr fast 40jährigen Rezeptionsgeschichte hervorgerufen hat. Nach wie vor gilt das schmale, zwischen Literatur und systematisch geschulter Reflexion angesiedelte Bändchen als der Beitrag, dem es vor dem Hintergrund kontroverser, bis auf die Anfänge der Phototheorie zurückreichender Debatten gelungen ist, der (analogen) Photographie den Status einer indexikalischen, durch materiale Übertragung zustande kommenden Aufzeichnung zu sichern. Diese Erfolgsgeschichte beruht allerdings zum größten Teil auf einer erkennbar selektiven Lektüre, die das Hauptanliegen der Hellen Kammer: die Etablierung einer ›neuen‹, dem Singulären wie dem Anspruch auf Allgemeinverbindlichkeit verpflichteten Wissenschaft, ausgeblendet hat. Die überfällige ›Nachlese‹ führt denn auch zu einem deutlich komplexeren Konzept, genauer gesagt: zu einer aisthesiologisch fundierten Ästhetik, die ihre wesentlichen Anregungen der aristotelisch geprägten, im Zeichen der ›Berührung‹ stehenden Sinnesphilosophie verdankt.
Whoever engages with the theory of photography nowadays, is confronted with a multitude of commentaries on Roland Barthes’ Camera Lucida and its long reception history. As ever, the short book, part literature, part systematic reflection, is regarded as a decisive contribution that, among tenacious controversies, has suceeded in securing (analogue) photography the status of an indexical inscription, effected by material transmission. However, the major cause of this success story has been a selective reading of Camera Lucida that ignores the book’s main goal, namely the foundation of a ›new‹ science that is indebted to the experience of the singular, but nevertheless generally binding. A revision is therefore overdue, and it leads to a conception that is considerably more complex; to be more precise, to an aisthesiologically grounded aesthetics that is indebted to an Aristotelian philosophy of tactility.
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