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Yashar Mohagheghi
▶Das Bundesfest als Gründungsakt der neuen Zeit. Zum Wandel der Festkultur im 18. Jahrhundert (Göttinger Hain, J.-L. David, Französche Revolution)
Im 18. Jahrhundert kommt ein historisch neuer Typus des Festes auf: das Bundesfest als Gründungsakt. Im Zuge der Dekorporierung wird das Fest zum Medium bürgerlicher Assoziation, die allmählich auf das Politische ausgreift. Im Kontext der Verzeitlichung im 18. Jahrhundert entbindet sich das Fest seiner vormaligen Funktion zyklischer Zeitreproduktion und bildet eine futurisch-utopische Form aus. Dabei avanciert der Eid, der entinstitutionalisiert wird und als universales Kohäsionsritual Verbreitung findet, zum zentralen Element einer Dramaturgie feierlicher Kommunion, in der das Fest als epochaler ›Übergangsritus‹ den Zeitenumbruch zu imaginieren und zu forcieren sucht. Von der Ebene bürgerlicher Sozialbeziehungen steigt dieser neue Festtypus mit der Französischen Revolution auf die Ebene (kosmo-)politischer Repräsentation auf.
In this paper I want to argue that ›Sturm und Drang‹ does not mark an era in German literary history, but rather a firm and distinct caesura. The literature of Enlightenment was bound to a nation-wide culture of rhetoric and good taste. When, however, the literary market expanded and uneducated readers and writers crowded into what used to be the republic of letters, Enlightenment could not cope with the rabble. But Herder and his friends could. They welcomed illiterate people as essential to proper national culture and thereby changed the relations between prose and poetry, between learning and literature, between author and public. Their new strategies are still valid for our modern (capitalist) literary fields.
Michael Saman
▶Another, higher understanding. Goethe’s Late Kantianism, Makarie, and the Absolutes of Gender in Wilhelm Meisters Wanderjahre
This article interprets the figure of Makarie from Goethe’s Wilhelm Meisters Wanderjahre, drawing forth the Kantian epistemological, aesthetic, and ethical foundations of the portions of the novel in which she appears, and indeed of Makarie herself. Goethe intricately and enigmatically intertwines the characterization of her with the topos of stargazing, thereby building upon Kant’s treatments of that topic in various of his writings. Cognitive responses to the perception of the heavens were constructed in the eighteenth century in distinctly gendered ways that, I argue, are key to understanding the relation of Makarie to Wilhelm Meister, and to understanding the broader significance this relationship has for the interpretation of the novel as a whole.
Der Artikel interpretiert die Figur Makarie aus Goethes Wilhelm Meisters Wanderjahren, indem gezeigt wird, wie die Fäden des Romans, in denen sie erscheint, sowie die Konzeption der Person Makarie selbst nach epistemologischen, ästhetischen und ethischen Elementen aus Kants Schriften strukturiert sind. Ihre Charakterisierung ist eng, aber auf enigmatische Weise mit dem Topos der Beobachtung des nächtlichen Himmels verflochten, eine Verbindung, die auf Kantische Ideen zurückgeführt werden kann. Zudem zeigt sich die Art und Weise, wie im 18. Jahrhundert Gender ein bedeutender Faktor in der Darstellung menschlicher Reaktionen beim Anblick der Sterne war, als entscheidend für die Interpretation des Verhältnisses zwischen Makarie und Wilhelm Meister und für die Erörterung dieses Verhältnisses im Rahmen des Romans.
Roland Borgards
▶Hühnerlaus. Ein Kommentar zu Georg Büchners Woyzeck, H3,1
Tiere erlauben einen ertragreichen Zugriff auf Büchners literarisches Werk. Exemplarisch zeigt sich dies an der »Hühnerlaus« aus dem Woyzeck. Ein Animal Reading dieses Tieres entfaltet zunächst vor dem wissensgeschichtlichen Hintergrund der Parasitenforschung die Rätselhaftigkeit von Büchners literarischer Hühnerlaus und schlägt dann vier mögliche Perspektiven vor, wie diese Rätselhaftigkeit für eine Interpretation fruchtbar gemacht werden kann: einen editionsphilologischen Lesartenstreit, die Debatten um den Wissenshorizont des Autors und seiner Figuren, eine Verortung in der Geschichte der Biotheorie sowie die Frage nach einer Tier-Ästhetik der Groteske.
Animals provide a fruitful approach to Büchner’s literary work. This can be demonstrated with regard to the »Hühnerlaus« (fowl louse) in Woyzeck. An Animal Reading of the »Hühnerlaus« starts by showing how enigmatic this literary animal seems, when compared with the history of parasitology. Four perspectives, leading to four interpretations of this enigma, are proposed: 1) a discussion in edition philology whether Büchner actually wrote »Hühnerlaus« or not, 2) a look at the knowledge of the author and his figures, 3) some considerations on the history of biological theory, and 4) the question of animal aesthetics, especially of the grotesque.
Eric Downing
▶»With wandering steps and slow«: Schwellenkunst in Adalbert Stifters Granit
This article explores what Walter Benjamin calls threshold images in Stifter’s tale, concrete objects or events that look both backwards and forwards, are allegorically infused with utopic fantasies, and nonetheless invite an awakening into history and change. The images are read for both their peculiar temporality and their allegorical poetics, and are pursued in their religious, psychological, and political dimensions before focusing on how they allegorize the work’s own aesthetic representational project through a staging of the medium-icity of language itself. The essay follows how Stifter’s language theory establishes the necessarily allegorical nature of realist representation that his aesthetic practice enacts, in ways that both ground and undermine the program of literary realism more generally.
Dieser Aufsatz untersucht »Schwellenbilder« in Stifters Erzählung: laut Walter Benjamin konkrete, aber doch allegorische Gegenstände oder Ereignisse, die sowohl zurück- als auch vorausweisen, mit utopischen Fantasien beladen sind und dennoch zum geschichtlichen Erwachen einladen. Die eigentümliche Temporalität und die allegorische Poetik dieser Bilder werden herausgearbeitet, zunächst in Bezug auf ihre religiösen, psychologischen und politischen Dimensionen; danach in Bezug auf ihre Allegorisierung der im Text verwendeten Darstellungsweise bzw. der Medialität von dessen Sprache. Der Aufsatz verfolgt, wie Stifters Sprachtheorie die notwendigerweise allegorische Beschaffenheit der Darstellungsweise etabliert, die nicht nur die Poetik dieser Erzählung, sondern auch das allgemeine Programm des Realismus sowohl fundiert als auch untergräbt.
Bernd W. Seiler
▶Kafkas Erzählung In der Strafkolonie und ihre »unverwischbaren Fehler«
Noch nie ist genauer bedacht worden, auf welche »Fehler« Kafka in seiner Strafkolonie-Erzählung aufmerksam geworden ist. Geht man der Frage nach, erkennt man, dass ein »unverwischbarer« Widerspruch die gesamte Handlung durchzieht: Einerseits ist das Hinrichtungsverfahren in der Strafkolonie allgemein bekannt, andererseits dürfen die Verurteilten nichts darüber wissen, wenn es seinen Zweck erfüllen soll. Woher kommen dann die vielen ahnungslosen Delinquenten, die der Offizier mit seinem »Apparat« hinrichtet? Diese im Text nie berührte Unklarheit hat weitere Widersprüche zur Folge und lässt überdies erkennen, dass man sich auch auf den Reisenden als Beurteiler nicht verlassen kann. Eine befriedigende Auflösung der Unstimmigkeiten findet sich nicht. Es gibt da tatsächlich einen »Wurm, der selbst das Volle der Geschichte hohl macht«, wie Kafka selbst festgestellt hat.
Serious consideration has never been given to the »mistakes« which aroused Kafka’s attention in his narrative, The Penal Colony. An exact investigation indicates that an »indelible« contradiction permeates the entire plot: On the one hand, the special kind of execution is generally known throughout the penal colony; on the other hand, the condemned are not supposed to know of it so that it can serve its purpose. So where do the many unknowledgeable delinquents come from, to be executed by the officer with his »apparatus«? This ambiguity, which is never touched upon in the text, results in further contradictions and also shows that one cannot rely upon the traveler as an evaluator. There is no satisfactory solution of the inconsistencies: it is really a »worm« in the story »which hollows out the substance of it«, as Kafka himself determined.
Jürgen Große
▶»Unversorgte Seelenwunden«. Traumageschichte, Erlösungswissen und personal essay bei Ines Geipel
Die Ex-DDR-Athletin Ines Geipel ist durch semidokumentarische Texte über Ostdeutschland bekanntgeworden. In ihrem oft autobiographischen Schreiben erhebt Geipel gesellschaftsdiagnostische und -therapeutische Ansprüche. Sie sind exemplarisch an der jüngsten Veröffentlichung Umkämpfte Zone zu analysieren. Das Buch thematisiert nationalsozialistische sowie stalinistische Erinnerungslasten anhand der eigenen Familiengeschichte. Geipels Wunsch nach Erlösung von deutschen Kollektivtraumata verweist auf ein gnostisch-dualistisches Geschichts- und Gesellschaftsdenken. Seine politische Blütezeit erlebte es im Kalten Krieg, doch seine argumentativen Muster sind in der heutigen Bundesrepublik weiterhin virulent.
Former GDR athletic Ines Geipel has written lots of essays and autobiographic novels dealing with Eastern Germany. Geipel claims to provide psychological exploration of both past and present totalitarian tendencies in East German society. Starting with an introduction into Geipel’s recent book Umkämpfte Zone, this essay analyses the Gnostic (or ›Manichaean‹) implications of Geipel’s diagnostic and therapeutic ambitions. Their origins seem to be found in the Cold War Era. Nevertheless, Cold War patterns are still enduring in present Germany’s intellectual life.
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